Einführung in den Diskussionsbeitrag "Das Europäische Sozialmodell – Richtschnur für Reformen"
Einführung von Hubert Tintelott im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Deutschland wird im ersten Halbjahr 2007 den Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Union führen. Mit der deutschen Ratspräsidentschaft verbunden sind europaweit viele Erwartungen und auch die Hoffnung, dass die Diskussion um das europäische Verfassungsprojekt an ein erfolgreiches Ende geführt werden kann. Der Abschluss des Ratifizierungsverfahrens über den europäischen Verfassungsvertrag ist durch das Nein der Bürger in Frankreich und den Niederlanden in Frage gestellt. Zwar sind sich alle maßgeblichen politischen Kräfte darüber einig, dass ohne eine Reform die Strukturen und der Entscheidungswege die erfolgte Erweiterung der EU nicht erfolgreich umgesetzt werden kann, doch wächst gleichzeitig die Skepsis der Bürger in Europa, was die Politik der EU zu ihrem Wohle leisten kann. Die Friedenssehnsucht der europäischen Völker nach dem Zweiten Weltkrieg scheint erfüllt und diese Leistung wird von den Bürgern – und gerade von den jungen Bürgern – schon als selbstverständlich empfunden. Die Umfragen des Euro-Barometers machen deutlich, dass die Bürger sich heute ein Europa wünschen, in dem neben Frieden auch Wohlstand und soziale Gerechtigkeit gesichert sind. Analytiker und Beobachter verweisen daher auch darauf, dass das Nein zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden neben innenpolitischen Gründen und der Türkeifrage auch damit zu tun hatte, dass die Bürger das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell durch die europäische Politik gefährdet sahen.
Nun ist in der politischen Diskussion durchaus umstritten, ob man berechtigterweise von einem Europäischen Sozialmodell sprechen kann und dies umso mehr, als die Europäische Union für die Sozialpolitik keine vorrangigen Kompetenzen hat und die Ausgestaltung dieses Sozialmodells in den einzelnen europäischen Staaten sehr unterschiedlich ist. Doch so unterschiedlich die Ausgestaltung des Sozialstaates in Europa auch ist, so sehr gibt es auch Gemeinsamkeiten. Prof. Franz-Xaver Kaufmann betonte am Schluss seiner Studie zu den Varianten des Wohlfahrtsstaates: "Diese Studie dürfte deutlich gemacht haben, dass die sozialpolitische Entwicklung in den vier bedeutendsten Wohlfahrtsstaaten Europas trotz bedeutender institutioneller Unterschiede im Ergebnis eines weit reichenden arbeitsrechtlichen Schutzes der abhängig Beschäftigten, des bevölkerungsweiten Schutzes von extremer Armut und einer weitgehenden Angleichung der Zugangschancen zu sozialen Dienstleistungen erhebliche Ähnlichkeiten aufweist, die das Europäische Sozialmodell deutlich von US-amerikanischen, aber auch von sozialistischen und ostasiatischen unterscheidet."
Die Bürger in Europa haben jedoch das Gefühl, dass dieses europäische Modell des Sozialstaates zunehmend in Frage gestellt wird durch die zweifelsohne notwendigen Umbauten und strukturellen Veränderungen aufgrund der Globalisierung und der demografischen Herausforderungen. Dabei wird die EU aber nicht so sehr als Helfer und Beschützer des grundlegenden Verständnisses des Europäischen Sozialmodells wahrgenommen, sondern in vielen Fällen als der Verursacher für soziale Unsicherheiten. Wenn jedoch die EU ihren Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern erhalten oder zurückgewinnen will, dann muss sie sich auch der Debatte nach den politischen Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft und der Fragen der Ausgestaltung der sozialen Gerechtigkeit stellen.
Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für das vorliegende zu beratende und zu verabschiedende Papier. Die Erklärung möchte einen Beitrag leisten zur aktuellen Debatte über die zentralen Werte des Europäischen Sozialmodells und dessen normativen Grundlagen aufzeigen.
Angesichts der Debatte in Zusammenhang mit dem Europäischen Verfassungsvertrag über die Bedeutung der christlichen Wurzeln für das Menschen- und Gesellschaftsverständnis in der EU erschien es uns bei der Vorbereitung dieses Papiers auch notwendig, auf den Beitrag des sozialen Katholizismus zur Entwicklung und Konkretisierung des Europäischen Sozialmodells hinzuweisen und diesen Beitrag zu verdeutlichen. Damit soll keineswegs der Beitrag anderer gesellschaftlicher Kräfte geleugnet oder in den Hintergrund gedrängt werden, doch wir sollten uns auch unseres Beitrages bewusst sein, und dies gegenüber der Öffentlichkeit verdeutlichen.
Die Verantwortung der EU für die Ausgestaltung der Sozialpolitik
Nun liegt – wie schon gesagt – die erste Verantwortung für die Ausgestaltung der Sozialpolitik bei den Nationalstaaten. Doch es ist nicht zu übersehen, dass die oft einseitig markt- und wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik der EU die sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten einschränkt und damit letztlich auch die Erneuerung und den Umbau des Europäischen Sozialmodells schwächt und erschwert.
Es ist daher überlegenswert, ob nicht die EU beispielsweise durch das Setzen bestimmter Mindestnormen und sozialer Standards auch mehr sozialpolitischen Handlungsoptionen bekommen sollte. Die Verlagerung von mehr sozialpolitischer Verantwortung auf die Ebene der EU kann jedoch nur unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und unter Beachtung der Unterschiedlichkeit der sozialen Sicherungssysteme in den einzelnen Nationalstaaten diskutiert und gegebenenfalls umgesetzt werden.
Doch auch unter den jetzigen Rahmenbedingungen hat die EU eine Fülle von Möglichkeiten, um in den ihr zugehörigen Politikfeldern durch geeignete Initiativen das Europäische Sozialmodell zu stützen und zu stärken.
Das vorliegende Papier weist dabei vor allem auf den Bereich der Bildung hin. Gerade im Bereich der Bildungsanstrengungen entscheidet sich ganz wesentlich mit, ob in einer Gesellschaft die Chancengleichheit gewahrt ist. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung der Rolle der Familien. Familie scheint für die EU so etwas wie ein weißer Fleck zu sein. Da man sich über einen Familienbegriff nicht einigen kann und sich gerne darauf zurückzieht, dass Familienpolitik nationalstaatliche Aufgabe ist, meint man auf der Ebene der EU dieses Politikfeld aussparen zu können, obwohl konkrete Entscheidungen auf der Ebene der EU auch Familien direkt betreffen. Dabei wird übersehen, welche zentrale Rolle die Familien für eine freiheitliche Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft spielen. Der deutsche Verfassungsrichter Udo di Fabio hat diese Zusammenhänge in seinem Buch: "Die Kultur der Freiheit" eindringlich dargestellt, so wenn er schreibt: "Die kulturellen Voraussetzungen freiheitlicher Ordnungen werden weit mehr in den Familien geschaffen, als in der Welt der Politik, des Rechts und der Verwaltung". Intakte Familien, so weist er nach, sind der Ursprung individueller, moralischer und sozialer Kompetenz. An dieser Einsicht darf auch die EU nicht vorbeigehen.
Ein ganz zentrales Feld für die Ausgestaltung des Europäischen Sozialmodells ist der Bereich Arbeit und Beschäftigung, und dies umso mehr, als die europäischen sozialen Sicherungssysteme überwiegend beim Faktor Arbeit anknüpfen. Die Sorge um den Arbeitsplatz, und zwar um einen Arbeitsplatz, der ein für den Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen sichert, ist die große Sorge der Bürger in Europa, wie alle Umfragen verdeutlichen. Gerade in diesem Bereich hat die EU vielfältige Möglichkeiten für eine hohe Beschäftigung zu sorgen.
Das Europäische Sozialmodell folgt nicht nur dem Grundsatz der Verteilung- und Chancengerechtigkeit, sondern ist auch dem Anspruch der Generationengerechtigkeit verpflichtet. Gerade auch angesichts der demografischen Entwicklung dürfen der jüngeren Generation nicht immer höhere Staatsschulden aufgebürdet werden. Die EU hat mit ihrem Stabilitäts- und Wachstumspakt ein zentrales Instrument in der Hand, auf die Haushaltspolitik der Nationalstaaten einzuwirken und sich für eine Begrenzung und einen Abbau der Staatsverschuldung einzusetzen.
Doch so wichtig und notwendig es ist, innerhalb der EU für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und sich für das Europäische Sozialmodell einzusetzen, so selbstverständlich gehört auch die Solidarität mit den Menschen außerhalb der EU dazu. Europa ist und darf keine Festung sein, die sich nach außen abschließt, sondern sie muss auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit Verantwortung übernehmen, dass das Menschenbild und die Wertentscheidungen die dem Europäischen Sozialmodell zugrunde liegen, Maßstab sind für das Handeln über die Grenzen der EU hinaus.
Die Sorge um soziale Gerechtigkeit kann bei allen Anstrengungen jedoch nicht allein die Aufgabe des Staates oder der EU sein. Vielmehr beruht das Europäische Sozialmodell auf dem Gedanken der größtmöglichen Partizipation und steht damit der zunehmenden Verstaatlichung von Solidarität im Wohlfahrtsstaat entgegen.
Gerade die Europäische Union sorgt aber mit ihren ausgefeilten und überbordenden bürokratischen Regeln dafür, dass diese partizipative Beteiligung der Gesellschaft an der Ausgestaltung des Europäischen Sozialmodells eingeschränkt und behindert wird. Hier gilt es an die Aussage von Papst Benedikt XVI. zu erinnern, der in seiner Enzyklika "Deus caritas est" schreibt: "Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der lebende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung". (Ziffer 27.6) Daher ist die Vielfalt der Träger im sozialpolitischen Bereich zu erhalten, da diese Vielfalt nicht nur eine breitere Partizipation ermöglicht, sondern auch in der Lage ist, die persönliche Zuwendung zu den einzelnen Menschen sicherzustellen.
Das ZdK möchte mit dem nun zu beratenden Papier einen Beitrag leisten zu der notwendigen Debatte, die die Werte des Europäischen Sozialmodells verdeutlichen soll. Sie will aufzeigen, welche Beiträge die europäische Politik zur Sicherung und Ausgestaltung dieses Sozialmodells leisten kann. Angesichts der anhaltenden Diskussion, ob in Zeiten der wachsenden Globalisierung diese Werte noch tragfähig sind und verteidigt werden können, gilt es auch daran zu erinnern, dass die Lösung der sozialen Fragen ein Entwicklungsfaktor ist und nicht ein Nebenprodukt der Wirtschaft, wie schon Jacques Delors betont hat. Das Europäische Sozialmodell ist damit keine Bremse für die auch wirtschaftliche Entwicklung in Europa, sondern kann der entscheidende Entwicklungsfaktor sein.
Hubert Tintelott