Das Europäische Sozialmodell - Richtschnur für Reformen

Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) vom 24./25. November

Diskussionsbeitrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Ausgestaltung der sozialen Dimension der Europäischen Union

In einer kritischen Phase der europäischen Integration übernimmt Deutschland am 1. Januar 2007 die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. In breiten Kreisen der Bevölkerung ist die Zustimmung zu Europa zurückgegangen. Ernüchterung und Enttäuschung über die Politik der EU haben sich breitgemacht. Die mehrheitliche Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und in den Niederlanden hat darin seinen Grund.

Soziale Fragen spielen in der Debatte um den Fortgang der europäischen Integration eine zunehmend größere Rolle. Europa befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Zahlreiche europäische Länder sehen sich zu tiefgreifenden Reformen ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung gezwungen. Die demographische Entwicklung, der Strukturwandel in der Arbeitswelt, die wachsende öffentliche Verschuldung und die Auswirkungen der Globalisierung haben den Sozialstaat bisheriger Prägung an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Die sozialen Sicherungssysteme für Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut sind erheblich unter Druck geraten; ihre Finanzierung ist in dem gewohnten Umfang nicht mehr gesichert. Viele Menschen befürchten für ihre Zukunft empfindliche Einbußen an ihrem Lebensstandard und den Verlust sozialer Sicherheit.

Für diese Situation wird oft die Europäische Union verantwortlich gemacht, die als Motor der Globalisierung einen wilden Wettbewerb fördere, der die Arbeitsplätze vernichte oder zu ihrer Verlagerung ins Ausland führe; das sei Verrat am Europäischen Sozialmodell beziehungsweise an dem, was ihm im jeweiligen nationalen Kontext entspricht: Soziale Marktwirtschaft, état social, welfare state etc.

Wir appellieren an die Bundesregierung, die Bemühungen um die Neubelebung des Verfassungsprojektes mit einer umfassenden Initiative zugunsten der Ausgestaltung der sozialen Dimension der Union zu verbinden. Dazu schlagen wir vor, den "acquis communautaire" auf sozialem Gebiet ausdrücklich zu bekräftigen und Initiativen zu seiner Fortentwicklung auf den verschiedenen Politikfeldern zu ergreifen. Darüber hinaus drängen wir auf eine grundsätzliche Klärung der Frage, welchen Stellenwert künftig die Sozialpolitik im europäischen Integrationsprozess haben soll. Die Europäische Union braucht eine kräftige Bestätigung ihrer sozialen Dimension, um das Vertrauen der Menschen in den Sinn und die Leistungsfähigkeit sowie insbesondere auch in die soziale Schutzfunktion, die ihr - unabhängig von der Kompetenzfrage - zugesprochen wird, zurückzugewinnen. Hierzu gehört auch, dass die Europäische Union unter Beachtung der Generationengerechtigkeit und des Prinzips der Nachhaltigkeit ökologischen Fragen einen hohen Stellenwert einräumt. Nur so lässt sich die politische Union auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung vollenden.

In dieser Perspektive will das Zentralkomitee der deutschen Katholiken zu einer Debatte beitragen, die für die Identität Europas und die Akzeptanz der Europäischen Union bei ihren Bürgerinnen und Bürgern von großer Bedeutung ist. Wir sehen im Europäischen Sozialmodell auch unter den veränderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen die maßgebliche Richtschnur für notwendige Reformen. Die nachstehenden Überlegungen wollen die geistigen und politischen Grundlagen des Europäischen Sozialmodells klären helfen und dessen Bedeutung für aktuelle Fragestellungen aufzeigen.

1. Was ist das Europäische Sozialmodell?

Trotz der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der sozialstaatlichen Traditionen in Europa halten wir es für sinnvoll, von einem Europäischen Sozialmodell zu sprechen. Damit meinen wir einen Konsens über die Geltung sozialer Grundrechte, Normen und Prinzipien, die in den verschiedenen Ausprägungen des Sozialstaates in Europa ein gemeinsames europäisches Erbe erkennen lassen. Dieses Gemeinsame wollen wir mit diesem Beitrag herausstellen und auf einigen zentralen Handlungsfeldern Konsequenzen für die Politik, insbesondere der Europäischen Union, skizzieren. Es geht dabei um ein Kernstück der Tradition christlich-sozialen Denkens; denn was wir heute als Europäisches Sozialmodell bezeichnen, schöpft seine Plausibilität und seine geschichtliche Kraft nicht zuletzt aus christlichen Quellen.

Kern des Europäischen Sozialmodells ist das ständige Bemühen, wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit in eine Balance zu bringen. Das freie Spiel der Kräfte des Marktes gilt es in ein Regelwerk einzubinden, das nicht nur Fehlentwicklungen und Missbräuche verhindern soll, sondern auch auf die Versorgung der sozialen Grundbedürfnisse sowie auf ein ausreichendes Maß an sozialer Sicherheit abstellt. Die Mitverantwortung des Staates für die Dienste der Daseinsvorsorge gehört dazu, um eine gleichmäßige, gerechte und vorausschauende Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger zu garantieren, wie auch die Existenz von Sicherungssystemen mit obligatorischer Partizipation als einer Form institutionalisierter Solidarität. Auch das Recht der Sozialpartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) und anderer, besonders betroffener oder engagierter gesellschaftlicher Gruppen, an der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialbeziehungen im Sinne der partizipativen Demokratie mitzuwirken, ist ein wesentliches Element des Europäischen Sozialmodells.

Dieses Europäische Sozialmodell ist heute in Gefahr, als normatives Leitbild von Vorstellungen verdrängt zu werden, die sich - unter Vernachlässigung der sozialen Verantwortung - ausschließlich an der wirtschaftlichen Effizienz orientieren und damit den gesellschaftlichen Konsens zerstören, auf dem das europäische Gemeinwesen beruht.

Unbeschadet der notwendigen Reformen, die dem sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel geschuldet sind, gilt es, das Europäische Sozialmodell zu verteidigen und seine positiven Effekte auf die wirtschaftliche Stabilität und die soziale Entwicklung darzustellen. Dies ist auch im Hinblick auf die Entwicklung eines Identitätsbewusstseins als Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union von großer Bedeutung; denn die Gewährleistung sozialer Sicherheit ist ein wesentliches Element des Zusammenhalts und der Identifikation mit einem Gemeinwesen. In ihrer individuellen Wahrnehmung verbinden die Menschen soziale Sicherheit mit dem überkommenen Nationalstaat. Wenn Europa als Ursache für den Verlust sozialer Sicherheit erlebt wird, wird sich schwerlich ein europäisches Bürgerbewusstsein bilden können.

2. Die normativen Grundlagen

Dem Europäischen Sozialmodell liegt ein Menschenbild zugrunde, das allen Menschen die gleiche Würde und die gleichen unveräußerlichen Rechte zuerkennt. Der Einzelne in seiner personalen Würde ist Ziel und Träger der gesellschaftlichen Prozesse. Die Freiheits- und Bürgerrechte, die aus diesem Menschenbild folgen, bedürfen notwendigerweise der Ergänzung durch Sozialrechte. Denn Freiheit besteht nur dort, wo sie tatsächlich in Anspruch genommen werden kann. Sozialrechte sollen dies ermöglichen. Ihrer inneren Logik nach zielen sie auf die Teilhabe aller am politischen und gesellschaftlichen Leben.

Die Gewährleistung dieser Teilhabe konstituiert eine öffentliche Verantwortung und erfordert Instrumente der politischen Gestaltung. Konkrete Unrechtserfahrungen haben die Durchsetzung der Menschenrechte in Europa von den Freiheits- bis zu den Sozialrechten beschleunigt. Die zivilisatorischen Zusammenbrüche, die aus Krieg, rassistischer Gewalt und der Herrschaft totalitärer Ideologien im Herzen Europas folgten, gaben einen letzten Anstoß, politisch-staatliche Strukturen der Teilhabe zu entwickeln und Ausschlusstendenzen jedweder Art entgegenzutreten. Auch in der in den Verfassungsvertrag eingegliederten Charta der Grundrechte der Union hat dies seinen Niederschlag gefunden. Aus diesen normativen und historischen Quellen speist sich ein Gesellschaftsmodell, das wie kein anderes auf der Welt bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit mit der Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und sozialem Ausgleich verbindet.

Von seinem normativen Kern her lässt sich das Europäische Sozialmodell nach zwei Seiten hin abgrenzen. Es unterscheidet sich von einer libertär-marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellung durch die Verpflichtung und Legitimation des Staates zur ausgleichenden Intervention (sowie durch Maßnahmen der sekundären Einkommensverteilung) und von einem kollektivistisch-sozialistischen Gesellschaftskonzept in erster Linie durch den rechtlichen Schutz des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die prinzipielle Unabhängigkeit der Unternehmerfunktion sowie durch die Gewährleistung der Berufsfreiheit aller am Wirtschaftsleben beteiligten Personen.

Die Idee der Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise ihrer zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse in die Arbeit an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft mittels der Gewährung von Freiheits-, Partizipations- und Sozialrechten hat in der Nachkriegsentwicklung der westeuropäischen Staaten zu einer in sich vielfältigen, aber durch ein gemeinsames Grundmuster gekennzeichneten Ausprägung der sozialen Dimension geführt. Ihre hervorstechenden Kennzeichen sind strukturelle Vielfalt und sozialer Ausgleich.

Die spezifische gesellschaftliche Vielfalt findet ihren Ausdruck in einer den Wettbewerb gestaltenden und begrenzenden Rahmenordnung, wie sie im Begriff der Sozialen Marktwirtschaft zur Sprache kommt. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ist durch vielfältige institutionelle Regelungen und Absprachen begrenzt. Sie sind darauf ausgerichtet, in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen den Grundkonsens zu wahren und auf dem Verhandlungsweg Lösungen zu finden. Dazu sollen möglichst viele Interessen und Konfliktlinien integriert werden. In der Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen spielt der Grundsatz der Subsidiarität eine herausragende Rolle. Er meint die unterstützte Selbstverantwortung und Selbstbestimmung der Einzelnen wie sozialer Einheiten, beginnend bei der Familie.

Der soziale Ausgleich, der das Europäische Sozialmodell prägt, kommt in einer Vielzahl von Regelungen zum Ausdruck. Die Verantwortung und der Eingriff des Staates gehen über punktuelle Maßnahmen in Notlagen hinaus und schließen für alle Bürgerinnen und Bürger geltende Rechtsansprüche ein. Der Staat interveniert zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt und sucht das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit abzuschwächen. Gleichzeitig räumt er autonomen Entscheidungen der Verbände, die die Interessen der Marktteilnehmer vertreten, einen relativ breiten Spielraum ein. Zum sozialen Ausgleich gehört im europäischen Denken auch ein bestimmtes Ausmaß an Umverteilung, z. B. durch die progressive Einkommenssteuer und Sozialtransfers, die die marktbedingten Einkommensdifferenzen abmildern. Ziel ist die Balance zwischen dem im Sinne der Freiheit und der Innovation notwendigen Wettbewerb und der im Sinne des gemeinschaftlichen Zusammenhalts ebenso notwendigen Solidarität.

3. Geschichtliche Herausforderungen - Der Beitrag des sozialen Katholizismus

Das Ideal eines Gemeinwesens, das auf Freiheit, rechtlicher Gleichheit und Solidarität beruht, hat sich vor allem in den von Christentum und Aufklärung geprägten westeuropäischen Gesellschaften herausgebildet. Das Christentum hat den kulturellen Horizont und die Ideenwelt mitgeprägt, die eine Wertedynamik in Richtung auf die Einbeziehung und Teilhabe aller ermöglichten und in denen es zur Fokussierung auf die staatliche Gemeinschaft als Träger und Garant entsprechender Anstrengungen gekommen ist. Im Horizont des Glaubens an einen Gott, der vor allen Differenzen die Menschen unterschiedslos als Gleiche geschaffen hat und in Jesus Christus für alle Menschen in gleicher Weise gestorben ist, lagen kulturelle Muster der Zurückweisung und des Protestes gegen die Missachtung und den sozialen Ausschluss Einzelner und Gruppen bereit. Wie keine andere kulturelle Tradition wirkte das Christentum in Richtung einer besonderen Wertschätzung der individuellen Person. Deshalb kann man sagen: Nur im kulturellen Kontext des durch die Aufklärung bereicherten Christentums konnte es zu Entwicklungen kommen, deren Produkt das Europäische Sozialmodell ist.

Die europäischen Nationalstaaten stehen heute vor der Herausforderung, in einem neuen, durch die Globalisierung gekennzeichneten Kontext, Konsequenzen aus ihren sozialen Traditionen zu ziehen, sie zu pflegen und weiterzuentwickeln. Was den europäischen Staatenverbund in der dominanten Welttriade von Europa, Asien und Amerika am nachhaltigsten prägt, ist sein spezifischer gemeinsamer Weg eines sozial eingehegten Kapitalismus. Die europäischen Staaten müssen das Gemeinsame ihrer Muster der Sozialstaatlichkeit erkennen und sich darüber in den globalen Verflechtungen identifizieren. Es gehört zu den zentralen ethischen Lernerfahrungen Europas im 20. Jahrhundert, die auch im 21. Jahrhundert ihre Gültigkeit behalten, dass der "Zivilpakt" bürgerlicher und wirtschaftlicher Freiheiten ohne einen "Sozialpakt" auf tönernen Füßen steht.

Im Zuge der europäischen Integration darf es nicht zu einem Prozess kommen, der auf dem Weg zurückführt, auf dem sich die europäischen Sozialstaaten Schritt für Schritt aus einer inneren Dynamik heraus entwickelt haben. Hier sind die Kräfte des sozialen Katholizismus in besonderer Weise gefordert, ihre spezifische Tradition des sozialen Denkens in die Auseinandersetzung um die Zukunft des sozialen Europa einzubringen. Sie verfügen über ein spezifisches Verständnis von Solidarität, das sich von liberalen Vorstellungen klar unterscheidet. Es entlarvt den gegenwärtig herrschenden Individualismus, der das Menschen- und Gesellschaftsbild des frühbürgerlichen "self-made-man" immer wieder zu erneuern sucht, als Ideologie. Solidarität setzt dem das Bewusstsein von der unausweichlichen wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen entgegen. Im modernen Sozialstaat verkörpert sich die Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang von wechselseitiger sozialer Anhängigkeit und solidarischer Verantwortung aller füreinander. Deshalb lässt er sich nicht auf ein Konzept reduzieren, nach dem die Hilfe auf die "wirklich Bedürftigen" zu reduzieren sei. Wenn heute die Tendenz besteht, die veränderten gesellschaftlichen Wachstums- und Verteilungsbedingungen dem einzelnen als selbstverantwortlichem "Ich-Agenten" einseitig zuzuschreiben, so erweist sich die Tradition eines "starken" Solidaritätsgedankens als höchst aktuell.

Ähnliches gilt für das katholische Subsidiaritätsdenken. Es enthält mit seinem Verständnis als "hilfreicher Beistand" und seinen beiden Komponenten des "Hilfsgebots" und des "Kompetenzanmaßungsverbots" klare Maßgaben, um den Subsidiaritätsgedanken nicht auf die Maxime der Selbstverantwortung zu reduzieren. Wo heute Selbstverantwortung gefordert wird, ohne gleichzeitig die Frage nach der Ermöglichung und Befähigung zu stellen, erweist sich die Forderung als inhaltsleere Rhetorik. Vom katholischen Verständnis von Subsidiarität her ist es selbstverständlich, dass Selbstverantwortung nur in Solidarität funktionieren kann und die Befähigung und Ermächtigung als Voraussetzung der Selbstverantwortung gelten müssen.

Ebenso gilt aber, dass Subsidiarität und Solidarität die Bereitschaft des Einzelnen, für sich Verantwortung zu übernehmen, notwendig voraussetzen. Niemand hat das Recht, von der Gemeinschaft zu erwarten, was er selbst erbringen kann. Die Förderung der Eigenverantwortung und die Befähigung zu ihr sind daher wesentlich, um zwischen den Zuständigkeitsebenen von Einzelnem, gesellschaftlichen Körperschaften und Staat ein neues Gleichgewicht zu finden. Soziale Gerechtigkeit darf nicht mit Umverteilung gleichgesetzt werden. Angesichts der sozialen Risiken, die der technologische Wandel und die weltwirtschaftlichen Entwicklungen mit sich bringen, sind der Kampf gegen strukturelle Benachteiligungen und die Ermöglichung gleicher Startchancen für alle vorrangige Forderungen. Das ZdK sieht in dem Konzept der Chancengerechtigkeit einen hilfreichen Maßstab, um unter den veränderten Rahmenbedingungen Solidarität und Subsidiarität in praktische Politik umzusetzen. Chancengerechtigkeit zielt auf Teilhabe. Teilhabe aber umfasst nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Verantwortung zu übernehmen für das Gemeinwohl folgt aus dem Recht auf Teilhabe.

Hier kommt eine weitere zentrale Idee des sozial-katholischen Denkens in den Blick, die für die strukturelle Ausprägung des sozialen Europa hohe Aktualität besitzt. Von Anfang an verfolgte es die Konzeption einer Vielfalt von Akteuren der Sozialpolitik. Die Achse sozialer Verantwortung bilden hier nicht der Staat, sondern starke, darunter auch weltanschaulich geprägte intermediäre Akteure und Institutionen. Die Wohlfahrtsgesellschaft wird dabei nicht gegen den Wohlfahrtsstaat ausgespielt. Vielmehr geht es um die Vermittlung und Verknüpfung von staatlichen und nicht-staatlichen Trägern der Wohlfahrtspflege mit der solidarischen Hilfe und Aktion in Familien, Selbsthilfegruppen und Initiativen des bürgerschaftlichem Engagements.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken sieht sich verpflichtet, diese spezifische Tradition des sozialen Katholizismus mit seinem "starken" Begriff der Solidarität, seinem Subsidiaritätsdenken und seinem Vertrauen in die Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft des Einzelnen in die Auseinandersetzung um die Zukunft des Europäischen Sozialmodells und die Ausgestaltung der sozialen Dimension der Europäischen Union einzubringen.

4. Konsequenzen für europäische Politik

Die Europäische Union besitzt auf etlichen Politikfeldern, die für die Stärkung und Erneuerung des Europäischen Sozialmodells bedeutsam sind, keine eigenen Kompetenzen. Das gilt zum großen Teil für den Kernbereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Mit ihrer Gesetzgebung greift die EU jedoch mittelbar in viele Bereiche der sozialen Entwicklung ein und beeinflusst den Spielraum einzelstaatlicher Sozialpolitik erheblich. Darüber hinaus befördert sie mit der Methode der offenen Koordinierung und mit den Sozialschutzberichten, die u. a. die Entwicklung im Bereich der Eingliederung, der Armutsbekämpfung, der Renten und des Gesundheitswesens in den Mitgliedsstaaten darlegen, die Weiterentwicklung und zum Teil auch Annäherung der Sozialpolitiken der EU. Erforderlich ist daher eine Gesamtstrategie zur Ausgestaltung der sozialen Dimension der Europäischen Union, die das soziale Profil der EU schärft, sich bei der Ausgestaltung der Zuständigkeiten am Grundsatz der Subsidiarität orientiert und die Auswirkungen ihrer Rechtsetzung auf Politikfelder, die nicht in ihrem unmittelbaren Zuständigkeitsbereich liegen, mitbedenkt. Die Prüfung neuer europäischer Verordnungen und Richtlinien auf Sozialverträglichkeit sollte im europäischen Gesetzgebungsverfahren verankert werden.

Vorrangig erscheinen uns Anstrengungen auf folgenden Politikfeldern:

Bildung

Eine freiheitliche Gesellschaft ist nur mit gemeinsamen Wertegrundlagen und Leitbildern, die ihre Bürgerschaft zusammenhalten, lebensfähig. Das Europäische Sozialmodell setzt auf die Selbstverantwortung und Kreativität des Einzelnen. Es zielt auf die Entfaltung seiner Fähigkeiten, aber rechnet auch mit seiner Leistungsbereitschaft und seiner sozialen Verantwortung. Bildung hat unter diesem Blickwinkel einen eminent hohen Stellenwert. Sie dient nicht nur dem ökonomischen Erfolg des Einzelnen oder der Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten, sondern hat zutiefst allgemein menschliche, soziale und politische Aspekte. Bei der Umsetzung der verschiedenen EU-Programme muss deshalb immer wieder darauf geachtet werden, dass sich die Ausrichtung am ökonomischen Nutzen von Bildung entgegen den offiziell formulierten Zielen nicht zu stark in den Vordergrund schiebt.

In einer Zeit, in der der rasante technische Fortschritt, der beschleunigte Wandel der Arbeitswelt und der Lebensverhältnisse den Menschen ein hohes Maß an Flexibilität, an Kommunikationsfähigkeit und Lernbereitschaft abverlangen, ist Bildung für den Einzelnen eine unverzichtbare Ressource zur Wahrnehmung von Lebenschancen und zur Sicherung seines Lebensunterhalts. Neben der fachlichen Kompetenz und Qualifikation gehören dazu auch zwingend die Charakterbildung und die kulturelle Sozialisation. In diesem Sinne berücksichtigt der Vorschlag der EU-Kommission für einen europäischen Qualifikationsrahmen, der den Vergleich von Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen in der EU ermöglichen soll, auch soziale Kompetenzen. Mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Bildung, was eine entschlossene Ausweitung und Spezifizierung der Bildungsangebote voraussetzt, ist ein wesentlicher Aspekt der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts.

Bildungschancen sind in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Dies führt dazu, dass europaweit große Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung keinen formalen Bildungsabschluss und auch keine Berufsausbildung haben, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich einschränkt. Dies ist nicht nur eine Belastung für die betroffenen Menschen, sondern auch für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. In besonderer Weise sind von dieser Exklusion auch Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Da diese Bevölkerungsgruppe jedoch in vielen europäischen Ländern einen immer größeren Teil der Bevölkerung ausmacht, ist ihre Integration in die Gesellschaft auch angesichts des demographischen Wandels von zentraler Bedeutung, und die Bildungspolitik ist hier in besonderer Weise gefordert. Die Europäische Union muss durch Modellprojekte Anstöße für eine an diese Zielgruppen ausgerichtete Bildungsoffensive geben.

Die raschen gesellschaftlichen Veränderungen fordern die Bereitschaft des Einzelnen zu lebenslangem Lernen ein. Auf diesem Gebiet sind entschiedene Initiativen der EU nötig. Zusammen mit der Verbesserung der Qualität der Bildungssysteme und der Förderung des Zugangs zu Bildung für alle Schichten ist lebensbegleitendes Lernen eines der zentralen Elemente der Lissabon-Strategie, die Europa bis zum Jahr 2010 einen Spitzenplatz im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung sichern soll. Das Aktionsprogramm der EU über lebenslanges Lernen hat darüber hinaus zum Ziel, auch bildungsfernen Gruppen einen Zugang zum Lernen zu ermöglichen. Im Sinne der Chancengerechtigkeit geht es hier auch um vorausschauende Sozialpolitik.

Familie

Auch in den modernen Gesellschaften erbringen die Familien grundlegende gesellschaftliche Leistungen. Familien geben Kindern den für ihre Entwicklung notwendigen emotionalen und sozialen Rückhalt. Sie sind der unersetzbare Raum der Erziehung in der frühen Lebensphase und der erste Lernort der Solidarität. Sie sind Brücke zwischen den Generationen und Garanten der Zukunft. Ihr Beitrag zur Absicherung von Lebensrisiken wie Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit ist auch unter den Bedingungen institutionell verbürgter Solidarität unverzichtbar. Ein Umdenken ist heute im Gange, das die öffentliche Bedeutung der Familien neu entdeckt.

Beigetragen zu der Schwächung der Familie haben nicht nur Entwicklungen in der Wirtschaft und Arbeitswelt, die rücksichtslos über die Belange der Familien hinweggegangen sind, sondern auch strukturelle Benachteiligungen der Familien und die Unklarheit hinsichtlich des Familienbegriffs, aber auch das Festhalten an traditionellen Rollenbildern. Die Politik muss heute auf allen Ebenen (lokal, regional, national und europäisch) darauf achten, die Familien bei der Bewältigung ihrer enormen Aufgaben subsidiär zu unterstützen. Eine familiengerechte Politik gehört zum Kernbestand des Europäischen Sozialmodells.

Zuständig für die Belange der Familien sind in der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten. Dies entspricht dem Subsidiaritätsprinzip, darf aber nicht als Alibi verstanden werden, um das Thema Familie auf europäischer Ebene zu ignorieren. In etlichen Bereichen beeinflusst die EU mit ihrer Politik und ihrer Gesetzgebung die Situation der Familien indirekt.

Im Rahmen ihrer Kompetenzen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, des Wettbewerbsrechts, des Steuerrechts und des Verbraucherschutzes kann die Europäische Union einen nicht geringen Beitrag zur Verbesserung der Situation der Familien in Europa leisten. Ein begrenzter, aber konkreter Schritt wäre die Modernisierung der Richtlinie über den Elternurlaub, um flexiblere Formen für den Elternurlaub zu finden. Das Ziel muss sein, den Wiedereinstieg in das Berufsleben zu erleichtern und auch die (besserverdienenden) Väter zu erreichen.

Im Sinne von Jonhannes Paul II. spricht sich das ZdK für ein "angemessene und authentische Familienpolitik der Staaten und der Europäischen Union" aus (Ecclesia in Europa 91). Es erwartet von der Europäischen Union, dass sie die Förderung der Familie als vorrangig betrachtet und zu einem Bewertungskriterium auf allen Gebieten ihrer Politik macht. Wir fordern die Europäische Kommission auf, die Situation der Familien in ihrem für den Europäischen Rat im März 2007 angekündigten umfassenden Bericht über die soziale Wirklichkeit in der EU ausführlich darzustellen und Vorschläge für Maßnahmen auf europäischer Ebene zu entwickeln. Dies müsste der Ausgangspunkt für die Erstellung regelmäßiger Familienberichte durch die Europäische Kommission und deren Beratung im Europäischen Parlament sein.

Arbeit und Beschäftigung

Arbeit ist nicht nur ein Kennzeichen, das den Menschen von anderen Geschöpfen unterscheidet, sondern sie verleiht ihm auch eine besondere Würde. Nach den Grundüberzeugungen des sozialen Katholizismus gebührt dem arbeitenden Menschen Vorrang vor allen anderen Faktoren im Wirtschaftsprozess. Die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts durch Arbeit, die Eröffnung von Entfaltungschancen durch Arbeit, die Überwindung unzumutbarer Arbeitsbedingungen, sowie Garantien der Mitsprache und Mitbestimmung in der Arbeit gehören zu den wesentlichen Zielen eines sozialen Europa.

Arbeit ist nach dem Verständnis der katholischen Soziallehre zwar umfassender als Erwerbsarbeit; doch ist der Mangel an Erwerbsarbeit angesichts von 20 Millionen Arbeitslosen in Europa für viele Bürgerinnen und Bürger zur größten Sorge geworden. Arbeitsplatzverlust bedeutet mehr als fehlendes Einkommen für die Betroffenen und fehlende Einnahmen in den öffentlichen Kassen, was die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme erheblich gefährdet; er bedeutet auch geringere Chancen auf Teilhabe und eingeschränkte Lebensperspektiven. Neben dem rein finanziellen Aspekt der Existenzsicherung muss aus christlicher Perspektive die Verwirklichung von Teilhabegerechtigkeit, die sich von der Würde des Menschen herleitet, für die Politik oberste Priorität behalten.

In der im Jahr 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie hatte die EU sich vorgenommen, bis zum Jahr 2010 zur dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu werden. Bei Erfolg dieser Strategie würde dies auch die Beschäftigungsprobleme mildern helfen, da in dem rohstoff- und energiearmen Europa nur durch Technologieführerschaft und eine hohe Innovationsfähigkeit auf Dauer Arbeitsplätze gesichert werden können. Dies setzt neben hoch qualifizierten Beschäftigten auf allen Ebenen und der Entfaltung von unternehmerischen Initiativen auch die Bereitschaft voraus, durch eine ethisch verantwortliche Wissenschaft und Forschung die Grundlagen für neue Produkte und Technologien zu schaffen. Wenn die Beschäftigungsprobleme mittel- und langfristig gelöst werden sollen, müssen jetzt schon mehr Mittel für diese Zukunftsinvestition bereitgestellt werden.

Einer konsequenten Umsetzung neuer Technologien und auch einer Steigerung der Produktivität steht oft eine Bürokratie entgegen, die nicht nur mit ihren Anforderungen hohe Kosten verursacht, sondern auch Investitionen erschwert und damit neue Beschäftigungsmöglichkeiten verhindert. Der Abbau von überflüssiger Bürokratie und die Entlastung der Wirtschaft von bürokratischen Hindernissen ist eine Aufgabe aller staatlichen Ebenen. Da auch die EU mit ihren Richtlinien zum Aufbau bürokratischer Hindernissen beiträgt, ist auch sie gefordert, ihren Beitrag auf diesem Gebiet zu leisten. Das ZdK begrüßt die entsprechenden Vorstöße aus der Europäischen Union und erwartet konkrete Initiativen von der deutschen Ratspräsidentschaft.

Eine besondere Belastung stellt eine zu stark einschränkende Bürokratie für Klein- und Mittelbetriebe dar. Gerade die Klein- und Mittelbetriebe spielen jedoch für die Beschäftigung eine Schlüsselrolle und sind besonders wichtig für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt auf lokaler und regionaler Ebene. Überzogene bürokratische Vorschriften verhindern auch den Zugang dieser Betriebe zu den Mitteln der EU für Forschungsförderung und für sonstige wirtschaftliche Förderprogramme. Klein- und Mittelbetriebe können den für die Antragsstellung erforderlichen Aufwand gar nicht erbringen. Im Sinne einer Beschäftigungsförderung ist die EU jedoch gefordert, die Neugründung von Klein- und Mittelbetrieben sowie Unternehmensübernahmen in diesem Bereich zu fördern und diesen Betrieben einen erleichterten Zugang zu Fördermitteln für Forschung und Innovation zu eröffnen.

Von entscheidender Bedeutung für eine hohe Beschäftigungszahl sind auch die Regelungen des Arbeitsmarktes. Hier sind nach dem subsidiären Verständnis der katholischen Soziallehre jedoch die Sozialpartner in besonderer Weise gefordert, die sich den durch die Globalisierung veränderten Anforderungen bei der Gestaltung des Arbeitsmarktes in gemeinsamer Verantwortung stellen müssen. Unternehmen, die sich ausschließlich an Gewinnmaximierung orientieren und die Folgen, z. B. Entlassungen in die Arbeitslosigkeit, auf die Gesellschaft abwälzen, lassen es an dieser Verantwortung fehlen. Dabei müssen die Absprachen der Sozialpartner durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik unterstützt werden, die darauf abzielt, durch eine sozialgestützte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, durch Weiterbildung und durch besondere Initiativen für Geringqualifizierte erwerbsfähige Menschen in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Unbeschadet der Verantwortung der Tarifpartner sind zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zur Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Mindeststandards, z. B. bei der Arbeitszeit, erforderlich. Wir fordern daher die deutsche Ratspräsidentschaft auf, sich für eine Einigung im Bereich der Arbeitszeitrichtlinie einzusetzen. Der Vorschlag des Europaparlaments ist dabei eine gute Grundlage, da er Mindeststandards setzt, aber genügend Raum für weitergehende Vereinbarungen der Tarifpartner lässt.

Staatsverschuldung

Ein handlungsfähiger Staat ist ein zentrales Element des Europäischen Sozialmodells. Angesichts der dramatischen Verschuldung der öffentlichen Haushalte in den meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist diese Handlungsfähigkeit in Frage gestellt. Die öffentliche Schuldenlast in der Europäischen Union stieg in den vergangenen Jahren auf über 70 % des Bruttosozialproduktes der Staaten der Eurozone. In einigen großen Mitgliedsstaaten werden deutlich mehr als 10 % der öffentlichen Ausgaben durch Kredite finanziert, ohne dass dieser Kreditaufnahme entsprechende langfristige Investitionen gegenüberständen.

Zwar gelingt es einzelnen Staaten, gelegentlich Überschüsse zu erwirtschaften, doch das Gros der Staaten packt auf seine Schuldenberge Jahr für Jahr noch weitere Schulden drauf. So wird derzeit in weiten Teilen der EU die Spardiskussion lediglich über eine Reduzierung der Neuverschuldung geführt, bestenfalls mit dem langfristigen Ziel eines ausgeglichenen Haushalts, aber keineswegs über den Abbau der bereits bestehenden und weiter wachsenden Schuldenberge.

Diese immense Schuldenlast wird den kommenden Generationen aufgebürdet, die aufgrund des Geburtenrückgangs und der Überalterung der Gesellschaft weniger Menschen umfassen werden. Für einen Großteil der Ausgaben, die wir für eine gute Gesundheit, Sicherheit im Alter und die Erhaltung unseres Lebensstandards in Anspruch nehmen, müssen zukünftige, heute noch nicht einmal geborene Steuerzahler aufkommen. Dies verletzt nicht nur die Gerechtigkeit zwischen den Generationen, sondern verschärft auch die Ungleichheiten innerhalb der kommenden Generation. Die Schere zwischen Arm und Reich lässt sich so immer schwerer schließen. Dies ist mit dem Selbstverständnis der Europäischen Union als einer Gemeinschaft mit sozialer Verantwortung nicht vereinbar.

Die Politik muss deshalb heute den Mut zu einem vorausschauenden und einem sozial verantwortlichen Sparen in den öffentlichen Haushalten aufbringen, das die Folgen seiner Entscheidungen berücksichtigt.

Die EU hat mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ein Instrument an der Hand, um auf die Finanz- und Haushaltspolitik ihrer Mitgliedsstaaten einzuwirken. Bei seiner Reform wurden allerdings zu wenige Möglichkeiten geschaffen, die Mitgliedsstaaten bei guter Konjunkturlage auf eine Haushaltskonsolidierung zu verpflichten. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es nicht ausreicht, allein auf nationale Maßnahmen zu setzen. Notwendig sind europäische Maßnahmen und Instrumente, um - insbesondere in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs - einen weiteren Schuldenaufbau zu unterbinden. Wir plädieren deshalb dafür, den Stabilitätspakt an dieser Stelle zu reformieren, um die Mitgliedstaaten nicht nur auf einen Schuldenabbau bei guter Konjunkturlage zu verpflichten, sondern sie ggf. mit konkreten Sanktionsmöglichkeiten auch dazu anhalten zu können. Gerade aus den nationalen Erfahrungen heraus sollte die EU selbst nach unserer Auffassung kein Verschuldungsrecht erhalten.

Entwicklung und Migration

Das Menschenbild und die Wertentscheidungen, die dem Europäischen Sozialmodell zugrunde liegen, haben universelle Bedeutung. Diese Aussage hat nichts mit europäischer Arroganz zu tun; sie macht uns vielmehr bewusst: Wir verteidigen unsere eigenen Werte, wenn wir mit den Millionen Menschen, die weltweit ohne ausreichende Lebens- und Entwicklungschancen sind, Solidarität üben. Was im Innern gilt, muss auch in den Beziehungen nach außen Maßstab sein. Nötig ist eine europäische Entwicklungspolitik, die sich nicht von kurzfristigen eigenen Interessen leiten lässt. Dies entspricht nicht nur einer allgemeinen moralischen Verpflichtung, sondern ist auch Ausdruck europäischer Identität und deren zentralen Prinzipien, der Solidarität und der Subsidiarität.

Vorrangiges Ziel der Solidarität muss die Bekämpfung der Armut sein. Zusammen mit den anderen Industrieländern haben sich die Mitgliedsstaaten der EU im Rahmen der UN-Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 verpflichtet. Die Europäische Union muss beim Einsatz für dieses Ziel vorbildlich sein und ihre Anstrengungen verdoppeln, um EU-weit so bald wie möglich die Marke von 0,7 % des Bruttosozialproduktes für Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu erreichen. Armut kann wirksam nur durch die Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung bekämpft werden, die die Chancen der armen Länder auf Zugang zu den Weltmärkten verbessert. Ein deutlicher Einsatz der EU für die Herstellung fairer Wirtschafts- und Handelsbeziehungen durch den Abbau von Schutzzöllen und Subventionen ist nach dem Scheitern der WTO-Runde in Genf von großer Dringlichkeit.

Europa steht unter starkem Einwanderungsdruck. Aus Afrika vor allem drängen Menschen in wachsender Zahl in die Europäische Union, um hier eine Arbeit und ein Auskommen zu finden. Diese Wanderung hat inzwischen dramatische Formen angenommen. Die Antwort der Europäischen Union erschöpft sich bislang in Abwehr und Kontrolle. Sicherheitspolitische Interessen dominieren. Im Jahr 1999 beschlossen die Staats- und Regierungschefs in Tampere die Schaffung eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das "Haager Programm" vom November 2004 hat diesen Beschluss aufgegriffen und bestätigt. Beabsichtigt ist, auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention ein europäisches Asylsystem zu schaffen, Maßnahmen zur Steuerung von Flucht- und Migrationsbewegungen zu ergreifen und Regelungen für eine Partnerschaft mit den Herkunftsländern von Flüchtlingen auszuarbeiten, um gemeinsam den Fluchtursachen entgegenwirken zu können. Dazu gehört auch, Möglichkeiten legaler Zuwanderung über den Kreis von Hochqualifizierten hinaus zu eröffnen, um irreguläre Zuwanderung, Menschenhandel und Menschenschmuggel zu reduzieren. All das harrt in weiten Teilen noch der Umsetzung.

Ein Grundproblem der Entwicklungszusammenarbeit der EU ist ihr Mangel an Kohärenz mit Entscheidungen und Maßnahmen auf anderen Politikfeldern. Die Ziele und Grundsätze des im Februar 2006 verabschiedeten "Europäischen Konsenses über die Entwicklungspolitik", der die Voraussetzungen einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit zutreffend beschreibt, werden gleichzeitig und immer wieder konterkariert durch Entscheidungen und Maßnahmen der europäischen Agrar- und Handelspolitik, die vorrangig kurzfristige Interessen verfolgen und damit häufig die Früchte europäischer Entwicklungszusammenarbeit zunichte machen.

Die Ziele und Grundsätze des Entwicklungspolitischen Konsenses müssen daher im Sinne der Kohärenz auch für die Beurteilung außen-, handels- und agrarpolitischer Maßnahmen Gültigkeit erlangen. Um dies zu erreichen, ist eine Stärkung der Einblicks- und Entscheidungsrechte des Europäischen Parlamentes nötig sowie die Einführung einer Begründungsverpflichtung der exekutiven Organe der EU, die sich an den entwicklungspolitischen Zielen und Grundsätzen orientiert. Dies hat auch mit Glaubwürdigkeit zu tun. Sie ist die Grundlage einer globalen Entwicklungspartnerschaft.

Strukturen der Wohlfahrtspolitik

Das Europäische Sozialmodell beruht auf dem Gedanken der größtmöglichen gesellschaftlichen Partizipation. Dies gilt für alles politische Handeln, aber insbesondere bei den Aufgaben im sozialen Bereich und der Gestaltung der sozialstaatlichen Strukturen. Im Sinne einer Problemlösung, die dort ansetzt, wo die Probleme entstehen, sind die verschiedenen Handlungsebenen zu berücksichtigen und alle relevanten Gruppen zu beteiligen. Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip und garantiert eine wünschenswerte Vielfalt von Trägern. Ein zentralistisch-etatistischer Ansatz ist dem Europäischen Sozialmodell fremd.

In Deutschland schlagen sich Partizipation und Vielfalt in der besonderen Rolle der Regionen und Kommunen, aber auch in der Tätigkeit gemeinnütziger Träger nieder. Auch in anderen Mitgliedsstaaten hat die Tätigkeit freier, gemeinnütziger Träger einen hohen Stellenwert. Die Sozialpolitik liegt weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Sie sind im Sinne des Subsidiaritätsprinzips in erster Linie für die Organisation der sozialen Dienste bzw. für die Schaffung von Rahmenbedingungen zur Förderung entsprechender gesellschaftlicher Initiativen verantwortlich. Die Europäische Union sollte zur Wahrung des Wunsch- und Wahlrechts der Bürgerinnen und Bürger die Pluralität der Anbieter wie auch die Gemeinnützigkeit als schützenswert und förderungswürdig ausdrücklich anerkennen. Sie muss darauf achten, dass sie mit europarechtlichen Vorgaben die gewachsenen sozialstaatlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten nicht gefährdet.

Dies betrifft beispielsweise Vorschriften im Bereich des Beihilfe- und Vergaberechts, die mit Blick auf die Vollendung des Binnenmarktes den Gedanken des Wettbewerbs, verstanden als Auseinandersetzung zwischen Konkurrenten um das kostengünstigste Angebot, in den Mittelpunkt rücken. Die Einführung von Wettbewerbselementen soll zur Qualitätssteigerung und zur Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven führen. Die Mitgliedsstaaten dürfen dadurch nicht gezwungen werden, die von ihnen gewollte Vielfalt der sozialen Dienste zugunsten eines rein gewerblichen Sektors aufzugeben. Dies gilt insbesondere für Gesundheits- und soziale Dienstleitungen, die sich nicht wie ein Markt, der sich nach den Regeln des Preiswettbewerbs richtet, ordnen lassen.

Es ist in besonderer Weise darauf zu achten, dass wettbewerbliche Vorschriften die Kooperation zwischen staatlichen und freien, gemeinnützigen Trägern in den einzelnen Ländern nicht gefährden. Gerade die kirchlichen Verbände und ihren Einrichtungen lassen sich nicht auf Wirtschaftsunternehmen reduzieren. Die Vielfalt der sozialen Angebote und Träger stärkt das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfebedürftigen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung des Europäischen Sozialmodells im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.


Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 25. November 2006

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