Benachteiligte Jugendliche gerecht beteiligen

Rede von Dr. Regina Görner im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Anrede,

junge Menschen sollen die Chance haben, ihr Leben eigenständig zu gestalten und sich und ihre Familien selbständig zu unterhalten. Zugang zu einer existenzsichernden Erwerbsarbeit ist dafür die entscheidende Voraussetzung. Viele junge Menschen, vor allem solche mit Migrationshintergrund, finden diesen Zugang nicht oder nur unter großen Mühen. Von den deutschen Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schafften 40% den Sprung in Ausbildung, von den Migranten aber nur 29%.
Nach Feststellungen des BiBB war das Bewerberverhalten (Bewerbungen, aktive Suche, Berufsorientierung etc.) bei beiden Gruppen gleich. Mangelndes Interesse liegt also auch bei den Migranten nicht vor. Das Thema Migration schlägt auch dann durch, wenn bei den Bewerbern die gleichen schulischen Abschlüsse vorliegen. Oder anders formuliert: Auch gute schulische Leistungen garantieren den Migranten noch keinen Ausbildungsplatz.

Sie erwerben keine oder nur schwache Schulabschlüsse. Sie haben keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt, und sie werden damit zu Aspiranten für Dauerarbeitslosigkeit. Ob ihnen jemals eine eigenständige Existenz möglich wird, ist derzeit in höchstem Maße fraglich.

Was kann man tun, um diesen Jugendlichen zu helfen? Ich warne zunächst ausdrücklich davor, für diese jungen Menschen Nischen und Schonräume aufzubauen. Ihrer Würde entsprechen keine Schonräume, sondern reale Teilhabemöglichkeiten in der Erwerbsarbeit. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit ist das zwar leichter gesagt als getan. Aber es verdient dennoch unser aller Anstrengungen.

Ich warne weiterhin ausdrücklich davor, eine automatische Lösung des Problems von der demographischen Entwicklung oder einem wirtschaftlichen Aufschwung zu erwarten. Es gilt, sich klarzumachen, dass wir auch in Zeiten hoher Nachfrage nach Auszubildenden und stark rückläufiger Schulabgängerzahlen mit dem Problem schwer vermittelbarer Jugendlicher konfrontiert sein werden, auch wenn wir dann nicht mehr so viele marktbenachteiligte Jugendliche zu unserer Zielgruppe werden zählen müssen.

Der Grund: Es gibt grundlegende Veränderungen in der Arbeitswelt, die keine Rückkehr zu einer Situation erlauben, in der man mit an- und ungelernter Arbeit einen vielleicht dürftigen, aber doch einigermaßen sicheren Lebensunterhalt gewährleisten konnte. Man muss sich diese Veränderungen vor Augen führen, wenn man Lösungen finden will, die mehr sind als Aktivitätsnachweise zur Beruhigung des Gewissens - davon haben wir in der Vergangenheit bereits genug erlebt.

Worin bestehen die Veränderungen in der Arbeitswelt, die es Jugendlichen mit schlechten Startchancen so schwer machen, Zugang zu Erwerbsarbeit zu finden?

1.
Technischer Fortschritt und Innovation haben ihren Preis: Neue Technologien und Produktionsprozesse bedeuten in aller Regel Ersatz menschlicher Arbeit. Es trifft vor allem die einfache Arbeit, denn die lässt sich am ehesten mechanisieren oder ganz wegrationalisieren. Aber mit neuer Technik, neuen Formen der Arbeit und ihrer Organisation ändert sich auch die verbleibende Arbeit: Sie wird komplizierter. Heute müssen selbst in früher eindeutig durch Handarbeit geprägten Berufen wie etwa in der Tischlerei zwar immer noch die klassischen Handfertigkeiten beherrscht werden, aber der Berufsalltag ist wesentlich geprägt vom Einsatz computergesteuerter Maschinen. Die Arbeitskräfte müssen deren Programmierung und Bedienung ebenso beherrschen wie das Hobeln und Zinken. Vergleichbares gilt für praktisch alle Berufe in der Produktion und im Handwerk. Eine Umkehr dieser Entwicklung steht nicht zu erwarten. Wer einmal eine Kehrmaschine angeschafft hat, wird auch dann niemanden mehr mit dem Besen durch die Werkshalle schicken, wenn die Kehrarbeit als 1€-Job angeboten würde.

2.
Die wachsende Komplexität beruflicher Tätigkeiten ist aber nicht nur technischer Natur: Kunden- und Dienstleistungsorientierung verlangen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten und soziale Kompetenzen. Wer hier nicht die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt, etwa weil er aus einem Migrationsmilieu kommt, ist schnell vom Zugang zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit abgeschnitten.

3.
Die Globalisierung hat die Wettbewerbschancen Unqualifizierter dramatisch verschlechtert. Wer personalintensive, qualifikatorisch anspruchslose Produktionen, die nicht ortsgebunden sind, betreibt, findet dafür weltweit nahezu unerschöpfliche Arbeitskraftreserven.
4.
Einfache Dienstleistungen, die personen- oder ortsbezogen erbracht werden müssen und die sich damit nicht im globalen Wettbewerb befinden, stehen als Alternative kaum zur Verfügung, da sie in großem Umfang der Erwerbswirtschaft entzogen sind. Private Haushalte erbringen viele dieser Tätigkeiten in Eigenarbeit. Was man ohne berufliche Qualifikation tun kann, kann schließlich jeder von uns selbst machen, wenn er Zeit genug hat. Die Inflation der Baumärkte legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Auch hier gehen Tag für Tag Beschäftigungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte verloren. Wo die Eigenarbeit die einfachen Jobs nicht frisst, sorgen Schwarzarbeit oder Nebenbeschäftigungen dafür, dass in diesem Bereich eine legale Existenzsicherung kaum mehr möglich ist.

Und auf eine weitere Veränderung will ich Ihre Aufmerksamkeit lenken.

5.
Vor allem große, wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen entlasten sich von allen denkbaren Risiken. Durch Outsourcing stossen sie Unternehmensbestandteile ab, die nicht zum sogenannten Kerngeschäft gehören. Durch Leih- und Zeitarbeit gleichen sie Auftragsschwankungen aus. Leih- und Zeitarbeit gehören mittlerweile zum selbstverständlichen Arsenal strategischer Personalkonzepte in den Betrieben. Sie sehen eine möglichst „schlanke“ Stammbelegschaft vor, die systematisch durch Randbelegschaften ergänzt wird, zu denen allerdings keine dauerhaften vertraglichen Beziehungen mehr aufgenommen werden. Von diesen Prozessen sind nicht nur, aber doch in hohem Umfang Arbeitsplätze betroffen, die für unsere Zielgruppe in Frage gekommen wären.

Unternehmen entlasten sich von Risiken, aber diese fallen nicht einfach weg: Jemand anderes muss sie tragen, die Individuen, die in die Randbelegschaften abgedrängt werden und die sich mit schlecht bezahlter, unsicherer, prekärer Arbeit zufrieden geben müssen, wenn sie denn überhaupt welche finden.

Anrede,

welchen Umfang diese Zerfaserung und Aufspaltung der Belegschaften inzwischen angenommen hat, will ich kurz verdeutlichen. Die IGM hat kürzlich die von uns betreuten Betriebsräte in Berlin, Brandenburg und Sachsen nach dem Anteil der Leih- und Zeitarbeit in ihrem Unternehmen befragt. Wohlgemerkt: Das sind tarifgebundene Unternehmen, in denen Betriebsräte ihre Arbeit tun können, also eine absolute Positivauslese. Anderswo stellt sich die Situation eher noch dramatischer dar.

In der Automobil- und Maschinenbauindustrie Ostdeutschlands sind ArbeitnehmerInnen, die kein Dauerarbeitsverhältnis mehr haben, längst keine Ausnahme mehr. Anteile von 25 oder 35% an den Belegschaften sind durchaus üblich. Die sog. Zeitarbeiter bleiben meist nicht lange. Die Hälfte von ihnen ist schon nach 3 Monaten nicht mehr im Betrieb beschäftigt. Die meisten ZeitarbeitnehmerInnen, nämlich 2/3 von ihnen, kamen unmittelbar aus der Arbeitslosigkeit, verfügten aber über eine Facharbeiterausbildung.

So ist es kein Wunder, dass die Zeitarbeit die Branche mit den brilliantesten Steigerungsraten ist. Bundesweit hat zwischen 2000 und 2005 um 34% zugenommen.

Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, bei dem ein Beschäftigter nach der Schule als Auszubildender in einen Betrieb eintritt und dort eine lange Zeit, möglicherweise bis zur Verrentung, verbleibt, stirbt zwar nicht aus, aber es erhält mehr und mehr Seltenheitswert. Und das gilt natürlich am wenigsten für die hoch qualifizierten Beschäftigten, auf die ein Unternehmen im Wettbewerb gar nicht verzichten kann, und die es deshalb mit hohen Löhnen, guten Sozialleistungen und der Aussicht auf Dauerbeschäftigung an sich bindet. Aber es gilt natürlich massiv für die Zielgruppe, von der wir hier heute sprechen, von den Jugendlichen mit schlechten Startchancen, die mehr als andere damit rechnen müssen, ihre Arbeitskraft immer wieder neu selbst zu vermarkten und sich in unterschiedlichsten betrieblichen Zusammenhängen ein Auskommen suchen zu müssen.

Anrede,

es hilft nicht, sich die Lage schön zu reden: Das sind die Rahmenbedingungen, auf die heutigen Jugendlichen treffen werden, und wir tun gut daran, sie für diese Situation so gut wie möglich vorzubereiten. Wenn ich weiß, dass nur wenige dieser jungen Menschen die Chance haben werden, in den Stammbelegschaften zu landen, dann kann vor allem ein Mittel, das immer leicht empfohlen wird, nur kontraproduktiv sein: Schmalspurausbildungen, die sich fast immer 1:1 an den Anforderungen eines einzelnen, konkreten Arbeitsplatzes orientieren. Sie brauchen vielmehr Qualifikationen, die sich immer wieder neu in den unterschiedlichsten Verwendungszusammenhängen verwerten lassen, die bei häufigen Wechseln nicht jedes Mal erst lange Phasen von Umqualifizierungen nach sich ziehen, und die sie vor der Abhängigkeit von einem einzelnen potentiellen Arbeitgeber befreien, der sie als Tagelöhner bei Bedarf heuert oder feuert und ihnen das Risiko aufbürdet, das man gemeinhin das „unternehmerische“ nennt.

Was kann man also für die Jugendlichen mit schlechten Startchancen tun?

1.
Unstetige Arbeitsbiographien erfordern keine Miniberufe, sondern breit angelegte, wenig spezialisierte Ausbildungen, die sich arbeitsplatz- und arbeitgeberunabhängig einsetzen lassen. Schmalspurausbildungen kann sich nur erlauben, wer Zugang zu einem Dauerarbeitsplatz hat, der sich nicht verändern wird. In unserer Zielgruppe werden das leider nur sehr, sehr wenige sein. Die anderen aber brauchen Ausbildungen, die ihnen Optionen eröffnen statt sie in Abhängigkeit und Sackgassen zu führen. Unstetige Arbeitsbiographien verlangen nicht zuletzt Ausbildungen, die allgemein anerkannte Zertifikate verleihen. Wer sich immer wieder neu bewerben muss, hat überhaupt nichts von Bescheinigungen, die schön aussehen, aber keine wirkliche Transparenz herstellen. Das wird gerade mit Blick auf benachteiligte Jugendliche oft übersehen!

2.
Es gibt trotz aller schwerwiegenden Veränderungen in der Arbeitswelt übrigens gar keinen Grund zur Resignation: Die Entwicklungspotentiale der jungen Leute werden bisher längst nicht ausgereizt! Und wir sollten dafür sorgen, dass sie ihre Chance erhalten, statt für sie Schonräume und Nischen zu konstruieren, die sie ins Abseits stellen. Es muss ja auch nicht jeder gleich Energieanlagenelektroniker werden. Das Spektrum von über 350 Ausbildungsberufen enthält sehr unterschiedliche Anforderungsprofile, die meines Erachtens viel zu wenig beachtet werden, wenn es um Perspektiven für „Jugendliche mit Förderbedarf geht.

3.
In den nächsten Jahren wird die Zahl der Schulabgänger deutlich sinken. Dadurch werden vor allem weniger attraktive Ausbildungsplätze offen stehen, die aber durchaus Zukunftsperspektiven eröffnen. Dort ist der Facharbeitermangel programmiert, wenn sich die Unternehmen, die solche Lehrstellen anbieten, nicht für Jugendliche mit schwächeren schulischen Vorleistungen öffnen. Es ist entscheidend, dass sie sich endlich der Tatsache stellen, dass ihre BewerberInnen für solche Angebote nicht aus dem Abiturienten- oder guten Realschülerklientel kommen können, denn die studieren oder bewerben sich auf die attraktiveren Ausbildungsplätze.

4.
Trotz der gestiegenen Anforderungen in den Ausbildungsberufen sind die Erfolgsaussichten junger Menschen, die sich mit dem Lernen schwer tun, gerade in der dualen Berufsbildung besser als in jeder anderen - sprich schulischen oder außerbetrieblichen Ausbildungsform. Schulisches Lernen setzt sehr stark auf visuelles und auditives Lernen. Sprachliche Fähigkeiten spielen dabei eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt MigrantInnen sind da immer im Nachteil. Es gibt aber auch noch andere Lernzugänge, die mitunter verfälschend als „praktische Begabungen“ bezeichnet werden. Tatsächlich geht es um die Möglichkeit, über Handeln und Tun, über „Be-Greifen“ im wahrsten Sinne des Wortes, Kompetenzen zu erwerben. Duale Ausbildung setzt genau hier an und hat deshalb dazu geführt, dass die Bundesrepublik über Jahrzehnte für gut 2/3 der Arbeitsbevölkerung eine weltweit vorbildliche Fachqualifikation sicher stellen konnte, die nicht nur von der OECD als unser eigentlicher Standortvorteil gepriesen wird. Dass die Anteile seit einigen Jahren dramatisch zurückgehen, ist beunruhigend. Hier verschwenden wir unser bestes Kapital!

5.
Die duale Berufsbildung hat aber pädagogisch noch einen anderen Vorteil, der für die Lernmotivation Entscheidendes bringt: Duale Berufsbildung ist immer Lernen im Ernstfall, in der Wirklichkeit eines Betriebes. Es wird nicht für den Papierkorb gearbeitet, sondern für Kunden, die es wirklich gibt. Was zu lernen ist, ergibt sich aus konkreten Arbeitsaufgaben, die Sinnhaftigkeit des zu Lernenden ist nie fraglich. Das kann keine noch so gute Schule gewährleisten. Und Jugendliche, die die Schule mit Misserfolgserfahrungen verlassen, würden davon besonders profitieren. Doch was tun wir? Anstatt dass Jugendliche mit Förderbedarf im duale System lernen, stecken wir sie in der Regel in unproduktive schulische Warteschleifen, die zumeist den Teufelskreis des Scheiterns fortschreiben. Deshalb kann es nur eine Forderung geben: Die Unternehmen müssen sich diesen Jugendlichen öffnen und ihnen endlich Chancen in der normalen Berufsausbildung geben. Wo so etwas geschieht, sind die Erfahrungen in aller Regel ermutigend, jedenfalls weit ermutigender als alles andere, was wir unserer Zielgruppe gewöhnlich anbieten.

6.
Der dramatische Rückgang der betrieblichen Ausbildungsbereitschaft in den letzten Jahren ist natürlich eine schwere Belastung für die Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf. Unternehmen bilden heute höchstens entsprechend ihrem Bedarf aus, aber ihr Bedarf orientiert sich nur noch an den geplanten Stammbelegschaften, nicht mehr an den Randbelegschaften, in die man nichts investieren möchte. Die Überbedarfausbildung, die im deutschen dualen System früher völlig üblich war, ist bis auf ein paar symbolische Akte völlig zusammengebrochen. Ergebnis ist ein dramatisch gewachsenes Gerechtigkeitsproblem zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben, das meines Erachtens nicht zu lösen ist, solange sich nicht alle Betriebe an der Finanzierung beteiligen müssen. Deshalb wird es dauerhaft ohne eine Umlagefinanzierung nicht gehen. Für deren Ausgestaltung gibt es unsinnige, aber auch sinnvolle Wege, die ihre Leistungsfähigkeit längst nachgewiesen haben.
7.
Jugendliche, die mit schlechten Voraussetzungen aus den Schulen kommen, haben oft Probleme mit theoretischen Anforderungen. Ausbildungsbegleitende Hilfen und vor allem eine bessere Berufsschule könnten hier vieles ausgleichen. Das Instrument AbH hat sich in der Arbeitsmarktpolitik im übrigen als besonders erfolgreich erwiesen. Es darf keinesfalls weiter zurückgefahren werden dies wird aber in der Tendenz getan. Denn: In den letzten Jahren ist AbH nicht angestiegen sondern geschrumpft. Gab es 1999 noch 71.000 Eintritt lagen diese 2005 nur noch bei 65.000 - und dies obwohl die Fördergruppe angewachsen ist.

8.
Viel schwerer als die theoretischen Mängel wirken zumeist soziale oder Verhaltensdefizite, mangelnde Belastbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, Defizite bei Sekundärtugenden etc. Ich habe Verständnis dafür, dass Unternehmen sich nicht mit der Aufgabe belasten wollen, bei diesen Jugendlichen ein Stück Erziehung nachzuholen. Aber das kann man ja auch anders lösen: Modelle wie Quas plus im Norden oder PIA in Baden-Württemberg oder „Ausbildung jetzt“, das ich hier im Saarland eingesetzt habe, stellen den Unternehmen eine öffentlich finanzierte sozial-pädagogische Betreuung für die Dauer der Ausbildung zur Seite, wenn sie Jugendlichen mit solchen Problemen eine Chance geben. Die Ergebnisse sind mehr als ermutigend. Deshalb sollten die öffentlichen Mittel, die derzeit noch massenhaft in unproduktive Warteschleifen gesteckt werden, endlich in solche Programme zur sozialpädagogischen Begleitung von Jugendlichen eingesetzt werden, mit denen sich die Betriebe in der Ausbildung überfordert fühlen.

9.
Jugendliche, die sich in der dualen Ausbildung trotz sozialpädagogischer Betreuung und AbH mit dem Lernen schwer tun, brauchen nicht weniger, sondern mehr Zeit für die Ausbildung. Das Berufsbildungsgesetz sieht dies im übrigen längst vor. Es wird aber viel zu selten genutzt. In der Schweiz erhält diese Zielgruppe vor der Aufnahme einer dreijährigen Ausbildung zunächst eine berufsorientierende Einstiegsphase, die bis zu einem Jahr dauern kann und deren Inhalte auf die anschließende Ausbildung angerechnet werden können. Das gibt den Jugendlichen eine Perspektive, vermittelt ihnen nach überschaubarer Zeit ein Erfolgserlebnis und nutzt die dadurch erworbene Motivation für eine normale Berufsausbildung. Dort wird dann anstatt drei Jahre, vier Jahre gelernt.
Mit Hilfe der Einstiegsqualifizierung könnte ein solches Modell auch in Deutschland umgesetzt werden. Entscheidend ist, dass von Anfang an Aussicht auf eine richtige Lehrstelle besteht. Entsprechende Durchstiegsansprüche sind unverzichtbar. Das gleiche gilt für gestufte Ausbildungen. Sie sind für Jugendliche, die sich mit dem Lernen schwer tun, nur dann eine Perspektive, wenn zu Beginn der ersten Stufe klar ist, dass ihre erfolgreiche Bewältigung einen Anspruch auf weitere Stufen eröffnet.
Das neue Berufsbildungsgesetz hat hier ein Instrument geschaffen, das aber bisher nicht umgesetzt wird: Der Vertrag geht über beide Stufen und nur der Jugendliche entscheidet, ob er aussteigt und sich mit der ersten Stufe zufrieden gibt.
Dieses andere Ausstiegsmodell verhindert, dass nur die Qualifikationsinteressen des Betriebs gesehen werden.10.
Selbstverständlich kann die betriebliche Berufsausbildung nicht alle Probleme lösen, die ihr andere geschaffen haben. Deshalb muss sich dringend etwas in den Schulen verändern. Trotz der vielstimmigen Klagechöre im Zusammenhang mit dem kläglichen deutschen Abschneiden bei PISA bewegen sich die Diskussionen leider an der Oberfläche des Problems, auch wenn viel Zutreffendes gefordert wird. Aber das Kernproblem wird notorisch übersehen: Statt über Schulstrukturen zu streiten, sollte endlich einmal auf das gesehen werden, was im Unterricht geschieht, bzw. nicht geschieht. Wir brauchen dringend eine Debatte darüber, wie Unterricht gestaltet werden muss, damit junge Menschen Freude am Lernen entwickeln und behalten können, damit ihre gesamten - auch die „praktischen“! - Lernpotentiale angeregt und genutzt werden können. Die Schule könnte dafür von der dualen Berufsbildung manches lernen.

11.
Aber die Schulen müssen auch ihre Curricula verändern. Wir müssen junge Menschen endlich frühzeitig auf die veränderten Erwerbsarbeitsformen vorbereiten. Schon in der Sekundarstufe I ist das Problem zu thematisieren. Über mangelhafte Berufsorientierung ist schon oft geklagt worden. Verändert hat sich wenig, z.B. in der Lehreraus- und fortbildung. Das ist überfällig. Das heute so gern thematisierte Stichwort Integration von Migranten hat hier auch eine Facette. Bisher sind die Lehrer ziemlich allein gelassen mit den Fragen multiethnischer Klassen. Und wo hat sich schon jemand Gedanken darüber gemacht, wie man Jugendliche darauf vorbereitet, dass sie ihr Arbeitsleben möglicherweise durch Eigenvermarktung ihrer Arbeitskraft bestreiten müssen? Es nützt ja nichts, die böse Welt zu beklagen. Die jungen Leute müssen in die Lage versetzt werden, aus ihrer schwierigen Situation wenigstens das Beste zu machen.

12.

Wir müssen aber noch an einer ganz anderen Stelle ansetzen, und uns fragen, was wir tun können, damit Menschen, die auf unqualifizierte Arbeit angewiesen sind, Möglichkeiten finden, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wir denken nicht ausgiebig genug darüber nach, was wir tun können, damit Potentiale für unqualifizierte Arbeit auch tatsächlich zu Arbeitsplätzen führen können, aus denen heraus man eine Existenz sichern und eine Familie unterhalten kann. Damit stellt sich nämlich eine Frage an uns alle: Müssen wir eigentlich wirklich so viel in Eigenarbeit machen, oder sollten wir nicht lieber einmal darüber nachdenken, ob und an welcher Stelle wir uns Dienstleistungen einkaufen, die wir im Prinzip auch selber machen können. Damit kein Missverständnis auftritt: Ich spreche nicht vom Einkauf von Schwarzarbeit oder Minijobs, sondern von sozialversicherungspflichtiger tarifgerecht entlohnter Arbeit. Statt über Kombilohnmodelle viel Geld in Strukturen zu stecken, die z.B. die Minderbewertung personaler Dienstleistung weiter zementieren, könnte man Förderstrukturen aufbauen bzw. ausweiten, die Arbeitsmärkte nicht verzerren und aus Niedriglohnjobs Tätigkeiten zu machen, von denen man zwar nicht fürstlich, aber vielleicht doch einigermaßen leben kann. Mit dem Modellversuch „AhA - Agenturen für haushaltsnahe Arbeit“ haben ich als Sozialministerin hier in Saarbrücken einen entsprechenden Ansatz entwickelt. Und das könnte eine Branche werden, die in Zukunft boomt. Denn die Nachfrage nach personengebundenen und haushaltsbezogenen Dienstleistungen wird steigen: das bringt die Alterung der Gesellschaft unausweichlich mit sich. Wir haben die Wahl, ob wir dafür prekäre Beschäftigung anbieten oder einen Dienstleistungsmarkt aufbauen, in dem Menschen eine berufliche Zukunft finden können. Und personenbezogene Dienstleistungen haben einen unschätzbaren Vorteil: Diese Arbeitsplätze wird niemand in andere Länder verlagern, es sei denn, wir verlagern die Kunden gleich mit.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Regina Görner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IGMetall

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