"Anschnallen und Abheben! Ehe – ein Zukunftsmodell
Rede von Prof. Dr. Gudrun Cyprian im Rahmen des Symposiums der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Kardinal,
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
Ehe und Familie sind wegen ihrer demographischen Bedeutung für die Entwicklung Deutschlands in den letzten Monaten zu einem umworbenen und heftig diskutierten Handlungsfeld der Bundes- und Landespolitik geworden. Bei der Sorge um die Institution und das Lebensmodell Ehe spielen die Zahlen der Bevölkerungsstatistik eine große Rolle: An ihr machen sich die Fragen fest, welche Prozesse sie hervorgebracht haben und ob die sich abbildenden Trends veränderbar sind.
Meine Analyse wird sich nicht darauf beziehen, welche Bedeutung der Staat, die Kirche, die Wirtschaft und die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme der Ehe zuschreiben, sondern ich setze an beim Verhalten der Männer und Frauen in Deutschland, ihrer Praxis und ihren Einstellungen gegenüber Ehe. Denn dieser privateste Bereich erweist sich nur begrenzt von außen steuerbar. Die Menschen versuchen die Lösungen zu leben, die sie als Passung zwischen ihren Bedürfnissen und Wünschen, sozialen Erwartungen und ihrem möglichen Handlungsraum wahrnehmen.
1. Was besagen die statistischen Daten?
• Steigendes Heiratsalter
Das Heiratsalter in Deutschland steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an: Bei den Eheschließungen im Jahr 2004 waren die ledigen Männer durchschnittlich 32.4 Jahre alt, die ledigen Frauen im Durchschnitt 29.4 Jahre.
• Sinken der Heiratsziffern, d.h. steigende Anzahl derjenigen die unverheiratet bleiben (in West-Deutschland vor allem Männer)
Zu Beginn des Jahres 2000 waren 18 Prozent der Männer und 11 Prozent der Frauen im Alter zwischen 40 und 44 Jahren unverheiratet. Allein seit 1991 ist dieser Anteil zwischen sechs (Männer) und sieben Prozent (Frauen) gestiegen. Die Demographen schätzen, dass in Westdeutschland 3 von 10 Männern aus der Geburtenkohorte 1960 und zwei von zehn Frauen desselben Geburtsjahrs nicht heiraten werden. (Für Ost-Deutschland werden die entsprechenden Zahlen bei 18 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen liegen).
Die wachsende Anzahl von Scheidungen hat die Ziffer der Wiederverheiratungen ansteigen lassen, obwohl relativ immer weniger Personen nach einer Scheidung oder Verwitwung eine zweite Ehe schließen. 61 Prozent der Frauen und 55 Prozent der Männer heiraten zurzeit nach einer Scheidung ein zweites Mal.
• Steigende Scheidungsziffern
Seit Mitte der 60er Jahre ist ein deutlicher Anstieg der Scheidungsziffern zu beobachten. Auf der Basis der heutigen Scheidungsziffern ist zu erwarten, dass 37 Prozent aller Ehen mit einer Scheidung enden. In jeder zweiten geschiedenen Ehe leben zur Zeit der Scheidung ein oder zwei minderjährige Kinder. Auffällig ist, dass die Scheidungsrate unter den länger verheirateten Paaren deutlich zunimmt.
• Deutlicher Anstieg der nichtehelichen Geburten, vor allem in Ost-Deutschland
Der Anteil der nichtehelichen Geburten verzeichnet seit den 60er Jahren einen deutlichen Aufwärtstrend. Aktuell kommen im Westen Deutschlands rund 20 % der Kinder nichtehelich zur Welt, in den neuen Bundesländern liegt der Anteil bei über 50 Prozent. Zwischen 30 und 50 Prozent dieser Geburten werden durch eine Eheschließung der Eltern nachträglich legitimiert. Der hohe Wert von nichtehelichen Geburten in den neuen Bundesländern erklärt sich also durch den hohen Anteil von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern. In nahezu jeder nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben ein oder mehrere Kinder.
• Sinken der Geburtenziffern
Zurzeit bleiben gut 20 Prozent der Frauen eines Jahrgangs kinderlos. Dies kann durch die geringe Zahl von Familien mit drei und mehr Kindern nicht ausgeglichen werden. Als Ergebnis zählt unsere Geburtenziffer mit 1.3 Kindern pro Frau derzeit zu den niedrigsten in Europa.
2. Eine erste Einordnung der Daten
• In die historische Entwicklung
Sinkende Zahlen von Eheschließungen, steigende Zahlen bei Ehescheidungen und allein erziehenden Müttern und Vätern und abnehmende Geburtenziffern sind globale Begleiterscheinungen der Entwicklung von Industrie- und Wohlfahrts-staaten. Die gegenwärtigen Zahlen zum Heirats- und Scheidungsverhalten erscheinen besonders dramatisch, wenn man sie mit den bundesdeutschen Ziffern der 60er Jahre vergleicht, wo ein phantastischer Heirats- und Geburtentrend eine demografische Ausnahmesituation schuf.
• In einen europäischen Vergleich
Deutschland liegt mit seiner Heiratshäufigkeit und mit dem Alter der ersten Heirat im europäischen Durchschnitt. Nur Dänemark und ein paar kleinere Länder haben deutlich höhere Heiratsziffern, Spanien und Finnland liegen nur etwas höher als Deutschland.
Auch bei den Scheidungsziffern liegt Deutschland nur leicht über dem europäischen Durchschnitt, obwohl hier die Unterschiede innerhalb Europas ziemlich groß sind. Selbst bei der durchschnittlichen Ehedauer zum Zeitpunkt der Scheidung mit 12 Jahren liegt Deutschland genau im Durchschnitt.
Es lohnt sich, die Frage nach den jüngsten Verhaltensveränderungen gegenüber Heirat und Ehe auf die beiden sensibelsten Phasen zu konzentrieren, den Beginn der Ehe und das mögliche Ende der Ehe durch Trennung oder Scheidung.
3. Gelten die Veränderungen der Institution Ehe oder der Lebensform längerfristige, monogame Partnerschaft?
Die geschilderten Trends lassen noch sehr unterschiedliche Deutungen zu, die empirisch geklärt werden müssen: Was passiert hier genau? Lassen sich junge Paare, die ihre Beziehung als verbindliche und langfristige Partnerschaft sehen, seltener und/oder später auf den Schritt zur Formalisierung ihrer Beziehung ein? Oder sind generell stabile Paarbeziehungen von unverbindlicheren Beziehungs-strukturen oder von singulären Lebensstilen abgelöst worden?
Die Antworten lassen sich vergleichsweise eindeutig benennen:
• Allein Leben nimmt in allen Altersgruppen zu, ist aber meistens nur eine „Übergangslösung“
Die Anzahl von Menschen im mittleren Erwachsenenalter, die nicht verheiratet sind und allein ohne Partner leben, nimmt ständig zu, vor allem unter Männern. Allerdings entspricht dieses allein Leben nur bei einer kleinen Minderheit einem expliziten Lebensstilkonzept, sondern dahinter steht meistens die Situation, dass das Ideal einer befriedigenden Partnerschaft sich bei diesen Menschen nicht bzw. noch nicht hat realisieren lassen. Das Leben als Single wird fast immer als Zwischen- und Übergangsphase verstanden, die hoffentlich (wieder) von einer (nächsten) Partnerschaftsbeziehung abgelöst wird. Diese Phase kann allerdings lang und länger werden, wenn sich kein passender neuer Partner findet oder zum Beispiel die Arbeitsbedingungen und beruflichen Umstände das Eingehen und Aufrechterhalten einer stabilen Paarbeziehung erschweren.
• Die Partnerschaftserfahrung nimmt zu
Charakteristisch für unsere Lebensläufe ist einmal geworden, dass der Prozess der Partnersuche eine längere Phase in Anspruch nimmt. Der erste Partner bleibt selten der letzte, sondern mehrere Partnerschaften nacheinander sind das normale Muster geworden. Dafür dürften die langen Ausbildungszeiten der jungen Generation, hohe Ansprüche an eine geglückte Partnerschaft und eine soziale Verlängerung der Jugendphase bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein verantwortlich sein. Das bedeutet, dass ein Leben als Single, ohne feste Partnerschaft, heute selten eine freiwillige, bewusst auf längere Zeit geplante Form ist.
• Nichteheliche Lebensgemeinschaften als biografischer „Joker“
Stattdessen hat sich mit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, dem Zusammenleben ohne Trauschein, eine Lebensform millionenfach etabliert, die von Soziologen etwas leger als „biografischer Joker“ bezeichnet wird. Damit wird beschrieben, dass diese Lebensform „gemeinsamer Haushalt, aber ohne Institutionalisierung durch Staat und Kirche“ heute für mehrere biografische Phasen als angemessene, am besten passende Lebensform gesehen wird: Einmal als Testzeit für eine Partnerschaft, wo die Mischung aus Nähe und wirtschaftlicher und sozialer Unabhängigkeit einen „Probelauf“ zwischen zwei Partnern mit offenem Ausgang erlaubt. Zum zweiten haben „Ehen ohne Trauschein“ die Verlobungszeit abgelöst, werden als Vorstufe zur beabsichtigen Eheschließung dazwischen geschaltet, um Ausbildungen abzuschließen, berufliche und materielle Sicherheiten zu schaffen und Entscheidungen für die weitere Zukunft reifen zu lassen. In einer dritten Funktion findet man die sog. Nichtehelichen Lebensgemeinschaften als nacheheliche Wohn- und Lebensform, wenn nach einer Trennung oder Scheidung eine neue Partnerschaft eingegangen wird, aber die Erfahrungen und die neuen Konstellationen, zum Beispiel als geschiedene Mutter mit Kind, eine nächste Eheschließung wenig empfehlenswert erscheinen lassen.
Der Anteil der Paare, die bewusst die nichteheliche Lebensgemeinschaft als Gegenentwurf zur Ehe leben, ist gering, liegt unter 10 Prozent. Und dabei lebten im Jahr 2003 in Deutschland ca. 2.1 Millionen unverheiratete Paare zusammen, von diesen 30 % mit Kindern. Nach den Daten des Mikrozensus leben 17 Prozent der Altersgruppen zwischen 25 und 29 Jahren und 13 Prozent derjenigen zwischen 30 und 34 Jahren in einer nicht verheirateten Partnerschaft. Das nichteheliche Zusammenleben ist in diesen Altersgruppen weit verbreitet und in den neuen Bundesländern ist der Anteil noch einmal jeweils ca. zehn Prozent höher. Die durchschnittliche Dauer dieser Phase beträgt zwischen zwei und fünf Jahren.
Ehen kommen heute also mehrheitlich auf einem anderen Weg zustande als noch in den siebziger oder achtziger Jahren: Er ist nicht gleich zu setzen mit der Entscheidung für eine verantwortliche, enge Partnerschaft - die fällt früher -, sondern mit einem rechtlichen und symbolischen Formwechsel.
Die Frage nach dem Zukunftsmodell Ehe wird sich deshalb als erstes auf Überlegungen konzentrieren müssen, wann und unter welchen Bedingungen Paare den Formwechsel von der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zur Ehe vollziehen.
Die meisten Ergebnisse, über die ich berichte, stammen aus dem Bamberger Ehepaar-Panel, einer Verlaufsstudie an 1500 deutschen Ehepaaren zwischen 1988 und 2003 und einer parallel geschalteten Studie über den Verlauf von nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Bayern.
4. Was sind Motive für die Eheschließung?
• Die Funktionen der Heirat
Romantische Liebe ist in Deutschland eine selbstverständliche Voraussetzung für die Eheschließung, aber keine ausreichende. Liebe ist vielmehr die Basis für eine Partnerschaft, unabhängig von der Form, in der sie gelebt wird. Für die Eheschließung müssen weitere Gründe dazukommen, die aus den Motiven junger Ehepaare herausgelesen werden können.
Die Heirat fungiert einmal als Ritual zur Bestätigung der Partnerschaft. Sie soll zwischen den Partnern Sicherheit und Klarheit herstellen und die Hoffnung auf eine dauerhafte Beziehung bekräftigen. Hier drückt sich der Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit aus.
Für viele, vor allem jüngere Menschen, stellt die Heirat ein Abgrenzungssymbol für den Übergang von der Herkunftsfamilie zu einer eigenen Ehe und Familie dar. Entscheidend ist hier die Demonstrationsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit. Der Austausch der Ringe, die Namenswahl der Eheleute und die neue Bezeichnung des in der Regel langjährigen Partners signalisieren den Wechsel. Mit der Heirat wird die Position als ernst zu nehmender Erwachsener unterstrichen.
Eine weitere Funktion erfüllt die Eheschließung mit der Befriedigung des Bedürfnisses nach ökonomischer und rechtlicher Absicherung. Die Ehe regelt als Rechtsinstitut Besitzverhältnisse und Erbangelegenheiten und garantiert die rentenmäßige Sicherung vor allem der Frau.
Am deutlichsten schält sich die Funktion der Sicherung des Rahmens für eine beabsichtigte Familiengründung heraus. In Deutschland heiraten viele Paare erst dann, wenn ein Kind geplant oder bereits unterwegs ist. Die Kopplung zwischen Ehe und Familie existiert also noch, wird aber insgesamt schwächer: Kinder sind auch ohne Ehe denkbar (vor allem in den neuen Bundesländern), Ehen bleiben in wachsendem Maße kinderlos.
• Typische Entscheidungsprozesse zur Eheschließung
In Deutschland kann man zurzeit vier idealtypische Muster von Entscheidungs-prozessen unterscheiden, die zur Ehe führen können:
1. Ehe und Heirat als kulturelle Selbstverständlichkeit: Bei diesem Typ besitzt die Ehe eine hohe Legitimität, so dass über eine mögliche Heirat kaum reflektiert wird. Sie ähnelt am stärksten dem tradierten Muster, aus dem Elternhaus möglichst direkt in eine eigene Ehe überzuwechseln. Diese Einstellung findet sich heute ausgeprägt nur noch im ländlichen Milieu in niedrigeren Statusgruppen.
2. Ehe und Heirat folgen einem rationalen Kalkül: Die Eheschließung ist eine unter mehreren Handlungsalternativen und die Entscheidung erfolgt auf der Basis von Kosten-Nutzen-Analysen. Dieses Muster ist am weitesten unter Paaren mit längerer Beziehungsdauer verbreitet.
3. Ehe und Heirat als spontane Entscheidung: Der Entschluss zur Heirat erfolgt relativ spontan auf affektiver Grundlage. Dieses Muster findet sich am häufigsten in jüngeren Altersgruppen oder passiert in einem kurzfristigen Schritt der Feinabstimmung der Partner, wenn schon seit längerer Zeit von einer grundsätzlichen beiderseitigen Heiratsneigung ausgegangen werden konnte.
4. Ehe und Heirat als ambivalente Entscheidung: Dieser Typ findet sich am häufigsten in gebildeten Kreisen und im städtisch-alternativen Milieu. Kennzeichnend für den länger andauernden Entscheidungsprozess sind Unsicherheiten und Ambivalenzen.
5. Warum verliert die Ehe an Geltung?: Das Verweigern bzw. zeitliche Hinausschieben der Ehe
Warum hat die Ehe an kultureller Selbstverständlichkeit verloren, ist nicht mehr die zwangsläufige Entscheidung eines Paares, das zusammen bleiben will?
Ich will die zentralen Faktoren nennen, einige näher ausführen.
• Eine allgemeine Deinstitutionalisierung und Relativierung normsetzender Instanzen
Das bürgerliche Ehe- und Familienmuster hat an Legitimität eingebüßt. Die Ehe wird zwar weiterhin als sinnvolle Einrichtung akzeptiert, aber nicht mehr als notwendige.
Die sozialen Normen und die damit verbundenen formellen und informellen Kontrollmechanismen, die das Monopol von Ehe und Familie gewährleistet haben, haben deutlich an Gewicht verloren. Immer mehr Gesetze heben die „Besserstellung“ der Ehe gegenüber anderen Partnerschaftsformen auf: das neue Unterhaltsrecht nach Trennung und Scheidung, das Gesetz zur Gleichstellung der nichtehelichen Kinder usw. Ein „Hineinregieren“ des Familienrechts in die Binnenbeziehung von Mann und Frau, z.B. im Hinblick auf die „empfohlene Arbeitsteilung oder die Entscheidungsgewalt – wie es in früheren BGB-Normen geschah -, würde mehrheitlich abgelehnt werden. Scheidung und Wiederheirat, nichteheliches Zusammenleben und Alleinleben gelten heute weithin als akzeptabel, sind ein Ausdruck für das gestiegene Bedürfnis, eine für sich passende Situation relativ unabhängig von Vorgaben zu finden. Fragt man beispielsweise junge Ehepaare nach ihren Heiratsmotiven, werden religiöse oder finanzielle Gründe von weniger als zehn Prozent angeführt.
Wenn aber eine Eheschließung nicht mehr als kulturelle Selbstverständlichkeit gilt, wird sie Gegenstand bewusster Planung, Überlegung und Entscheidung. Alternative Lebens- und Paarverläufe kommen ins Spiel, werden subjektiv geprüft und die jeweiligen individuellen und paarspezifischen Lebenssituationen und Einstellungen bestimmen dann, ob und wann der Schritt in die Ehe vollzogen wird.
• Veränderung der Biographie: Verlängerung der Phase gesellschaftlicher Integration als Erwachsener
In Deutschland verändern sich seit Jahren die Biografien im jungen Erwachsenenalter in einer charakteristischen Weise: Die langen Ausbildungszeiten, die das deutsche Bildungssystem kennzeichnen, und die immer schwieriger werdenden Suchprozesse am Arbeitsmarkt, die hohen Anforderungen für die ersten Jahre beruflicher Integration verlängern die post-adoleszente Phase und verschieben und verzögern weitere Statuspassagen in den Biografien. Für viele junge Erwachsene kommt eine Eheschließung oder gar Familiengründung unter unsicheren Bedingungen nicht in Frage. Das wird besonders deutlich, wenn man keine individuelle, sondern eine Paarbetrachtung wählt. Heute gilt nämlich für beide Partner, dass der erfolgreiche Berufseinstieg und für die Frau eine Mindestzeit der Berufserfahrung gegeben sein müssen, um weitere Schritte im privaten Lebensbereich zu wagen. Selbst wenn die Frauen erst vergleichsweise spät in den Beruf „einsteigen“ wie die meisten jungen Akademikerinnen, wird eine gewisse „Wartezeit“ bis zum Übergang in die Ehe und ganz besonders zur Mutterschaft eingehalten. Eine längere Zeit der beruflichen Konsolidierung gehört zu den heutigen biografischen Konstruktionen junger Frauen – ein neues Übergangsmuster, das eine außerordentlich hohe faktische Verbindlichkeit gewonnen hat und Eheschließungen zeitlich aufschiebt.
Mit den anvisierten Kürzungen der schulischen und universitären Ausbildungen könnte längerfristig hier eine zeitliche Entlastung erreicht und eine frühere Familienphase ermöglicht werden.
Als zweites Element auf der zeitlichen Dimension zählt die Wahrnehmung der jungen Frauen und Männer, dass in Deutschland alle zentralen biografischen Entscheidungen für einen erfolgreichen Lebenslauf sich auf das Jahrzehnt zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig konzentrieren. Die Festlegung auf den „Lebenspartner“, die Entwicklung einer krisenfesten Partnerschaft, die Gründung einer Familie, der Abschluss aller notwendigen Aus- und Weiterbildungen, der Einstieg in den Arbeitsmarkt, die Eroberung der wichtigsten beruflichen Startpositionen für einen erfolgreichen Berufsverlauf, die dafür notwendige Bereitschaft zu räumlicher Mobilität usw. Dieser „biografische Zeitdruck“ kommt einmal durch das ziemlich starre Laufbahnsystem zustande, das im mittleren Erwachsenenalter kaum mehr Korrekturen des Bildungs- und Berufsverlaufs erlaubt. Hier unterscheidet sich das deutsche Bildungs-, Berufs- und Erwerbssystem deutlich von vielen Nachbarstaaten. Und zum zweiten spielt hier die schon genannte enge Verweisung von Ehe und Familiengründung auf die berufliche, materielle und soziale Etablierung eine große Rolle. Zum Beispiel gilt es in unserem Land eher als verantwortungslos, bereits während des Studiums oder einer beruflichen Ausbildung ein Kind zu bekommen. Ein höheres Lebensalter und die damit unterstellte „Reife“ gelten hierzulande als Vorbedingung für Heirat und Kinder. Diese faktische Verdichtung und normative Kopplung von Ansprüchen aufzulösen sehen Sozialwissenschaftler als eine der wichtigsten zukünftigen gesellschaftlichen Aufgaben, um wieder mehr Familie in Deutschland zu ermöglichen.
• Die Schwächung des rechtlichen und materiellen Gewinns von Ehe
In die Entscheidung, ob und wann eine Paarbeziehung in eine Ehe „überführt“ wird, spielt die aktuelle Bilanz der Vorteile und Nachteile der verschiedenen Lebensformen hinein. Lohnt sich heute noch die staatliche Sanktionierung der Beziehung? Die rechtlichen Pluspunkte der Ehe gegenüber dem nichtehelichen Zusammenleben kommen vor allem in der Familiensituation, also dem zusammenleben mit Kindern, zum Tragen. Allerdings haben neue Rechtsnormen wie das Gesetz zur Gleichstellung der nichtehelichen Kinder, das gemeinsame Sorgerecht auch jenseits der Ehe und das neue Unterhaltsrecht den rechtlichen und materiellen Gewinn der Ehe für Eltern verringert. Die steuerliche Bevorzugung der Ehe kann ein Argument sein, beeinflusst aber selten die Entscheidung für eine Heirat wesentlich.
Diese Aspekte werden aber morgen Vormittag im Mittelpunkt des gemeinsamen Nachdenkens stehen.
• Der sinkende Kinderwunsch
Den Weg in die Ehe wird sehr oft vom Kinderwunsch geebnet. Je aktueller er für beide Partner ist, umso schneller fällt die Entscheidung für die Heirat. Vor allem aber gilt die Umkehrung: Wer keine Kinder möchte, bleibt auch oft ohne Trauschein. Bei mehr als 40 % der dauerhaften Nichtehelichen Lebensgemeinschaften, die auch nach sieben Jahren noch unverheiratet geblieben sind, fehlt es an Familienambitionen. Darunter befinden sich 30 Prozent, bei denen sogar beide Partner angeben, keine Kinder bekommen zu wollen. Da wir aus den Verlaufsuntersuchungen wissen, dass sowohl hinsichtlich einer grundsätzlichen Heiratsneigung wie auch im Kinderwunsch der ablehnende Partner nur in Ausnahmefällen umgestimmt wird, ist nicht damit zu rechnen, dass weit mehr als die Hälfte dieser Paare noch den Weg in Ehe und Familie einschlagen werden. In dieser Gruppe findet man einerseits Paare mit einer langen Berufsintegration beider Partner, mit hohem Einkommen, fehlender religiöser Bindung und extravertierten Lebensstilen. Und man findet unter ihnen einen hohen Anteil von Akademiker-Paaren mit eher geringen Einkommensunterschieden zwischen Mann und Frau sowie ökonomisch unabhängige Partner.
Hier wird deutlich, dass Paare, die über mehrere Jahre in ihrem Binnenverhältnis vergleichsweise viel Egalität verwirklichen konnten, die in Deutschland übliche radikale Veränderung dieser Gleichheit nach der Geburt eines Kindes als wenig attraktiv ansehen. Die Arbeitsteilung wird nach allen Erfahrungen nach der Familiengründung wieder klassisch traditionell, die Frau verliert ihre ökonomische Unabhängigkeit und den Lebensbereich Beruf. Das Risiko, mit dieser Veränderung die Balance zwischen den Partnern zu verschieben, die Ehezufriedenheit zu gefährden und sich auf einen völlig veränderten Lebensstil einstellen zu müssen, ist einer wachsenden Gruppe von Paaren zu hoch. Von daher ist festzustellen, dass mit sinkendem Kinderwunsch die Ehe eine wichtige Funktion zu verlieren scheint.
6. Die steigende Instabilität von Ehen
Die Abnahme der Ehestabilität wird wie die sinkenden Heiratsziffern als Beleg für die geringer gewordenen Chancen dieser Lebensform für die Zukunft genommen. Aber auch die steigenden Scheidungsziffern müssen differenzierter analysiert werden, bevor ein Urteil möglich ist.
Als erstes sind die Faktoren zu benennen, die die subjektiv wahrgenommene Ehequalität bestimmen, dann auf die Bedingungen zu schauen, welche die Ehestabilität beeinflussen und dann ist zu prüfen, welche Faktoren dazukommen müssen, um eine als wacklig empfundene Ehe vor das Scheidungsgericht zu bringen oder sie dennoch weiterzuführen.
6.1 Welche Faktoren beeinflussen die subjektive Ehequalität?
Hier sind drei Faktoren zu nennen, die sich in der Forschung als zentral erwiesen haben:
• Die beiderseitige Zufriedenheit mit dem realisierten Lebensstil, mit der Ähnlichkeit der Interessen und Sichtweisen, mit den sozialen, wirtschaftlichen und personalen Ressourcen, die dem Paar zur Verfügung stehen.
Arbeitsplatzunsicherheit, geringe Berufsmöglichkeiten für die Frau können hier – neben individuellen Faktoren – aktuelle Belastungen ausmachen.
• Die Zufriedenheit mit dem Beziehungsgewinn aus der ehelichen Interaktion. Beurteilen die Partner den Einsatz beider für die Ehe als ausgeglichen und fair? Wie wird die gegenseitige Aufmerksamkeit für die Besonderheit und die Wünsche des anderen und die wechselseitige Kommunikation gewertet? Auch diese entscheidenden Kriterien können sich durch endogene wie exogene Faktoren verändern, z.B. durch die mit der Vertrautheit abnehmende Attraktivität oder durch berufliche Belastungen, welche den Beziehungsgewinn beider Partner senken können.
• Die Zufriedenheit mit der Organisation der Beziehung, mit der Arbeitsteilung und den vereinbarten Regeln für den gemeinsamen Alltag. Hier liegt ein hohes Risiko in der gewachsenen Unzufriedenheit einer großen Gruppe von Frauen (und übrigens auch der zunehmenden Unzufriedenheit von Männern) mit der praktizierten Arbeitsteilung in Beruf, Familie und Haushalt.
6.2 Welche Faktoren kommen für die wahrgenommene Ehestabilität dazu?
Auch wenn die Ehequalität nicht den Erwartungen eines oder beider Partner entsprechen sollte, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die Ehe als gefährdet angesehen wird. Auch auf diesen Zusammenhang wirken mehrere Faktoren ein:
• Die Investitionen in die Ehe
Ein wichtiger Faktor des Zusammenhalts trotz vergangenen oder kurzfristig gefährdeten Eheglücks sind die getätigten Investitionen in die Familie wie die Entscheidung für Kinder, gemeinsames Wohneigentum, gemeinsam getätigte Anschaffungen oder Anstrengungen für ein gemeinsames Geschäft usw. Der subjektive Wert dieser Investitionen ist ein spezifisches Kapital, das man nicht entwertet sehen will.
• Die Verfügbarkeit und Attraktivität von Alternativen
Die Ehestabilität hängt in hohem Maße davon ab, welche Alternativen zu seiner Ehe der zweifelnde Partner sieht und wie er sie bewertet. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert: Die Erwerbstätigkeit der Frau macht sie finanziell und sozial unabhängiger vom Partner, allein zu leben ist nicht mehr nur eine schreckliche Isolations- und Armutsfalle, sondern eine lebbare „zweitbeste“ Lösung. Und mit steigenden Scheidungsziffern wächst natürlich die Anzahl von Männern und Frauen, die als potenzielle Partner zur Verfügung stehen. Nach einer Trennung ist Einsamkeit kein zwangsläufiges soziales Schicksal mehr.
• Das „framing“ der Ehe: die mentalen Modelle zu Ehe
Die genannten Faktoren werden von den subjektiven Wahrnehmungen der beiden Partner gesteuert. Wie die Deutungen zum Beziehungsgewinn, dem Ausgleich von Investitionen usw. ausfallen, hängt in hohem Maße davon ab, welche institutionellen, kulturellen und emotionalen Rahmungen die beiden ihrer Ehe von Anfang an geben. Folgen sie „bedingungslos“ gewissen kulturellen Vorgaben und sehen sie ihre Beziehung von Beginn an als „unverbrüchliche Einheit“, als krisenfeste Gemeinschaft, als perfekte Passung zweier Partner, dann ist auch die Bindung an den Partner „fraglos“. Kosten und Risiken der Investitionen, nachlassende Aufmerksamkeiten, Anpassungen, alternative Anreize werden dann komplett ausgeblendet. Erst im Falle einer deutlichen Störung des mentalen Rahmens, etwa durch unerwartete und nicht zum Modell passende Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Partners, werden die Wahrnehmungen und Deutungen der Beziehung aktiviert. Die zweifelnde Reflexion – oft als Krise erlebt – hat zwei wichtige folgen: einerseits werden geplante spezifische Investitionen doch nicht verwirklicht und andererseits werden prophylaktische Maßnahmen für den Fall des wirklichen Zerbrechens der Beziehung getroffen, wie das Schließen von Eheverträgen, die Aufnahme oder Ausweitung einer Erwerbstätigkeit (bei den Frauen) oder die Suche nach emotionaler Unterstützung außerhalb und die verstärkte Pflege eigener sozialer Netzwerke. Beides verstärkt die Tendenz zur De-Stabilisierung weiter.
6.3 Die Entscheidung zur Trennung
Selbst eine instabile Ehe muss nicht zwangsläufig in einer Scheidung enden. In der Verlaufsuntersuchung von deutschen Ehepaaren seit 1988 haben in der letzten Befragungswelle von den dauerhaften Paaren mehr als 20 Prozent zugegeben, dass sie manchmal oder öfters Scheidungsgedanken haben. In dieser Phase wirken wiederum mehrere Faktoren ein:
• Die wahrgenommenen Trennungs- und Scheidungskosten
Dazu zählen in erster Linie nicht die finanziellen Folgen, sondern die sozialen und emotionalen Kosten, die mit einer Scheidung für sich, den Partner, die Kinder und das nahe Umfeld verbunden sind. Das Scheidungsrecht und die weitgehende Entstigmatisierung von Scheidung haben hier zumindest die sozialen Lasten verringert. Und hier wird auch erklärlich, dass Scheidungen hoch mit der Kinderzahl korrelieren.
• Der externe soziale Druck
Je nach dem Grad der sozialen Einbettung des Paares und den Einstellungen in ihrem sozialen Umfeld werden die beiden Partner „beraten“ und beeinflusst.
7. Wie steht es also um die Zukunft der Ehe?
Aus soziologischer Sicht scheint Ehe weiterhin zentrale Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Es gibt keinen Trend der Abkehr von langfristig gedachten, verbindlichen und verantwortungsvollen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Allerdings werden diese Partnerschaften nicht mehr zwangsläufig in allen biografischen Phasen in der Form der Ehe gelebt. Ziemlich fest hat sich zum Beispiel das nichteheliche Zusammenleben als eine vorgeschaltete Phase etabliert. Und man muss sehen, dass dieses Zusammenleben, je länger es dauert, umso unwahrscheinlicher in eine noch folgende Eheschließung mündet. Wichtig für die Bewertung dieser Entwicklung ist das sozialwissenschaftliche Forschungsergebnis, dass sich Ehen in ihrem Binnenverhältnis nur wenig von den nicht institutionalisierten Partnerschaften unterscheiden – jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes. Die Vorstellungen von Treue, Gleichheit, Arbeitsteilung, Erfolgsfaktoren für die Partnerschaft sind sehr ähnlich.
Die Ehe wird in einigen sozialen Milieus aus sehr unterschiedlichen Gründen an Chancen verlieren. Vertraut ist der Zusammenhang zwischen hoher Bildung, qualifizierter Erwerbstätigkeit der Frau und geringerer Heiratsneigung. Immer mehr verbreitet sich gerade eine andere Entwicklung zu erfahren: Das derzeitige sinkende Arbeitseinkommen , vor allem gering qualifizierter Männer, und die hohe Arbeitslosenquote wird die Heiratschancen dieser materiell prekär lebenden Männer deutlich verringern – weil hier die Männer gerade den Anforderungen eines traditionelles Ehebildes mit einem versorgenden Ehemann nicht erfüllen können.
Und wichtig ist, nicht die gestiegene berufliche Orientierung der Frauen zum Ehe gefährdenden Risiko zu machen – es sind in höherem Maße in Deutschland die Männer, die Heirat und Familiengründung aufschieben wollen und der Kinderwunsch von Männern liegt in Deutschland seit einigen Jahren deutlich niedriger als der von Frauen.
Ehe wird wahrscheinlich stärker als bisher an bestimmte biografische Bedingungen wie schwierige berufliche Integrationsprozesse, an soziale Lagen und kulturelle Milieus gebunden werden. Sexuelle Treue wird in allen verbindlicheren Partnerschaften als wichtige Voraussetzung empfunden, allerdings häufig vergleichsweise pragmatisch begründet: „Es lohne sich nicht, eine feste Partnerschaft zu gefährden“.
Andererseits werden Männer und Frauen trotz ihrer Hoffnungen auf eine langfristige Beziehung enttäuschende Ehebeziehungen weiterhin lösen wollen – ohne staatlichen Eingriffen oder kirchlichen Normen viel Einfluss einzuräumen.
Und dann fällt auf, dass der enge kirchliche Verweisungszusammenhang zwischen Ehe und Familie zwar grundsätzlich akzeptiert wird, aber unter mehreren Aspekten in der Realität gelockert wird. Beide Systeme – Partnerschaft und Elternschaft – werden als eigene Bereiche mit unterschiedlichen Erwartungen, Erfahrungen und Erfolgsbedingungen wahrgenommen. Und Soziologen würden sagen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Nachbarn eher eine Aufwertung von Familie als von Ehe nötig hat.
Prof. Dr. Gudrun Cyprian