Lernen und Arbeiten im Lebenslauf – Teilhabefördernde Bildungspolitik als Aufgabe des Sozialstaates
Einführung von Heinz-Wilhelm Brockmann im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
TOP 2.
Redemanuskript:
Es gilt das gesprochene Wort
Wer Bildung meint, darf nicht einfach von Schule und Schulstrukturen sprechen, von Universitäten und Abschlüssen oder von den Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Wer soziale Gerechtigkeit meint, sollte nicht einfach die Sozialsysteme in den Blick nehmen, eine Verteilungsgerechtigkeit einfordern und sozialen Ausgleich verlangen.
So wie vor einigen Jahren mit dem Stichwort „Neue soziale Frage“ gefordert worden war, dass Sozialpolitik genauer hinsehen und analysieren müsse, wo Menschen aufgrund welcher Lage in Not geraten oder bedürftig sind und die Fürsorge der Gemeinschaft brauchen, so muss heute die Bildungspolitik genauer hinsehen, wo im Leben von Menschen Bildungschancen verloren gehen oder gar nicht entdeckt werden, wo Menschen jeden Alters zu Opfern falscher oder fehlender Bildungsangebote werden und ein ganzes Leben deswegen ohne persönliche Perspektiven bleiben.
Da sind Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, fast 10 % eines Jahrgangs, die später zu 80 % unter den Langzeitarbeitslosen zu finden sein werden. Da sind Kinder in der Grundschule ohne ausreichende Sprachkompetenz, die darum auch andere intellektuelle Fähigkeiten nicht entwickeln können. Da sind Menschen in längerer Arbeitslosigkeit, die für einen erneuten Anschluss an einen Beruf und an ihre Gesellschaft dringend berufliche Fortbildung und persönlich menschliche Stabilisierung bräuchten.
Wer sich mit solchen verlorenen Bildungschancen und deren menschlichen Verlierern beschäftigt, entdeckt schnell, dass sie über kurz oder lang der sozialen Fürsorge der Gemeinschaft anheim gestellt werden. Positiv gesagt: Gelungene Bildung und in diesem Sinne erfolgreiche Bildungspolitik, die Menschen Zugang zu dem hohen Gut Bildung vermittelt, das über Lebenschancen wesentlich mitentscheidet, ist zugleich soziale Fürsorge, vorausschauend und konstruktiv, langfristig und sehr persönlich. In diesem Sinn wird der Übergang von Bildungspolitik und Sozialpolitik fließend, wie in unserem Papier aus dem Armutsbericht der Bundesregierung von 2005 zitiert: „Bildungspolitik, die der nachwachsenden Generation die erfolgreiche Gestaltung von Bildungskarrieren sowie einen guten Start in die Berufstätigkeit eröffnet und die den Älteren die Möglichkeit bietet, Versäumtes nachzuholen und Neues hinzuzulernen, ist … aktive und teilhabefördernde Sozialpolitik.“
So Bildungspolitik und Sozialpolitik zusammenzubinden, das ist mehr als nur eine begriffliche Veränderung. Beide Politikbereiche erhalten dadurch einen deutlich anderen Akzent. Manchmal kann soziale Fürsorge eine umfassende, sogar bevormundende Fürsorge des Staates für seine Bürgerinnen und Bürger sein. Wenn sie aber das Mittel der Bildung und Weiterbildung einsetzt, um Menschen, „ein Stück weiterzubringen“, ist das, wie es in unserem Papier heißt, eine „Solidaritätszusage an die Ärmsten und Schwächsten“ verbunden mit der „leistungsbezogenen Anforderung“ an alle. Solche soziale Fürsorge eröffnet Chancen und verlangt zugleich immer das Mittun, die Mitverantwortung und Mitgestaltung des Einzelnen für seine Lebenschancen nach seinem oder ihrem Vermögen. Denn Lernen und Bildung gelingen nie gegen jemanden oder auch nur ohne ihn oder sie. Und Bildung ist dann nicht nur die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, sondern sie kann nur dann als erfolgreich gelten, wenn dadurch konkrete Chancen von Menschen erhöht werden, die Teilhabe an Aufstieg und Lebensperspektiven, an gesellschaftlicher Mitwirkung und persönliches Glück.
Das Papier des ZdK versucht zu zeigen, dass beide Bereiche der Politik besser werden, wenn sie miteinander verbunden sind, Bildungspolitik und Sozialpolitik. Dabei macht unser Papier deutlich, dass eine am christlichen Menschenbild orientierte Bildungspolitik wie Sozialpolitik immer auch Eigeninitiative und Selbstverantwortung aller im Blick haben und stärken muss. Was für die Bildungspolitiker selbstverständlich ist, dass Bildung nicht gelingt, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sich nicht auch selbst als ihres Glückes Schmied verstehen und verstehen können, gilt auch für soziale Fürsorge. Darum hat unser Papier nach den erläuternden Abschnitten 1-3 auch nicht einfach Forderungen an andere, besonders an die Politik aufgestellt, sondern es spricht von der gemeinsamen Verantwortung vieler, der Verantwortung jedes einzelnen für sein Leben und seinen Lebensweg, der Verantwortung von gesellschaftlichen Gruppen, wie auch den Kirchen, für eine bestimmte Art von Hilfe etwa bei Bildung und Weiterbildung, die sie aufgrund ihrer Einstellung und ihres Ansatzes am besten zu leisten vermögen, und natürlich von der Verantwortung staatlichen Handelns bei der Organisation der großen Sozialsysteme wie der Bildung und der Bildungspolitik.
Bildung, die Startchancen vergrößert, Prozesse der Qualifizierung ermöglicht und genau be-obachtet, die Teilhabemöglichkeiten von Eltern, Schülern, Studierenden, Älterwerdenden, Arbeitslosen wie in Arbeit Befindlichen an der für sie angemessenen Bildung und Fortbildung erhöht, solche Bildung mischt sich zugleich in die inhaltliche Gestaltung ein. Es geht ihr, wie es in unserem Papier heißt „um die Verantwortung für die eigene Lebensführung aber auch um die Verantwortung für Dritte“, um die „Verantwortung für das Gemeinwohl, um solidarische Leistungsbereitschaft“. (Zeile 98 f). Damit geht es solcher Bildung nicht nur um die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen sondern letztlich um die Orientierung an Werten.
Das Papier versucht im ersten Abschnitt deutlich zu machen, wie nahe Bildung und soziale Fürsorge, Bildungs- und Sozialpolitik miteinander verbunden sind. Dies wird an konkreten menschlichen Situationen deutlich gemacht, die aus sich sprechen. Der zweite Abschnitt versucht, die Sozialpolitik zu beschreiben, die nicht nur zuteilt sondern im Kern Chancen eröffnen will. Im dritten Abschnitt wird dann dargelegt, was daraus für die Bildungspolitik folgt. Im vierten Abschnitt versuchen wir, in einigen Konkretionen diesen Ansatz der Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik deutlich zu machen. Ein wenig ist dies zunächst an den Lebensphasen entlang beschrieben: an der Familie, der Schule, die zugleich schon die Kultur lebenslangen Lernens in den heranwachsenden Kindern und Jugendlichen bewusst machen muss, an der besonderen Drucksituation jugendlicher Arbeitslosigkeit und den Phasen des Lebens, in denen Menschen Weiterbildungschancen nützen können und nutzen müssen, um für sich berufliche Teilhabe zu vergrößern oder bei Arbeitslosigkeit solche erst zu eröffnen.
Für mein Empfinden greift unser Papier ein Thema auf, dass seit einiger Zeit stärker in den Vordergrund politischer Diskussionen gerückt ist. Die Verbindung von Bildungs- und Sozialpolitik, die, wie ich hoffe, in unserem Papier in einigen Feldern konkret beschrieben und definiert wird, ist nach meiner Überzeugung für beide eine große Chance. So verstanden, diskutieren wir nicht zuerst über Systeme, sondern über konkrete Menschen und deren Lebensverläufe oder Lebensbrüche, über Verantwortung einzelner wie von Gruppen und über Chancen, die sich auch durch eigene Aktivitäten eröffnen können. Wäre das nicht eine wirkliche Befreiung für manche bildungspolitische und sozialpolitische Diskussion und eine Hoffnung auf konkrete Veränderungen?
Heinz-Wilhelm Brockmann