Bildung – um der Freiheit willen

Rede von Dr. Annette Schavan im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

TOP 2.
Redemanuskript:
Es gilt das gesprochene Wort


Bildung ist der Schlüssel für individuelle Lebenschancen und kulturelle Teilhabe; Fundament für den Zusammenhalt und die soziale Entwicklung unserer Gesellschaft; Motor für Entwicklung und Innovation. Bildung ist die Quelle unseres künftigen Wohlstands.

Internationale Vergleichsstudien haben uns in den vergangenen Jahren vor Augen geführt, dass das Bildungssystem in Deutschland internationalen Maßstäben noch nicht gerecht wird und die vorhandenen Begabungspotenziale nur unzureichend hebt. Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist in Deutschland überdurchschnittlich ausgeprägt. Der Anspruch an die tiefgreifendste Reformgeschichte unseres Bildungssystems seit Jahrzehnten steht von daher unter einem doppelten Anspruch: Die Qualität der Bildung muss besser und der Zugang zur Bildung unabhängig von sozialer Herkunft für alle möglich werden.

Besorgnis erregend ist vor allem die hohe Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss bzw. mit nicht ausreichender Ausbildungsreife die Schule verlassen. 27 Prozent der Arbeitslosen verfügen über keine Berufsqualifikation. Diese Zahl weist darauf hin, dass Zukunftschancen der jungen Generation gefährdet sind, wenn das Bildungssystem nicht genügend Möglichkeiten zur Bildung und Qualifizierung anbietet. Von daher stimmt die Aussage, wonach Bildungspolitik die soziale Frage der Gegenwart ist.

Bildung ist dabei in einem ganzheitlichen Sinne zu verstehen: Persönlichkeitsbildung, Charakterbildung, Werteerziehung gehören dazu ebenso wie jener Kompetenzerwerb, der zu ausreichender Qualifikation im Blick auf eine spätere Berufsausbildung oder ein Studium notwendig ist. Bildung und Erziehung sind zwei Seiten der einen Medaille. Verständigung über Erziehung bedarf der Beschäftigung mit grundlegenden Werten, die zum Zusammenhalt in einer Gesellschaft und zu kultureller Verständigung beitragen.

Vor allen Reformen in unseren Schulen muss die Überzeugung stehen, dass unsere Gesellschaft die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer stärker anerkennen muss. Schule braucht die Unterstützung ihrer schwierigen Arbeit in einer Gesellschaft, die Kindern und Jugendlichen viel Ablenkung ermöglicht. Schule steht in Konkurrenz zu unruhigen kindlichen Lebenswelten. Konzentration als Voraussetzung für Lernen und Leistung ist latent gefährdet. Ohne die Akzeptanz schulischer Arbeit, ohne die Stärkung von Konzentration, ohne die Akzeptanz von Lern- und Leistungsbereitschaft wird die Reformgeschichte nicht zu den Erfolgen führen, die alle erwarten.

Der Stellenwert von Bildung und Erziehung in unserer Gesellschaft ist letztlich eine kulturelle Frage, die über unsere Zukunfts- und Innovationsfähigkeit ebenso entscheidet wie über das Selbstbewusstsein und die innere Festigkeit künftiger Generationen.

Zu den Reformschritten:

1. Bildung beginnt nicht erst in der Schule. Entwicklungspsychologie und Hirnforschung haben uns in den vergangenen Jahren deutlich darauf hingewiesen, dass die frühkindliche Bildung in Deutschland nicht genügend ernst genommen wird. Die Kultusministerkonferenz hat deshalb bereits vor einiger Zeit den Rahmenplan zur Stärkung des Bildungsauftrags der Kindergärten verabschiedet. Das Alter zwischen drei und sechs Jahren muss stärker genutzt werden, um die Neugierde der Kinder zu wecken und ihre Lernbereitschaft in diesem Alter zu stärken. Das gilt für den Erwerb der Sprachkompetenz in besonderer Weise. Sprache ist der Schlüssel zur Bildung. Kein Kind darf den ersten Schultag erleben, ohne altersgerecht mit der deutschen Sprache umzugehen. Das gilt ebenso für den Zugang zu Naturphänomenen, für musische Erziehung und Bewegungserziehung, für religiöse Bildung und die Entwicklung jener Grundhaltungen, die Kindern Konzentration ermöglichen. Das Zusammenwirken der Erzieherinnen und der Eltern ist gerade in diesem Alter besonders wichtig. Die Zusammenarbeit zwischen Kindergärten und Grundschulen im Übergang von der Kindergartenzeit in die Grundschulzeit gewinnt an Bedeutung. Der Schulanfang auf neuen Wegen soll dazu beitragen, dass mehr Flexibilität am Schulbeginn möglich wird. Zu viele Kinder sind in der Vergangenheit zu spät eingeschult worden. Begabungspotenziale liegen brach. Die Quelle für Chancenungerechtigkeit durch den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg liegt in den frühen Jahren. Hier muss besonders angesetzt werden, um diesen engen Zusammenhang aufzubrechen.

2. Die Grundschule legt ein Fundament für den weiteren Weg in der Schulzeit. Defizite, die in den ersten Jahren entstehen, werden später kaum noch ausgeglichen. Deshalb ist die individuelle Förderung der Kinder angesichts großer Heterogenität im Blick auf Ausgangsbedingungen zu verstärken. Das bedeutet auch, dass neben dem Jahrgangsprinzip jahrgangsübergreifendes Lernen an Bedeutung gewinnt. In der Grundschule entscheidet sich viel über das Vertrauen der Eltern in die Schule und die Lernbereitschaft der Kinder.

3. Nach der Veröffentlichung jeder internationalen Vergleichsstudie ist in Deutschland die Frage nach Schulstrukturen neu gestellt worden. Die allermeisten Bildungsforscher weisen uns darauf hin, dass die Strukturfrage nicht im Vordergrund stehen darf. Ein leistungsgerechtes Bildungssystem muss durchlässig sein. Die Entscheidung nach Klasse vier darf nicht bereits die Entscheidung für einen bestimmten Schulabschluss sein. Sie ist die Entscheidung für ein spezifisches Bildungskonzept. Die guten Ergebnisse in Bayern zeigen, dass ein Erfolgsfaktor auch darin liegt, keine Schulart zu einem Verlierermilieu zu machen. Überall braucht es Spitzen, die das Leistungsniveau und die Qualität insgesamt gewährleisten. Auf jeden Abschluss muss ein Anschluss an die nächste Bildungsphase möglich sein. Deshalb sollten wir uns verabschieden von der Vorstellung, dass andere Schulstrukturen zu besseren Ergebnissen und mehr Gerechtigkeit führen. Die Pisa-Studien haben für Deutschland klar gezeigt, dass dort, wo Gesamtschulen existieren, weder mehr Leistung noch mehr Gerechtigkeit festzustellen sind. Wir müssen uns konzentrieren auf die Prozesse der inneren Schulentwicklung und Qualitätssicherung. Wir brauchen mehr Vergleichbarkeit und die Evaluation schulischer Leistungen. Deshalb war es richtig, dass die Kultusministerkonferenz Bildungsstandards für alle sechzehn Länder vereinbart haben, und deshalb ist es richtig, dass immer mehr Länder zu vergleichbaren zentralen Prüfungen übergehen.

4. Die neueste Pisa-Studie hat gezeigt, dass nach wie vor ein großes Nord-Süd-Gefälle im Blick auf schulische Leistungen besteht. Der Unterschied ist inakzeptabel. Dass es auch anders geht, zeigt die Entwicklung in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Sachsen und Thüringen gehören mit Bayern und Baden-Württemberg zur Spitzengruppe in Deutschland und liegen deutlich über dem OECD-Schnitt. Sachsen-Anhalt hat in kurzer Zeit eine enorme Entwicklung zu verzeichnen. Das sollte alle Beteiligten ermuntern. Die konsequente Umsetzung der Bildungsstandards, die Einführung der Evaluation und die Entwicklung hin zu einer überzeugenden Lehrerbildung ist mit der großen Chance verbunden, dass weitere Verbesserungen erzielt werden. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass bereits bei künftigen internationalen Vergleichsstudien erkennbar werden wird, dass die Leistung der Schulen in immer mehr Ländern in Deutschland besser wird und über dem OECD-Schnitt liegen kann. Die Reformbemühungen müssen konsequent fortgesetzt werden. Im Mittelpunkt steht die Qualität des Unterrichtes.

5. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen: Schule wird nicht besser, wenn der Rest der Gesellschaft ausschließlich über ihre Schwächen spricht. Wir brauchen in Deutschland mehr Aufmerksamkeit für Talente und Originalität, für Lern- und Leistungsbereitschaft, für die Neugierde von Kindern und Jugendlichen. Wir brauchen einen besseren Blick auf die Leistungen unserer Schulen und der dort wirkenden Lehrerinnen und Lehrer. Voraussetzung für gute Bildung ist die Bereitschaft zur Erziehung. Kinder haben einen Anspruch auf Erziehung. Nur so wird es ihnen möglich, zu jenem Selbstbewusstsein und jener Orientierung zu kommen, die ihnen erfolgreiches Lernen ermöglicht. Lehrer und Lehrerinnen dürfen nicht alleine gelassen werden.

6. Die zentrale Erwartung an ein leistungsfähiges und gerechtes Bildungssystem ist: Niemand darf zum Modernisierungsverlierer werden und keiner soll seine Talente verstecken müssen. Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung gehören zusammen. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Mehr individuelle Förderung ist im Blick auf beide Zielgruppen unerlässlich. In den kommenden Jahren werden Bund und Länder sich verstärkt mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir die Gruppe der benachteiligten, schulschwachen Jugendlichen besser fördern können. Dazu sind Bündnisse über die Schulen hinaus notwendig – Bündnisse zwischen Schule, Wirtschaft und Kultur. Der Film „Rhythm is it“ zeigt, was möglich ist, wenn Jugendlichen Vertrauen in die eigenen Kräfte vermittelt wird. Die Berliner Philharmoniker haben mit 250 Jugendlichen aus sozialen Brennpunktschulen in Berlin gearbeitet und sind zu enormen Erfolgen gekommen, die in den Schulen vorher kaum vorstellbar waren. Dieses Beispiel sollte ermutigend wirken, Jugendliche nicht aufzugeben, weil sie im klassischen Schulmilieu ohne Erfolg bleiben. Ebenso gilt: Wir müssen zur Begabtenförderung stehen. Deutschland braucht Eliten. Eine freiheitlich demokratische Gesellschaft setzt auf Elitenbildung, unabhängig von sozialer Herkunft. Unser Bildungssystem und unsere Wissenschaftseinrichtungen müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass junge Leistungsträger in Deutschland die Chance erhalten, ihre herausragenden Talente zu entfalten und einzusetzen. Deshalb sage ich auch ausdrücklich im Blick auf die Arbeit der Bundesregierung: Mir wird die Arbeit unserer Begabtenförderwerke in Deutschland wichtig sein. Sie sind die Partner unserer Hochschulen in der Begleitung herausragender Talente.

7. Zu den Stärken des deutschen Bildungssystems gehört die berufliche Bildung. Ihr Herzstück ist die duale Ausbildung – die Partnerschaft zwischen Schule und Unternehmen. Der „Pakt für Ausbildung“ kann auch in den kommenden Jahren ein geeignetes Instrument sein, um neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir mehr Betriebe dazu ermutigen, Ausbildungsplätze zu schaffen. Auch hier muss Bürokratieabbau möglich werden und eine gute Balance zwischen der Zeit, in der Jugendliche im Betrieb sind und den Bildungsangeboten in den Schulen. Zwei Drittel aller Jugendlichen durchlaufen in Deutschland einen Weg durch die berufliche Bildung. Deshalb ist dieser Teil unseres Bildungssystems für die Zukunftschancen der jungen Generation zentral bedeutsam. Wir wissen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Ausbildungsmarkt und Arbeitsmarkt gibt. Deshalb sind alle Maßnahmen zur Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt wichtig für die Verbesserung des Ausbildungsmarktes. Stagnation in der Wirtschaft bedeutet immer auch Stagnation auf dem Ausbildungsmarkt mit Blick auf die Zahl der zur Verfügung gestellten Ausbildungsplätze. Gerade jene Jugendlichen, die sich in der Schule schwer tun, erhalten nicht selten über ein anderes Lernmilieu im Ausbildungsbetrieb neue Motivation. Deshalb hilft diesen Jugendlichen nicht immer mehr Schule. Ihnen hilft der Einstieg in die duale Berufsausbildung. Zugleich gilt, dass in der beruflichen Bildung in Deutschland in vielen Ländern auch berufliche Vollzeitschulen dazu beitragen, dass in diesem Bereich hoch qualifizierte Bildungsabschlüsse möglich sind. Der Prozentsatz der Abschlüsse in der Sekundarstufe II liegt in Deutschland bei 84 % - im Vergleich sind es in der OECD durchschnittlich 62 %. Auch daran wird die Bedeutung der beruflichen Bildung für den Anteil Hochqualifizierter sichtbar. Schließlich müssen wir in den nächsten Jahren erreichen, dass die Zahl der gestuften Ausbildungsgänge weiter erhöht wird. Sie bieten den schulschwachen Jugendlichen einen guten Einstieg in eine berufliche Ausbildung. Dann wird wichtig sein, dass Erstausbildung und Weiterbildung stärker miteinander verknüpft werden. Zur künftigen Unternehmenskultur muss – wie es im Papier des ZdK geschrieben ist – gehören, für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifizierte Weiterbildungsangebote zu machen. Dies gilt für junge und ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen. Unser Ziel muss sein: Kein Jugendlicher unter 25 darf verloren gehen. Alle müssen ein Angebot zur Qualifizierung und Bildung erhalten. Ebenso gilt: Ältere Mitarbeiter müssen die Chance zur Weiterqualifizierung erhalten, die ihnen die Möglichkeit zu einer wirklich lebenslangen Erwerbsbiographie eröffnet.

8. Wer Bildung in einem ganzheitlichen Sinn versteht, darf religiöse Bildung nicht aus den Augen verlieren. Deshalb ist der Konsens über den Religionsunterricht in unseren allgemein bildenden und beruflichen Schulen wichtig. Er gehört für uns zur Allgemeinbildung. Er ist Ausdruck einer guten Partnerschaft zwischen den Kirchen und dem Staat. Bildung darf nicht verengt werden auf wenige Kompetenzbereiche und den Begriff der Qualifikation. Keine Kultur existiert ohne religiöse Wurzeln. Die kulturelle Teilhabe setzt deshalb voraus, um die religiösen Wurzeln unserer Kultur zu wissen. Es ist heute unbestritten, dass Religion und Religionen an Bedeutung gewinnen – für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft, für das friedliche Miteinander in einem Gemeinwesen, in dem Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen leben, und nicht zuletzt für den internationalen Dialog. Auch von daher gewinnt der Religionsunterricht an Bedeutung. Dialogfähigkeit setzt einen eigenen Standpunkt voraus. Religionsfähigkeit schließt die Sensibilität für die Frage nach Gott und die Fragen menschlicher Hoffnung ein. Von daher ist es von hohem gesellschaftlichem und kulturellem Interesse, dass die Kirchen mit dem Religionsunterricht in unseren Schulen präsent sind.

9. Ich halte den Wettbewerbsföderalismus für ein geeignetes Instrument, zu weiteren guten Entwicklungen in unseren Schulen zu kommen. Deshalb halte ich die Ergebnisse der Föderalismuskommission für richtig. Bildungspolitik ist das Herzstück der Länder und Ausdruck der Kulturhoheit. Zentralismus führt nicht zu mehr Qualität. Das entbindet eine Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortung für Bildungspolitik – in der beruflichen Bildung, in der Weiterbildung und in der Bildungsforschung. Unsere Hochschulen müssen sich stärker als in der Vergangenheit als Partner der Schulen begreifen. Dazu gehören überzeugende Konzepte der Lehreraus- und -weiterbildung ebenso wie jene Bildungsforschung, die sich mit didaktischen Entwicklungen beschäftigt. Bildungsforschung muss verstärkt werden. Die internationalen Vergleichsstudien haben uns auch gezeigt, dass uns viele Erkenntnisse über erfolgreiche Unterrichtskonzepte und nachhaltige Lernkulturen fehlen. Deshalb werden wir die Bildungsforschung verstärken. Schließlich braucht der Lehrerberuf mehr Akzeptanz. Wenn Schule und Bildung so bedeutsam sind, dann muss es zum Ehrgeiz einer Gesellschaft auch gehören, dass die Besten eines Jahrgangs sich auch vorstellen können, Lehrer oder Lehrerin zu werden. Das setzt voraus, dass pädagogische Arbeit anerkannt und unterstützt wird.

Innovation ist ein großes Wort. Es geistert durch viele politische Debatten. Eine innovationsfähige Gesellschaft braucht Menschen, die neugierig auf Neues sind, die zugleich um die Traditionen wissen, auf denen das Wertefundament unserer Gesellschaft ruht, die leistungsbereit sind und ein Gewissen für das Ganze haben und die verantwortungsbewusst mit ihrer Freiheit umgehen. Über all das wird in den Prozessen von Bildung und Erziehung entschieden. Deshalb sage ich aus Überzeugung: Bildung – um der Freiheit willen.

Dr. Annette Schavan

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