Wissenschaftsthemen sind Zukunftsfragen – Erwartungen an das deutsche Wissenschaftssystem aus christlicher Sicht

Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) vom 15./16. Juni

Im Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Verantwortung nimmt das Zentralkomitee der deutschen Katholiken den 95. Deutschen Katholikentag in der Wissenschaftsstadt Ulm zum Anlass zu folgender Erklärung über die Bedeutung der Wissenschaft für die Zukunft unseres Landes:

Wissenschaft lebt aus der Einheit von Forschung und Bildung. Im Verlauf der Geschichte ist sie in immer stärkerem Maße ein wesentlicher und prägender Teil unserer Kultur geworden. Für die Zukunft unserer Gesellschaft und der ganzen Menschheit ist die Wissenschaft von vorrangiger Bedeutung. Denn über das konkrete Wissen hinaus, das ja weithin Grundlage unseres gesellschaftlichen Lebens und unseres persönlichen Handelns ist, bedeutet Wissenschaft vor allem den Willen und die Fähigkeit zum Lernen; ein stets waches Erkenntnis- und Erfahrungsinteresse; die Offenheit für unerwartete Einsichten; die Vertrautheit mit den geistigen Traditionen, die uns prägen; Analysefähigkeit und Urteilskraft; die selbstkritische Bereitschaft zur eigenen Leistung und den kritischen Respekt vor dem, was andere Menschen leisten und geleistet haben; Kenntnis des Eigenen und Sensibilität für Andere und für Fremdes; Fähigkeit zur Kommunikation und zum argumentierenden Diskurs und Bereitschaft zum Dialog.

Wissenschaft ist also nicht in erster Linie eine Ansammlung von Daten und Techniken, sondern sie erfordert und entwickelt Eigenschaften, die Persönlichkeiten prägen, zu unserem Bild vom Menschen beitragen und uns ein tieferes Verständnis der Welt eröffnen. Darin besteht auch der Beitrag der Wissenschaft zu einem dynamischen Verständnis unserer geistig-kulturellen Identität im Spannungsfeld von Kontinuität und Erneuerung.

Wissenschaft darf deshalb auch nicht reduziert werden auf ein hochqualifiziertes Spezialistentum zur Lieferung von Innovationen in Gestalt nützlicher und gewinnbringender Produkte und Techniken. Es gibt keine Nützlichkeit ohne Nachhaltigkeit und keine Nachhaltigkeit ohne Kenntnis und Beachtung des fachlichen und des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Längerfristig gibt es daher keine erfolgreiche Wissenschaft ohne interdisziplinären Austausch, ohne die wechselseitige Befruchtung von Erkenntnis und Anwendung und ohne das Gespräch von Theorie und Praxis. Ebenso wenig gibt es eine dem Menschen verpflichtete Wissenschaft ohne Teilhabe an den geistigen Auseinandersetzungen über unsere Verantwortung vor der Menschheit und für den Zustand der Welt. Für Christen verwirklicht sich in dieser Haltung ihre Verantwortung vor Gott und ihr Zeugnis für das Evangelium. Eine besondere Rolle spielen dabei die christliche Theologie sowie ganz generell die Geisteswissenschaften, die als eigenständige und selbstbewusste Partner für die dialogische Gemeinschaft aller Wissenschaften unverzichtbar sind. Daher widerspricht das ZdK mit Nachdruck der Tendenz, die Theologie aus dem universitären Fächerspektrum zu entfernen oder sie in ihrer Präsenz und Leistungsfähigkeit erheblich zu schwächen. Wissenschaft ist vernunftgeleitet. Glaube und Vernunft stellen dabei keine Gegensätze dar, sondern sind aufeinander angewiesen: Der christliche Glaube bedarf der wissenschaftlichen Durchdringung (vgl. Petr. 3,15); gleichzeitig benötigt die Wissenschaft einen ethischen Sinnhorizont, wie er im christlichen Glauben angelegt ist. So hat etwa die Diskussion um die Möglichkeiten der Biotechnologie gezeigt, dass die Naturwissenschaften zwar neue Kenntnisse erschließen, dass sie aber die Frage "Was sollen wir tun?" nicht selbst beantworten können.

Wissenschaft bedarf der Freiheit. Diese Freiheit ist kein gesondertes Privileg, sondern Teil der geistigen Freiheit in unserer Gesellschaft. Und deren erster und oberster Grundsatz ist die unbedingte Achtung der Menschenwürde. Eine Wissenschaft, die den Zusammenhang der Freiheit von Lehre und Forschung mit der allgemeinen Freiheit und deren Begründung in der Achtung vor der Menschenwürde vergäße, wäre bald nur noch eine Dienerin politischer,
ökonomischer Mächte und Interessen. Die Debatten über die Konsequenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse für das Verständnis vom Wesen des Menschen, für den Zustand und die Bewahrung der Umwelt und für die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, an denen sich das ZdK aktiv beteiligt, erweisen den unauflöslichen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft und der Mitmenschlichkeit unserer Welt.

Die wichtigsten Einrichtungen der Wissenschaft sind die Universitäten und Hochschulen. Das ZdK sieht mit großer Sorge, dass sich deren personelle und materielle Ausstattung – trotz erheblicher und eindrucksvoller Reformbemühungen der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik – vielfach in einem Zustand befindet, der für die Zukunft Deutschlands bedrohlich ist.

Der Maßstab für die finanzielle Ausstattung und für den rechtlichen Status der Universitäten und Hochschulen kann nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit sein. Gemessen daran sind die finanzielle Ausstattung und der rechtliche Status in Deutschland ungenügend. Es ist daher unvermeidlich, dass – trotz vieler Spitzenleistungen – die Ergebnisse in Forschung und Lehre insgesamt verbesserungsbedürftig sind. Daraus ergeben sich nach Auffassung des ZdK folgende Notwendigkeiten:

Die finanziellen Mittel für die Wissenschaft, insbesondere für die Universitäten und Hochschulen, müssen deutlich und mit längerfristiger Sicherheit erhöht werden. Das gilt auch und gerade in der Krise, da wir nur mit Hilfe wissenschaftlicher Leistungen wieder aus der Krise herauskommen werden. Dabei müssen die finanziellen Mittel so strukturiert sein, dass sie einerseits die Wettbewerbsfähigkeit der Einrichtungen sichern und diese andererseits zum externen und internen Wettbewerb zwingen. Das erfordert auch einen weiten und längerfristigen Entscheidungsraum der Universitäten und Hochschulen beim Umgang mit ihren Haushalten.

Die Universitäten und Hochschulen müssen eigenverantwortlich und handlungsfähig sein. Eigenverantwortlichkeit heißt nicht nur, selbst Entscheidungen treffen zu können, sondern auch, für deren Folgen einstehen zu müssen. Handlungsfähigkeit umfasst nicht nur die strukturellen und rechtlichen Möglichkeiten, sondern auch die intellektuelle und kommunikative Führungskompetenz, diese energisch zu nutzen, und die mentale Bereitschaft zum Handeln. Derzeit wird die konkrete Universität oder Hochschule von deren Mitgliedern noch zu wenig als Verantwortungsgemeinschaft begriffen und akzeptiert.

Wissenschaft erweist sich durch Leistung im Wettbewerb. Der Wettbewerb in der Forschung vollzieht sich sowohl intern durch die gutachtergesteuerte Gewinnung von Projekten als auch extern durch die Einwerbung von Projekten aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Freiheit der Wissenschaft und ein zukunftsorientiertes Verhältnis von unmittelbarer Nützlichkeit, einerseits, und längerfristigem Wert der Forschungsergebnisse, andererseits, ist nur dann gesichert, wenn sich der wissenschaftsinterne Forschungswettbewerb angemessen entfalten kann. Das ist derzeit aus finanziellen Gründen in Deutschland und in der Europäischen Union im Vergleich mit den USA nicht der Fall.

Der Stellenwert der akademischen Lehre ist in Deutschland zu gering. Zu selten begründen Leistungen in der Lehre besonderes akademisches Ansehen und zu oft verdeckt das wissenschaftliche Einzelinteresse der Lehrenden die gemeinsame Verantwortung des Lehrkörpers für die Qualität und den Erfolg des Studiums. Vor allem ist der Wettbewerb auf diesem Gebiet rechtlich stark eingeschränkt. Für die Qualität und für die Zukunftsaussichten des Studienangebots in Deutschland ist es unabdingbar, dass die Studienbewerber um die Zulassung zu den besten Studiengängen und die Fachbereiche bzw. Fakultäten um die Gewinnung der besten Studienbewerber miteinander konkurrieren können. Dieser doppelte Wettbewerb entspräche auch der international vorherrschenden Praxis.

Universitäten und Hochschulen sind in besonderem Maße Einrichtungen im Wandel. Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Studiums in Deutschland und zum Entstehen eines europäischen Hochschulraumes kann die Einführung des zweistufigen Studienmodells sein, weil dieses erlaubt, eine systematische Grundlegung des Studiums mit einem forschungsorientierten Studium zu verbinden, die Wechselwirkung von theorie- und praxisorientierten Phasen zu fördern, interdisziplinäre Kombinationen zu ermöglichen und insgesamt eine flexiblere Strukturierung zu gestatten. Diese Vorteile werden jedoch nur möglich, wenn von flächendeckenden schematisierenden Vorgaben Abstand genommen wird, sondern aus den deutschen Traditionen eigenständige Modelle entwickelt werden. Die Behauptung, es gäbe ein international gültiges und anerkanntes Bachelor-Master-Modell, das jetzt in Deutschland zu übernehmen wäre, ist falsch und mithin irreführend.

Universitäten und Hochschulen müssen das geistige Leben ihres Landes oder ihrer Region prägen wollen. Als ein geistiger Ort werden sie aber nur dann voll zur Wirkung kommen, wenn sie sich nicht als Ansammlung von Spezialisten verstehen, sondern als wissenschaftliche Gemeinschaft den Dialog mit der Gesellschaft suchen. Zugleich müssen Universitäten und Hochschulen einen internationalen Charakter tragen. Eine große Zahl ausländischer Studierender, Lehrender und Forschender zu haben, wird künftig zu den notwendigen Qualitätsmerkmalen solcher Einrichtungen gehören. Dabei bedürfen Studierende und gemeinsame Forschungsprojekte mit Entwicklungsländern einer besonderen Unterstützung und Zuwendung. Das internationale Profil einer Universität entspricht dem internationalen Charakter der Wissenschaft und ist nicht zuletzt eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung.

Damit Deutschland künftig wieder in der internationalen Spitzengruppe der Universitäten vertreten ist, müssen sich alle deutschen Universitäten und Hochschulen einem hohen geistigen Anspruch stellen. Zugleich müssen sie sich dessen bewusst sein, dass nur wenige zur Elite gehören werden und diese Zugehörigkeit stets hinterfragt wird. Das Hochschulwesen eines Landes kann keine stabile Hierarchie bilden, sondern ihr wissenschaftsgemäßes Merkmal ist die dynamische Verschiedenartigkeit, die keine normierte Niveaugleichheit kennt, sondern die vom vielgestaltigen Wettbewerb und daher notwendigerweise auch von Unterschieden lebt.

Für eine zukunftsfähige Universität gilt das Gleiche wie für eine zukunftsfähige Gesellschaft: Die Mütter und Väter unter den Studierenden, Lehrenden und Forschenden haben einen Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit und Förderung. Die Tatsache, dass etwas weniger als die Hälfte der Akademikerinnen und mehr als die Hälfte der Akademiker, die jetzt Kinder haben könnten, keine Kinder haben, bedroht die Zukunft unseres Landes und der Wissenschaft, denn wie jeder gesellschaftliche Bereich lebt auch die Wissenschaft von der Abfolge der Generationen. Und ebenso wenig wie die Wissenschaft kann deshalb die Universität auf einen Ort der individuellen Lebenserfüllung reduziert werden. Ohne Familienfreundlichkeit sind die Universität wie die ganze Gesellschaft auf Dauer nicht lebensfähig.

Das ZdK ruft die Verantwortlichen in Staat und Kirche, in Wirtschaft und Gesellschaft und insbesondere in der Wissenschaft auf, sich der herausragenden Bedeutung der Wissenschaft und ihrer Einrichtungen für die Zukunft unseres Landes bewusst zu sein und der fortschreitenden Reduzierung ihrer Möglichkeiten und ihres Stellenwertes ein Ende zu bereiten. In einer Zeit ständigen und tiefgehenden Wandels bedürfen wir der Einsichten und Erkenntnisse der Wissenschaft und ihrer kulturellen Prägewirkung in besonderem Maße, um die Zukunft verstehen und gestalten zu können.


Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 16. Juni 2004

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