"Vertrauen stärken – Verantwortung tragen - Solidarität erhalten" Pflege als vordringliche Herausforderung der Gesundheits-, Sozial- und Gesellschaftspolitik

Einführungsreferat von Barbara Stamm MdL bei der Fachtagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

im November 2003 hat die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken eine Erklärung verabschiedet – Sie haben sie alle mit der Einladung zur heutigen Veranstaltung erhalten –, die unter der Überschrift "Vertrauen stärken – Verantwortung tragen – Solidarität erhalten" – das Augenmerk auf die Bedeutung der Pflege in einem nachhaltig leistungsfähigen Gesundheitswesen gerichtet hat.

In einer Zeit, da in Berlin ausschließlich über Praxisgebühr und Patienten-Chipkarte diskutiert wurde, hat das Zentralkomitee auf Entwicklungen aufmerksam gemacht, die mittelfristig die eigentliche Herausforderung im Gesundheitswesen darstellen werden: Wir müssen uns auf eine wachsende Zahl Hochaltriger und Pflegebedürftiger einstellen und auf die damit verbundenen gesellschaftlichen, sozialpolitischen und medizinisch-pflegerischen Veränderungen.

Heute möchten wir – aufbauend auf unserer Erklärung – mit Ihnen das Gespräch über die Herausforderungen im Bereich der Pflege fortsetzen. Wir möchten dabei einen Aspekt, den wir in unserer Erklärung angesprochen haben, vertiefen und in konkrete Forderungen umsetzen: Es geht um die Gewährleistung der Pflege in der Familie und im sozialen Nahraum.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es in Art.1, Abs.1 des Grundgesetzes. Dieses Grundrecht gilt für Alte und Junge, Kranke und Gesunde. Entsprechend formulieren wir in unserer Erklärung: "Die Würde des Menschen als zentraler Bezugspunkt pflegerischer


Versorgung beinhaltet eine Förderung der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in allen Lebensphasen. Dazu gehört es, gute Voraussetzungen für eine Pflege im häuslichen Umfeld zu schaffen."

Menschen aller Altersgruppen geben in Umfragen an, im Fall der Pflegebedürftigkeit möglichst lange zu Hause bleiben zu wollen. Das Pflegeheim wird als im wahrsten Sinne des Wortes letzte Alternative angesehen.

Um den übereinstimmenden Wünschen der Menschen auch in den Zeiten entsprechen zu können, da die familiären Netze kleiner werden, müssen wir rechtzeitig flankierende Strukturen aufbauen!

Um für Familien mit zwei erwerbstätigen Ehepartnern Möglichkeiten zu erhalten, pflegebedürftige Angehörige zu Hause zu versorgen, müssen wir gleichzeitig in der Arbeitswelt strukturelle Rücksichtslosigkeiten gegenüber familiären Pflichten abbauen!

Wer sich erfolgreich für eine Stärkung der Familie und die Stärkung der kleinräumigen und lebensweltnahen Pflege einsetzen will, muss verschiedene Akteure an einen Tisch bekommen.
Ich freue mich, dass uns dies heute gelungen ist.

Besonders herzlich begrüßen möchte ich Frau Ministerin Görner, die uns in ihrem Impulsreferat konkrete Vorschläge vorstellen wird, die sie in ihrem Hause erarbeitet hat, um für die Langzeitpflege alter Eltern und Großeltern bessere Voraussetzungen zu schaffen. Ebenso herzlich begrüße ich Herrn Dr. Ahrens, bei dem ich mich für die Gastfreundschaft der AOK am heutigen Tage bedanken möchte.

Gestatten Sie mir, dass ich, bevor Frau Ministerin Görner das Wort erhält, einige Punkte in Erinnerung bringe, die wir in unserer Erklärung angesprochen haben:


Verantwortung – Vertrauen – Solidarität

Aus unserer Sicht ergeben sich drei Grundsätze für alle anstehenden Reformanstrengungen: Verantwortung, Vertrauen und Solidarität.

Verantwortung im Gesundheitswesen, so schreiben wir, ist mehr als nur eine auf Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten reduzierte "Eigenverantwortung" der Patienten.


Das Gesundheitswesen braucht verantwortlich handelnde Ärzte und Pflegepersonen, die einfühlsam und mit Respekt auf Patientenwünsche und
-bedürfnisse eingehen!

Darüber hinaus braucht es in Berufsverbänden, in Kranken- und Pflegekassen Verantwortliche, die sich nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft Vorteile verschaffen.

Und es braucht Patienten, die – wie Ärzte und Pflegende – über Kosten sowie Vor- und Nachteile von Behandlungen und Therapien gut informiert sind und sich verantwortlich entscheiden.

Ebenso ist unser komplexes Gesundheitswesen unabdingbar auf Vertrauen angewiesen. Gerade in Bezug auf die Sozialversicherung ist offensichtlich, dass die Bereitschaft jeder Generation, die notwendigen Beiträge zu erbringen, entscheidend vom Vertrauen und von den Erwartungen in die Zukunftsfähigkeit des Systems abhängt. Eine verantwortliche Diskussion über Reformen und die Zukunft des Gesundheitswesens muss daher künftige Risiken sachgerecht berücksichtigen.

Die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und Alten und zwischen Menschen mit prognostiziertem niedrigem und hohem Krankheitsrisiko sowie die Beteiligung aller im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit ist Kern unseres Gesundheitswesens. Die nicht unerschöpfliche Solidarbereitschaft – auch angesichts der demographischen Veränderungen – heute und morgen zu erhalten, ist Aufgabe der Politik. Dabei müssen wohlverstandene Selbstverantwortung und Solidarbereitschaft gemeinsam gefördert werden.


Innovativ neuen Herausforderungen begegnen

Folgt man den skizzierten Grundsätzen, so ergibt sich mit Blick auf das Thema unserer heutigen Veranstaltung ein Katalog von Herausforderungen.
"Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal." – Diese Aussage von Roman Herzog ist nirgends zutreffender als für den Bereich der Altenhilfe und Pflege.
Deshalb ist es höchste Zeit, dass Zielwerte wie Leben in Würde, Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung in den Mittelpunkt gestellt werden und nach und nach zur Grundlage aller seniorenpolitischen Planungen werden. Deshalb gilt es nun aber auch, die Grundsätze "Prävention vor Rehabilitation", "Rehabilitation vor Pflege" und insbesondere "ambulant vor stationär" nicht nur in pro-


grammatischen Darstellungen oder rechtlichen Vorschriften zu formulieren, sondern verstärkt vor Ort umzusetzen.
Unser aller Anliegen muss es sein, dass die Versorgungskette vom Hausarzt über Krankenhaus und Rehabilitationseinrichtung bis hin zur Nachsorge nahtlos geschlossen wird und die Selbständigkeit der älteren Menschen im Vorfeld weiter unterstützt und ausgebaut wird.

Die Betreuung älterer und kranker Menschen gehört zu den selbstverständlichen Aufgaben des niedergelassenen Hausarztes. Dem Hausarzt kommt eine zentrale Rolle bei der optimalen Behandlung in Bezug auf Prävention, Therapie und Rehabilitation älterer Menschen zu. Entgegen dieser Bedeutung der Hausärzte ist jedoch immer noch festzustellen, dass niedergelassene Ärzte einen Wissens- und Kenntnisbedarf im Bereich der Geriatrie haben.
In diesem Zusammenhang verweist unsere Erklärung ausdrücklich auf die Notwendigkeit der wohnortbezogenen institutionalisierten Koordinierung der vorhandenen Ressourcen in für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen transparenten Strukturen.

Vor kurzem haben drei deutsche Wissenschaftler zur Einsparung im Gesundheitswesen vorgeschlagen, dass die Krankenkassen älteren Menschen nur mehr reduzierte medizinische Leistungen gewähren sollten.
Diese Vorschläge müssen vehement abgelehnt werden. Wir müssen auf eine Altersmedizin setzen, die den Bedürfnissen der älteren Generation gerecht wird. Pflegebedürftigkeit soll, wo immer es möglich ist, vermieden werden.

Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten 2003 diesbezüglich die Förderung der Rehabilitation als eine der wichtigsten Optionen unter den strukturellen und funktionalen Effizienzreserven im deutschen Gesundheitssystem bezeichnet.
Vor dem Hintergrund der schwierigen Gesamtsituation im Gesundheitswesen stellt die Weiterentwicklung, die inhaltliche Abstimmung und Vernetzung aller Versorgungsangebote unter Einbeziehung der niedergelassenen Ärzteschaft sowie der Alten- und Pflegeeinrichtungen eine der großen Herausforderungen der Zukunft dar.

Dabei darf sich eine Optimierung der Versorgung älterer Menschen nicht nur auf den stationären Bereich begrenzen. Es sind vor allem kreative Lösungsansätze gefragt, die die unterschiedlichen Leistungsangebote im präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Bereich

in ambulanten, teilstationären und stationären Strukturen weiterentwickeln, vernetzen und in einer ganzheitlichen fachübergreifenden Therapie resultieren. Eine solche Vernetzung kann z. B. von Pflegenden mit speziellen Gebietszuständigkeiten übernommen werden, denkbar auch in der Trägerschaft von Pfarrgemeinden oder von Beratungsstellen in kommunaler Trägerschaft. Ansatzpunkte für diese Arbeit bietet das Konzept der "Familiy-Health-Nurse" der WHO.

Eigenständige Verantwortungsbereiche der professionell Pflegenden müssen weiter ausgebildet werden. Nicht nur bedarf es einer fairen Professionalisierungschance für die Pflege, sondern ebenso müssen durch eine neue, sachgerechte, auch rechtlich geregelte Aufteilung der Verantwortung zwischen Ärzten und Pflege beide Berufsgruppen gemeinsam Verantwortung für den Patienten wahrnehmen.


Zukunft der Pflege

Das Thema "Pflege" ist nicht nur das Zukunftsthema der Gesundheitsdebatten, sondern auch von entscheidender Bedeutung für die Familien. Das ZdK setzt sich entschieden dafür ein, ihr in gesundheitspolitischen und in familienpolitischen Diskussionen einen entsprechend hohen Stellenwert zu geben. Die Zukunft der Pflege muss als Wertedebatte diskutiert werden. Trotz der finanziellen Engpässe im Gesundheitssystem ist ein möglichst selbst bestimmtes "Altern in Würde" nicht nur unter volkswirtschaftlichen Kosten- und Nutzenüberlegungen zu sehen, sondern es ist eine ethische und humanitäre Verpflichtung.

Meine Damen und Herren, ich freue mich auf eine anregende Diskussion. Frau Görner – wir freuen uns auf Ihr Referat.

Barbara Stamm, Leiterin der Ad-hoc-AG "Herausforderungen des Gesundheitswesens" des ZdK und Vizepräsidentin des Bayerischen Landtags

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