Acht-Punkte-Programm zur Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung/Mut zu Reformen braucht ordnungspolitische Kontinuität und Klarheit
Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) vom 18./19. November
Acht-Punkte-Programm zur Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung
Mut zu Reformen braucht ordnungspolitische Kontinuität und Klarheit
In Zeiten rasanter Veränderungen ist es wichtig, sich zu vergewissern, wo wir stehen und wohin wir wollen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken legt daher dieses Acht-Punkte-Programm vor, dessen Ziel es ist, von den Leitideen der Vergangenheit über die konkreten Probleme der Gegenwart zu den richtigen Entscheidungen für die Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu gelangen.
Die ordnungspolitischen Grundlagen der heutigen Rentenversicherung gehen zurück auf die große Rentenreform 1957 und auf die leidenschaftlichen Debatten im Vorfeld, die seit dem Katholikentag 1948 in Mainz - damals wie heute - auch in den Reihen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und der katholischen Verbände geführt wurden. Mit einer Denkschrift schaltete sich Mitte der 50er Jahre Wilfrid Schreiber, Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer, in die Sozialreform- Debatte ein. In diesem "Schreiber-Plan" wurden die Leitideen der Reform von 1957 am klarsten formuliert. Das Anliegen Schreibers hat Oswald von Nell-Breuning voll unterstützt und durch die Idee der "Drei-Generationen-Solidarität" ergänzt, die bis heute mit der Vorstellung eines "Drei-Generationen-Vertrages" aufgegriffen wird.
Die dynamische umlagefinanzierte Altersrente für alle Arbeitnehmer wurde Wirklichkeit. Eine Weichenstellung, die angesichts der demographischen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen heute überholt ist? Oder ein Rentenkonzept, das allen zwischenzeitlichen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zum Trotz wegweisend sein kann?
Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel stellen die gesetzliche Rentenversicherung vor große Herausforderungen: Durch die strukturellen Umbrüche der Erwerbsarbeit - die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme von neuen Formen der Erwerbsarbeit jenseits der Beitragspflicht - werden die Einnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung erheblich gemindert. Die demographische Entwicklung - die steigende Lebenserwartung der Menschen und stagnierende Geburtenentwicklung - verschiebt den Altersaufbau in der Bevölkerung nachhaltig zu Ungunsten der jüngeren Beitragszahler und belastet verstärkt die Ausgabenseite der Rentenversicherung. Durch Umbrüche der Erwerbsarbeit kommt es zunehmend zu unterbrochenen Erwerbsbiographien bei Frauen und Männern. Es besteht die Gefahr, dass zukünftig wieder erheblich mehr Rentenempfänger und -empfängerinnen von Altersarmut betroffen sind.
Angesichts dieser Herausforderungen stellen sich für die zukünftige Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung die Grundfragen nach dem Sicherungsziel, insbesondere dem Schutz vor Altersarmut, der Finanzierung und des versicherten Personenkreises neu. Es lohnt sich daher, den Plan genauer anzuschauen, der 1957 den Ausweg wies. Was charakterisiert ihn? Was trägt heute noch? Unbestritten ist, dass manches anders verlief als gedacht. Erstaunlicher ist, dass die Grundfragen und Risiken, auf die Schreiber seine Konzeption zugeschnitten hat, in wesentlichen Punkten diejenigen sind, mit denen wir uns auch heute in der Sozialpolitik konfrontiert sehen.
1. Die gesetzliche Rentenversicherung muss sich an einem Leitbild orientieren.
Schreiber geht von einem klaren ordnungspolitischen Leitbild aus. Für ihn ist die gesetzliche Rentenversicherung eine "Selbsthilfe-Maßnahme der Beteiligten", die nichts zu tun hat mit "Versorgung und Fürsorge durch Gesellschaft und Staat".
Der "Wirtschaftsbürger" sei "willens und fähig", sein Alter "aus eigener Kraft" zu sichern - davon war er als Ökonom und Christ überzeugt, verpflichtet einem Bild vom Menschen, der sein Leben verantwortlich selbst in die Hand nimmt. Schreiber entwickelte das Konzept der Pflichtversicherung aller Empfänger von Arbeitseinkommen als "Solidarakt zwischen zwei Generationen": Die jeweils Arbeitstätigen verpflichten sich, die Rentner mit zu ernähren, um im eigenen Alter von den dann Arbeitstätigen mit ernährt zu werden. Pflichtversicherung und freiheitliche Gesellschaftsordnung sind für Schreiber kein Gegensatz; sie bedingen einander. Ihn leitet das Bild vom Arbeitnehmer, dem das ihm zukommende Bewusstsein der Eigenständigkeit und der Stolz der Selbstverantwortung zurückgegeben werden müssten. Er sei nicht auf Wohltaten angewiesen, die in Wirklichkeit gar keine seien. Die Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung müssten deshalb den Arbeitnehmern zugeordnet werden, da sie echte Lohnanteile seien. Nicht anders verhalte es sich mit den Staatszuschüssen, da sie ebenfalls überwiegend aus dem Einkommen der Arbeitnehmer stammen. Es sei an der Zeit, die "unerhört unsoziale Optik" wieder zu beseitigen, auch zu Gunsten einer Klarheit und Wahrhaftigkeit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Heute ist das Verständnis verloren gegangen, dass es sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung im Prinzip um eine solidarische Selbsthilfemaßnahme handeln sollte und dass jeder Mensch die Verantwortung und die Pflicht hat, für das Alter vorzusorgen. Ein immer höherer Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung wird aus Mitteln des Bundeshaushalts gedeckt und dient den unterschiedlichsten Zwecken, bis hin zur Stützung des Beitragssatzes. Außerdem wird verdrängt, dass die Arbeitgeberbeiträge echte Lohnbestandteile und keine Lohnnebenkosten sind.
Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung können auch heute unter veränderten Bedingungen nur überzeugen, wenn sie einem stimmigen Leitbild folgen. Das ZdK tritt für das Leitbild der solidarischen Selbstversicherung ein, da es eine Orientierung gibt für die transparente Gestaltung der Verantwortlichkeiten und für die Spielregeln des sozialen Ausgleichs.
Sozialpolitische Aufgaben und Ausgleichsmaßnahmen, die die gesetzliche Rentenversicherung als Träger für die Gesellschaft übernimmt, müssen weiterhin sachgerecht aus Mitteln des Bundes finanziert werden, dazu gehören unter anderem Aufgaben für Kindererziehungszeiten, Fremdrenten und aus der Wiedervereinigung resultierende Kosten. Zum Leitbild einer Selbstversicherung gehört, die Rentenversicherung nicht mit sonstigen Aufgaben zu überfrachten: Die mit der hohen Zahl der Frühverrentungen der letzten Jahrzehnte verbundene Verschiebung der Arbeitsmarktprobleme in die Alterssicherung darf sich nicht wiederholen.
2. Die Ausweitung des Versichertenkreises sichert den Solidarausgleich.
Alle "Arbeitstätigen", die - als Arbeitnehmer oder Selbstständige - Arbeitseinkommen erzielen, sollen nach Schreiber Vollmitglied der Rentenkasse sein. Sein Ziel ist, die Beständigkeit des Systems über Strukturveränderungen der Wirtschaftsgesellschaft und ihrer Zusammensetzung nach Beruf und Erwerbsart hinweg sicherzustellen. Den Plan baut Schreiber auf dem Typus des Arbeitnehmers auf; denn 80% der Familien seien Arbeitnehmerfamilien und ihre Zahl werde wahrscheinlich eher steigen. Da aber niemand voraussehen könne, wie sich das Zahlenverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Selbstständigen in Zukunft verändern werde, empfiehlt er, mögliche Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur durch Integration auszuschalten. Die Staatsbediensteten, deren Besoldung nach dem Alimentationsprinzip erfolgt, hat Schreiber dabei nicht eigens erwähnt.
Heute haben Stabilität und Stetigkeit des klassischen Arbeitnehmerverhältnisses Risse bekommen. Die Rentenreformen der vergangenen Jahrzehnte haben Schreibers Konzept in einigen Punkten konstruktiv weiterentwickelt. Indem Lohnersatzleistungen beitragspflichtig wurden, trug die gesetzliche Rentenversicherung systematisch den durch Krankheit und Arbeitslosigkeit unterbrochenen Erwerbsbiographien Rechnung. Diese Regelungen reichen jedoch heute - auch vor dem Hintergrund des Wettbewerbs in globalisierten Volkswirtschaften - nicht mehr aus. Wir beobachten gravierende Strukturveränderungen in der Arbeitswelt. Zwar hat die Entwicklung dazu geführt, dass heute praktisch für jeden Erwachsenen länger oder kürzer Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Aber gleichzeitig haben neue Formen der Selbstständigkeit und Schein-Selbstständigkeit, die Zunahme von sogenannten Patchwork-Biografien und von lückenhaften Versicherungsverläufen eine Erosion der Pflichtversicherung verursacht. Eine zunehmende Zahl von kleinen Selbstständigen und geringfügig Beschäftigten ist nicht oder nur ungenügend im System integriert und wird im Alter auf Grundsicherung angewiesen sein. Das Phänomen der Altersarmut, das überwunden zu sein schien, droht neu.
Es ist deshalb dringend an der Zeit, die Pflicht zur Altersvorsorge auszudehnen. Dazu gehört die Verbreiterung des Versichertenkreises in der gesetzlichen Rentenversicherung auf alle selbstständigen und nicht selbstständigen erwerbstätigen Frauen und Männer, um dem Solidarpakt wieder eine beständige Basis zu geben.
3. Die gesetzliche Rentenversicherung braucht ein überzeugendes Sicherungsziel.
Die ungenügende Höhe der Nachkriegsrenten war für Schreiber wichtigster Antrieb seiner Reformüberlegungen. Rentner sein, hieß arm sein - das wollte er ändern. Eine absolute Leistungshöhe legt sein Plan nicht fest. Darüber zu entscheiden ist für ihn Aufgabe der Versicherten und in deren Auftrag der Abgeordneten des Bundestages. Mit Hilfe seiner dynamischen Rentenformel sei "jede Entscheidung möglich", nur könne niemand hohe Renten bei niedrigen Beiträgen versprechen. Schreiber empfiehlt, die Rentenhöhe nicht allzu hoch anzusetzen. Es müsse Raum für zusätzliche private Vorsorge bleiben. Vorsorge durch persönliche Eigentumsbildung und Altersrente aus dem Solidarvertrag seien gleichrangige Möglichkeiten nebeneinander. Allgemeines Leistungsziel ist nach Schreiber der Schutz vor Altersarmut, wobei die leistungsgerechte Teilhabe der Rentner an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung in einer dynamischen Wirtschaftsordnung für ihn Ziel und integrativer Bestandteil seines Modells ist. Die Renten sollen Schritt halten mit der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards. Das allerdings war nicht Versprechen auf eine nur positive Zukunft. Im Gegenteil. Für Schreiber war klar, dass die Anbindung der Renten an die Produktivität der Volkswirtschaft in Krisenzeiten auch Stagnation und Einbuße für die Rentnergeneration bedeutet.
In der Vergangenheit konnte Altersarmut weitgehend überwunden werden, das Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung orientierte sich an der Lebensstandardsicherung und ging damit über die von Schreiber formulierte leistungsgerechte Teilhabe deutlich hinaus. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer die gesetzliche Rente ergänzenden privaten Vorsorge wurde getrübt. Mit der Rentenstrukturreform 2001 wurde das Ziel der Lebensstandardsicherung für das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung aufgegeben. Durch weitere gesetzliche Eingriffe werden Renten in Zukunft erheblich geringer ausfallen. Es besteht die Gefahr, dass weite Teile der Rentenempfänger und -empfängerinnen zukünftig nur noch Renten in Höhe der Grundsicherung im Alter oder geringfügig darüber erhalten werden. Die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung wird auf Dauer gefährdet, wenn sich das Leistungsniveau zu einer bedarfsorientierten Fürsorgeleistung entwickelt.
Das Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung muss für die Zukunft klar und verlässlich sein. Einzahlung in die Rentenversicherung muss sich lohnen. Der Schutz vor Altersarmut und die leistungsgerechte Teilhabe der älteren Generation an der Wirtschaftsentwicklung sind unverzichtbar. Dabei kann die Rentenversicherung nicht die Defizite des Arbeitsmarktes kompensieren, muss aber ihrer sozialen Ausgleichsfunktion gerecht werden und dazu auch Mindestsicherungselemente enthalten.
4. Die gesetzliche Rente muss berechenbar sein.
Schreiber will im Rentensystem ein klares Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. Er setzt sich für eine einfache, verständliche und vor allem verlässliche Berechnungsformel [ 1)] ein. Das Berechnungsverfahren für die dynamische Rentenformel müsse rechtsverbindlich festgelegt, die Messzahl eines jeden Jahres Jahr für Jahr auf gleiche Weise ermittelt werden. Die einkommenschaffende Lebensphase setzt er im Normalfall im Alter von 20 bis 65 Jahren an.
Die Entwicklung bis heute zeigt einerseits, dass die Idee einer einfachen, verlässlichen Formel zwar nie ganz in Vergessenheit geriet, aber nur unzureichend umgesetzt wurde. Die zuletzt entwickelten "Formelungetüme" sind selbst für Experten nicht mehr zu verstehen, geschweige denn verständlich zu erklären. Der Zielkonflikt zwischen versicherungsmathematischer Perfektion und Verständlichkeit ist wiederholt zulasten der Verständlichkeit entschieden worden. Die den Formelveränderungen zugrunde liegenden politischen Entscheidungen sind so immer weniger nachvollziehbar geworden.
Die Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre zeigen andererseits, dass die strenge Gleichsetzung von Arbeitseinkommen und Leistung für die Bemessung der Altersrente fragwürdig geworden ist. Inzwischen hat die gesetzliche Rentenversicherung daher einen weiteren Begriff von "Lebensleistung" entwickelt, die über die Leistung aus Erwerbsarbeit hinausgeht.
Ein klares Verhältnis von Leistung und Gegenleistung muss auch künftig in der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten bleiben. Dabei begrüßt das ZdK, dass sich heute neben Arbeitseinkommen auch Kindererziehung und Pflege von Angehörigen in der Alterssicherung niederschlagen. Erwerbsarbeit und "Familienarbeit" sind gleichwertig im Leistungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung zu verankern. Eine konsequente Weiterentwicklung der Kindererziehungszeiten in der Alterssicherung entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts steht dringend an. Es sollten jeweils 3 Kindererziehungsjahre pro Kind unabhängig vom Geburtsdatum anerkannt werden - mit dem Ziel, die Kindererziehungszeiten stufenweise auf 6 Jahre pro Kind auszudehnen.
Die gesetzliche Rentenversicherung muss außerdem - trotz komplexer Zusammenhänge - zu einer für normale Menschen nachvollziehbaren Formel zurückkehren.
5. Die Umlagefinanzierung ist die sachgerechte Finanzierungsform der gesetzlichen Rentenversicherung.
Schreiber tritt leidenschaftlich für die Finanzierung nach dem Umlageprinzip ein, da nur so "schlagartig" eine dynamische Verbesserung der Alterseinkünfte für alle Altersgruppen gleichzeitig erreicht werden könne. Eine gesetzliche Versicherung, der "4/5 des Volkes angehören und deren 'Geschäftsvolumen' nicht mit der Willkür der Versicherten schwanken kann, sondern auf Jahrzehnte genau vorausberechenbar ist", bedürfe um der "Sicherheit" willen keines Deckungskapitals. "Eine Volksversicherung, ob auf Umlage oder auf Deckung beruhend, findet ihre Sicherheit immer nur in der Kontinuität des Volks-Daseins." Das Volkseinkommen müsse zu jeder Zeit auf Erwerbstätige und Nicht-Erwerbsfähige verteilt werden. Dem entspreche die Pflichtversicherung am einfachsten mit der Umlagefinanzierung. Dringend rät Schreiber seinen Zeitgenossen, "in Zukunft mehr Kapital zu bilden. Aber muss dies denn in der kollektiven Form der Kapitalbildung in Händen der Rentenversicherungsträger geschehen? Durchaus nicht!" Die Kapitalmassen, die bei Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente bei den Rentenversicherungsträgern entstünden, betrachtet er als Gefahr für die freie Wirtschaft und enorme Versuchung "für ehrgeizige Staatsmänner".
Schreiber setzt sich intensiv mit möglichen Krisen-Szenarien etwa durch eine schrumpfende Bevölkerung mit einem Ungleichgewicht zwischen Beitragszahlern und Rentnern und durch die steigende Lebenserwartung auseinander.
Drei Lösungswege bietet er an. Die für ihn wichtigste Stellschraube ist die Veränderung der Regelaltersgrenze von 65 Jahren nach oben oder nach unten je nach Entwicklung um jeweils bis zu vier Jahre: "Wenn die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Heilkunst den Menschen ein höheres Durchschnittsalter gewährt, so ist selbstverständlich auch eine Verlängerung des Arbeitsalters, d. h. eine Heraufsetzung des Rentenalters, angemessen."
An zweiter Stelle sieht er den Verzicht der Rentner auf eine allgemeine Steigerung für die Dauer der "kritischen Periode" und erst an letzter eine geringfügige Erhöhung der Beiträge.
Heute haben sich die bei Schreiber angedeuteten Krisen-Szenarien deutlich verschärft. Das gilt für das dauerhaft ungünstiger gewordene Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern, verursacht durch niedrige Geburtenraten und lange Ausbildungszeiten auf der einen Seite, verursacht aber auch durch die steigende Rentenbezugsdauer aufgrund der höheren Lebenserwartung und des - mit einer gesellschaftlichen Geringschätzung älterer Arbeitnehmer verbundenen - Trends vergangener Jahrzehnte zur Frühverrentung auf der anderen Seite. Hinzu kommt die seit Jahren anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die alle Sozialleistungssysteme belastet. Die Beitragserhöhungen, mit denen in der Vergangenheit viele Belastungen aufgefangen wurden, sind sowohl aus volkswirtschaftlicher Sicht als auch wegen der Belastung für Betriebe und Arbeitnehmer an Grenzen gestoßen.
Das ZdK setzt sich für eine Umlagefinanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung ein, weil es auch heute in der solidarischen Alterssicherung zu dieser Finanzierungsform keine überlegene Alternative gibt. Ein Mischsystem aus starker umlagefinanzierter Rente mit ergänzender kapitalbasierter privater Vorsorge kann verschiedenen Risiken besser begegnen.
Es ist wegen der inzwischen deutlich verlängerten Rentenbezugsdauer dringend an der Zeit, die Gesamtlebensarbeitszeit zu verlängern. In erster Linie soll ein früherer Eintritt ins Erwerbsleben ermöglicht werden. Auch eine Heraufsetzung der Regelaltersgrenze darf kein Tabu sein. Dazu muss allerdings die Arbeitswelt so umgestaltet werden, dass es ausreichend geeignete Arbeitsplätze für ältere Menschen gibt und betriebsorientierte Frühverrentungen eingedämmt werden. Das ZdK votiert dabei für eine verlässlich ausgestaltete Regelung, die an der Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Renteneintritt anknüpft und die dazu führt, dass das Renteneintrittsalter stufenweise angehoben wird.
6. Die Rentenversicherung braucht heute die eigenständige Sicherung für Frauen.
Eine eigenständige Alterssicherung für Frauen ist im Schreiber-Plan 1955 kein Thema. Die Frau als Arbeitnehmerin wird kaum erwähnt, sie ist - was schlüssig ist - Versicherte wie alle anderen. Für die verheiratete Frau und Mutter hingegen folgt Schreibers Vorschlag konsequent der gesellschaftlichen und rechtlichen Norm seiner Zeit: Es ist das Bild der Familie mit dem versicherten Mann als Alleinverdiener und Familienvater. Da die Frau während der Ehe rechtlich und wirtschaftlich vom Mann abhängig war, erhält sie im Fall seines Todes eine Witwenrente als abgeleiteten Rechtsanspruch. Es ist ein vollwertiger Rentenanspruch, der - wie bei allen Renten im Sinne Schreibers - keiner Bedürftigkeitsprüfung oder Ermessensentscheidung zugänglich ist. Den Schreiber-Plan zeichnet aus, dass er die Versicherten in ihrer familiären Einbindung erfasst und in der gesetzlichen Rentenversicherung an den gesellschaftlichen und rechtlichen Fakten anknüpft, die er vorfindet.
Familienbild und Familienrealität haben sich seither erheblich verändert. An die Stelle der Alternative Beruf oder Familie sind verschiedene Varianten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf getreten. Um die Versicherten weiterhin sachgerecht in ihrer familiären Einbindung zu erfassen, muss die Rentenversicherung die Vielfalt der Lebensentwürfe von Frauen berücksichtigen. Die Versuche, die gesetzliche Rentenversicherung an diese Veränderungen anzupassen, waren wiederholt einseitig mit erheblichen Verschlechterungen bei der Witwenrente verbunden, das Ziel des Aufbaus einer eigenständigen Sicherung der Frauen blieb demgegenüber meist auf der Strecke. Seit Einführung des Anrechnungsverfahrens trägt die Hinterbliebenenrente den Charakter eines bedarfsabhängigen Unterhaltsersatzanspruchs. Die Ehe wird dabei nicht als Teilhabegemeinschaft gleichberechtigter Partner verstanden, während im Scheidungsfall mit dem Versorgungsausgleich schon seit 1977 ein Modell geteilter Rentenanwartschaften umgesetzt wird, das diesem Gestaltungsprinzip folgt. Unter den konkreten Arbeitsmarkt- und Familienrealitäten ist so erneut die Gefahr der Altersarmut von Frauen mit Kindern entstanden. Gleichzeitig werden jene Pioniere eines partnerschaftlichen Familienmodells negativ betroffen, die Kindererziehung gleichberechtigt mit (phasenweise) reduzierter Erwerbstätigkeit beider Eltern verbinden.
Das ZdK tritt mit Nachdruck für den weiteren Ausbau der eigenständigen Alterssicherung von Frauen ein. Das bedeutet, dass neben politischen Anstrengungen zur Gewährleistung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben und der Verbesserung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten auch der entscheidende Schritt zu einem balancierten Splitting- oder Teilhaberentenmodell gegangen werden muss: Die in der Ehe gemeinsam erworbenen Rentenanwartschaften müssen beiden Ehepartnern hälftig zustehen. Es gilt Abschied zu nehmen vom Konzept der Hinterbliebenenrente als Unterhaltsersatzleistung, das in den 80er Jahren gegen die Vorschläge der katholischen Verbände und der Bischofskonferenz obsiegte.
7. Kinderfreundlichkeit und Familiengerechtigkeit sichern den Solidar-Vertrag zwischen den Generationen.
Schreiber sieht einen grundlegenden Zusammenhang zwischen dem Wachstum eines Volkes und der Stabilität seiner Alterssicherung. "Der dauernde Bestand und seine stetige Produktionskraft sichern die Altersrente." Die Stagnation und langsame Schrumpfung der Bevölkerung in den meisten Ländern Europas sei zwar noch nicht bedrohlich, erfordere aber - damals schon! - ernste Aufmerksamkeit. Deshalb fordert er - als Vorbedingung und notwendige Ergänzung der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - ein System der Solidarhilfe der Gesellschaft zu Gunsten der Generation der ersten Lebensphase. Ein gewisses Maß an Bevölkerungspolitik sei notwendiges Element jeder vernünftigen Wirtschaftspolitik. Oswald von Nell-Breuning wollte dieses Anliegen durch die "Drei-Generationen-Solidarität" verwirklichen. Schreiber empfiehlt eine Art Darlehen für die nachwachsende Generation, das ab dem 35. Lebensjahr zurückzuzahlen wäre, um aus dieser speziellen "Rentenkasse" wiederum neue Darlehen an den Nachwuchs vergeben zu können. Dieser Vorschlag einer Kindheits- und Jugendrente ist unbeachtet geblieben.
War er zu abenteuerlich?
Der Grundgedanke Schreibers, dass Familien und Kinder in der heutigen Gesellschaft tatkräftig Unterstützung brauchen, ist heute aktueller denn je. Ein wachsender Teil der Männer und Frauen bleibt in Deutschland kinderlos. Nicht nur, aber auch in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die Auswirkungen bereits gravierend. Es gibt genügend Hinweise auf strukturelle Schwachpunkte in unserer Gesellschaftsordnung zu Lasten von Kindern und Familien. Die Kindererziehung wirkt sich weiter gravierend auch in einer ungenügenden Alterssicherung für Eltern, insbesondere für Mütter aus. Hier ist etwas gründlich schief gelaufen. Gleichwohl führt die Erkenntnis nur langsam zu politischen Konsequenzen. Trotz vieler leidenschaftlicher Debatten der Vergangenheit über Modelle eines angemessenen Familienlastenausgleichs fehlt bis heute eine wirklich überzeugende Antwort. Deutschland muss ein kinderfreundliches Land werden - dies ist nicht "nette Beigabe zum Gesellschaftsklima", sondern Existenzfrage für die Gesellschaft und Standortfrage zur Sicherung einer beständigen Wohlstandsentwicklung.
Eine erfolgreiche zukunftsfähige Rentenpolitik braucht neben einer guten Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vor allem auch eine engagierte Familienpolitik. Das ZdK tritt dafür ein, dass die Ressourcen zugunsten von Eltern und Kindern deutlich umgeschichtet werden. Neben der geforderten Verbesserung bei den Kindererziehungszeiten geht es um eine verlässliche Ausgestaltung der Transferleistungen (Kindergeld, Erziehungsgeld) und eine adäquate Berücksichtigung des Kinderbetreuungsaufwands im Steuerrecht. Ebenso dringlich ist die Verbesserung der Infrastruktur für Kinderbetreuung, Schule, Ausbildung, Jugendhilfe und die dafür erforderlichen hohen Investitionen, für die zusätzliche Finanzmittel neu erschlossen werden müssen.
8. Kontinuierliche Fortentwicklung muss auf Vertrauen setzen.
Schreiber ist überzeugt, dass in Fragen der sozialen Sicherung Lösungen nur zu finden sind auf der Basis verlässlicher Grundregeln und einer sauberen Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Situation. Er wird nicht müde, eine ehrliche und wahrhaftige Sozialpolitik einzufordern, die für die Menschen verständlich, nachvollziehbar und einsichtig ist. Auch unangenehme Wahrheiten sind gemeint, wie z. B. die Offenlegung der tatsächlichen Kosten, die sowohl von der Gesellschaft als Ganzer wie auch vom einzelnen Menschen für eine solide Alterssicherung aufzubringen sind. Zu seinem Menschenbild gehört, das Verlangen der Menschen nach Existenzsicherheit ernst zu nehmen. "Sicherheitsstreben und Lebensangst haben ihre Begründung in sehr realen Sachverhalten. Die Abstellung dieser Sachverhalte, ihre Überwindung durch einen entschlossenen Solidarakt, muss daher jedem am Herzen liegen, der an der Erhaltung einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung interessiert ist."
Heute ist das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung brüchiger geworden. Dem Sicherheitsgefühl der Menschen scheint im System der sozialen Sicherung der Boden entzogen zu sein, Angst und Verunsicherung haben zugenommen. Dabei ist unübersehbar, dass die dynamische Altersrente der gesetzlichen Rentenversicherung im Verlauf ihrer 50jährigen Geschichte immer wieder angepasst werden musste und angepasst werden konnte. Ein markantes Beispiel aus den letzten Jahren ist die gesetzlich festgelegte nachhaltige Begrenzung der Beitragssätze zu Gunsten der erwerbstätigen Generationen im Jahr 2001, verbunden mit der Inkaufnahme einer Verminderung des Leistungsniveaus für die Rentnergenerationen. Trotz wechselnd günstiger Rahmenbedingungen hat sich die Rentenversicherung - besser als jedes andere System der Altersvorsorge - über Jahrzehnte als anpassungsfest erwiesen. Die in den 50er Jahren geäußerte Hoffnung, eine im Umlageverfahren organisierte gesetzliche Rentenversicherung möge ein Zusammenwachsen des geteilten Deutschland effizient unterstützen, hat sich eindrucksvoll erfüllt. Die Gründe für den Vertrauensverlust trotz dieser Erfolgsgeschichte sind vielfältig. Zu heftig ist die Illusion genährt worden, durch eine "Jahrhundertreform" könnten auf einen Schlag alle Zukunftsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung gelöst werden.
Das ZdK wendet sich entschieden gegen einen "Systemwechsel", dessen Risiken unkalkulierbar sind - insbesondere gegen den Übergang zur reinen Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es begrüßt, dass die politischen Mehrheiten in unserem Land die auf der Grundlage des Schreiber-Plans gestaltete dynamische Altersrente erhalten und - im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel - auch in schlechteren Zeiten verantwortungsvoll weiterentwickeln wollen. Da immer wieder gesetzliche Anpassungen notwendig sind, um auf Veränderungen der Rahmenbedingungen rechtzeitig zu reagieren, appellieren wir an die Politiker und Politikerinnen und die Mitgestalter der öffentlichen Meinung, in den Reformdebatten Vertrauenskapital nicht leichtfertig zu zerschlagen und die Menschen bei anstehenden Veränderungen "mitzunehmen". Dies ist nur zu gewährleisten, wenn die Korrekturen erkennbar einem roten Faden, einer klaren Zielbeschreibung und verlässlichen Gestaltungsprinzipien folgen, auf die die Menschen sich einstellen und vertrauen können.
Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 19. November 2004
1) Jeder Versicherte zahlt einen festzulegenden Prozentsatz des Bruttolohns zuzüglich der “bisherigen Arbeitgeberanteile” bzw. des steuerpflichtigen Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit ein. Im Verhältnis zum durchschnittlichen Arbeitseinkommen aller Versicherten werden für den Einzelnen Rentenanspruchspunkte errechnet.