Was man über den Europäischen Konvent wissen sollte

Vortrag von Dr. Thomas Jansen im Rahmen des Symposium Krakau - es gilt das gesprochene Wort.

1.Was ist eigentlich dieser Konvent?

Eine Versammlung von Vertretern

- der Parlamente der Mitgliedstaaten der EU (je 2 = 30),
- des Europäischen Parlaments (16),
- der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten (je 1=15),
- der Europäischen Kommission (2).

Damit sind die 4 Legitimationsebenen, die für die EU konstitutiv sind, in den Prozess einbebunden: die nationalen Parlamentarier vertreten die Bürger und Völker der Mitgliedstaaten, die europäischen Parlamentarier vertreten die Bürger und das Volk der Union, die Vertreter der Regierungen repräsentieren das nationalstaatliche Interesse, die Vertreter der Kommission das europäische Gemeinschaftsinteresse. Der Konvent ist damit hochlegitimiert.

Verstärkt wird diese Legitimation durch die Mitwirkung von Vertretern

- der Parlamente der Staaten, die als Beitrittskandidaten anerkannt sind (je 2=26),
- der Regierungen der Kandidaten-Staaten (je 1=13).

Hinzu kommen insgesamt 13 Beobachter in Vertretung des Europäischen Wirtschafts-und Sozialausschusses, des Ausschusses der Regionen, der europäischen Sozialpartner und der Ombudsmann.

Insgesamt, einschliesslich der stellvertretenden Mitglieder, die ebenso wie die Beobachter mitreden und schriftliche Vorschläge einreichen können, beläuft sich die Zahl der im Konvent an der Verfassungsgebung Mitwirkenden auf 217.


2.Warum gibt es den Konvent?

Weil die alte Methode der zwischenstaatlichen, diplomatischen Verhandlung für die Weiterentwicklung der EU, für die Revision der ihr zugrunde liegenden Verträge und für die Lösung von Fragen, die in den Verträgen nicht in einem gemeinschaftlichen Sinne geregelt sind, nicht mehr funktioniert. Das hat sich insbesondere gezeigt, als es in der Regierungskonferenz in Nizza (Dezember 2000) darum ging, die Institutionen und Verfahren den Erfordernissen der bevorstehenden Erweiterung der EU um eine erhebliche Zahl von neuen Mitgliedstaaten anzupassen.


3.Welche Aufgabe hat der Konvents?

Er soll über die Fragen der zukünftigen Gestalt und Organisation der EU einen Konsens entwickeln und Lösungsvorschläge erarbeiten. Die Staats- und Regierungschefs der EU, die den Konvent eingesetzt haben (bei der Tagung des Europäischen Rates in Laeken, Dezember 2001), haben ihn mit einem Mandat ausgestattet, das außerordentlich weit gefasst ist; es erlaubt die Behandlung aller denkbaren Fragen, die im Zusammenhang mit der zukünftigen Gestaltung der EU einer Erörterung wert sind. Die entsprechende Laekener Erklärung erhält circa 70 Fragen, die geklärt werden sollen; aber dieser Katalog ist nicht limitativ; weitere Fragen sind inzwischen aufgeworfen worden und kein Regierungschef hindert den Konvent daran, auch diese Fragen zu erörtern.

Seine starke Legitimation, das umfassende Mandat und der persönliche Rang der Mitglieder haben dazu geführt, daß der Europäische Konvent sich auch jenseits seines ursprünglichen Mandats weder von der Bürokratie noch von der Diplomatie oder den Regierungschefs gängeln lässt. Er verhält sich wie eine verfassungsgebende Versammlung. Die Laekener Erklärung spricht übrigens vom „Weg zu einer Verfassung für den europäischen Bürger“. Tatsächlich ist der Konvent aber eine verfassungsempfehlende Versammlung. Das Ergebnis seiner Arbeit wird - nach dem geltenden Vertragsrecht - von einer Regierungskonferenz beschlossen und anschliessend von den Parlamenten ratifiziert werden müssen.


4.Was tut und wie arbeitet der Konvent?

Er arbeitet an dem Entwurf einer Verfassung zur Vorbereitung einer Regierungskonferenz, die diese Verfassung, falls sie sich diese zu eigen macht, in Form eines Verfassungsvertrags verabschieden muss.

Das Präsidium - bestehend aus dem Präsidenten (Valery Giscard d’Estaing), den beiden Vizepräsidenten (Jean-Luc Dehaene und Giuliano Amato) sowie je zwei Vertretern der nationalen Parlamente, der Regierungen, des EP, der Kommission und einem Vertreter der Mittelosteuropäer – lenkt die Arbeiten, stellt den Konsens fest und macht Formulierungsvorschläge.

Das Plenum dikutiert und erörtert, stimmt aber nicht ab.

Informelle Fraktionen der politischen Familien (EVP, ESP, ELDR, Grüne) koordinieren, bereiten Vorschläge vor, bemühen sich um die Vorfomung des Konsenses.

Fraktionsübergreifende Gruppen, die bestimmte gemeinsame Anliegen oder Interessen haben (z.B. die Föderalisten oder die Gegner einer weiterreichenden Integration, die Vertreter der Regierungen, die Euro-Parlamentarier etc.), bemühen sich um Abstimmung untereinander, reichen gemeinsame Vorschläge ein und tragen auf diese Weise ebenfalls zur Konsensbildung bei.

Elf Arbeitsgruppen haben sich zwischen September 2002 und Januar 2003, jeweils unter dem Vorsitz eines Präsidiumsmitglied, mit einzelnen Tehmenbereichen befasst:

- Subsidiarität,
- Ergänzende Zuständigkeiten,
- Grundrechte,
- Wirtschaftsordnung/ Ordnungspolitik,
- Vereinfachung der legislativen Verfahren,
- Rechtspersönlichkeit der EU,
- Rolle der nationalen Parlamente,
- Rolle der Gebietskörperschaften,
- Aussenpolitisches Handeln,
- Verteidigungspolitisches Handeln,
- Soziales Europa.

Der Dialog mit der Zivilgesellschaft wird gewährleistet u.a. durch die Transparenz der Arbeiten des Konvents, der öffentlich tagt und alle Vorschläge, Beiträge, Texte über seinen Internet-Auftritt laufend veröffentlicht; auch die Eingaben aus der Zivilgesellschaft werden in mehreren Sprachen veröffentlicht; zwei Sondersitzungen des Konvents gemeinsam mit den Vertretern zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, Netzwerke, Verbände und Organisationen aller Art sowie mit den Vertrtern der Jugendverbände fanden bisher statt; regelmässige Informations- und Dialogtreffen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zwischen Mitgliedern des Präsidiums mit den Vertretern der Zivilgesellschaft.

Zusammensetzung, Auftrag und Arbeitsweise dieses Konvents sind übrigens einem erfolgreichen Vorläufer nachgebildet, nämlich dem Konvent zur Erarbeitung der Charta der Europäischen Grundrechte, der unter dem Vorsitz von Roman Herzog im Jahre 2000 tagte.


5.Welche Bedeutung hat der Konvent?

In historischer Hinsicht markiert der Konvent den Übergang in ein neues Paradigma des europäischen Integrationsprozesses, der nach dem 2. Weltkrieg einsetzte und über verschiedene Etappen zu einer immer stärkeren Verdichtung führte: Übergang von einer Union der Staaten, die von der Diplomatie und der Bürokratie geschaffen und gelenkt wurde, zu einer Union der Bürger, die nach den Regeln der Demokratie gestaltet wird. Mit anderen Worten: der Weg vom Vertrag zur Verfassung bedeutet auch den Übergang von der Diplomatie zur Demokratie als dem leitenden Prinzip der Gestaltung der EU.

Dieser Prozess ist seit langem im Gange. Seit dem Vertrag von Maastricht (1992) hat er eine Beschleunigung erfahren - durch die Einführung der Unionsbürgerschaft und der Währungsunion, der Anerkennung der Regionen als Akteure der Integration und der Subsidiarität als einem leitenden Prinzip der Integration, etcetera. Im Vertrag von Amsterdam (1996) hat sich dieses Momentum fortgesetzt. Ein Durchbruch gelang mit dem durch die Staats- und Regierungschefs in Köln (1999) einberufenen Konvent zur Erarbeitung der Charta der Grundrechte (2000).


6.Wo steht der Konvent heute?

Auf eine Phase der Anhörung und der allgemeinen Debatte (März bis Juli 2002) folgte die Phase der Analyse von Einzelproblemen in den Arbeitsgruppen (September 2002 bis Januar 2003). Mit der Vorlage der Skizze eines Vorentwurfs für die Verfassung durch das Präsidium (Ende Oktober 2002) setzte die Phase der Formulierung der einzelnen Verfassungsartikel ein, die Ende Januar 2003 zur Vorlage der ersten 16 Artikel-Entwürfe durch das Präsidium führte. Die Erarbeitung dieser Entwürfe im Präsidium erfolgt im Lichte der Debatten im Plenum und auf der Grundlage der Berichte der Arbeitsgruppen. Sukzessive werden im Laufe der nächsten Monate weitere Entwürfe einzelner Artikel-Pakete vorgelegt und anschliessend im Plenum diskutiert. Die Mitglieder können zu den Entwürfen Änderungsanträge einbringen.

Der Pegel des Konsenses ist im Laufe der Monate seit Beginn der Arbeiten erheblich gestiegen. Es gibt inzwischen Klarheit über eine Reihe von Punkten, die noch vor kurzem sehr kontrovers schienen, zum Beispiel:

- es wird eine neue Verfassung erarbeitet, die die bestehenden Verträge ersetzen soll;
- ein einziger Text soll vorgelegt werden, nicht mehrere alternative Texte mit unterschiedlichen Optionen;
- die Charta der Grundrechte soll Teil der Verfassung und damit rechtswirksam werden;
- die EU soll Rechtspersönlichkeit erhalten;
- das Gesetzgebungsverfahren wird erheblich vereinfacht.


7.Wie geht es weiter?

Im Juni sollen die Arbeiten des Konvents abgeschlossen werden durch die Vorlage des Entwurfs einer Verfassung. Im Herbst tritt die Regierungskonferenz zusammen, die
a) darüber befinden muss, ob sie den Entwurf in der vorgelegten oder in einer veränderten Form akzeptieren will;
b) sich über den Vertrag verständigen muss, mit dem die Verfassung in Kraft gesetzt werden soll.

Es besteht die Absicht, die Regierungskonferenz in Rom, im Dezember 2003 mit einer Tagung des Europäischen Rats unter italienischem Vorsitz zu beschliessen. Bei dieser Gelegenheit könnten die Staats- und Regierungschefs den Verfassungsvertag unterzeichnen, 46 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Vertäge, mit denen die EWG ins Leben trat.

Im Laufe des Jahres 2004 könnte die Ratifizierung in den Mitgliedstaaten erfolgen. Nach Abschluss der Ratifikationsverfahren wird die Verfassung inkraft treten können - zu einem vereinbarten Zeitpunkt, der jedenfalls nach dem Beitritt von 10 neuen Mitgliedstaaten (Mai 2004), nach der nächsten Europawahl (Juni 2004) und nach der Neubestellung der Europäischen Kommission (Herbst 2004) liegen wird.


8.Wird mit dem Konvent das Ziel einer demokratischen und föderalen Verfassung für die EU erreicht weren?

Das ist möglich, aber nicht gesichert. Die internationale Lage, die durch die Möglichkeit eines Krieges im Nahen Osten geprägt ist, und die sich daraus ergebende Spannung zwischen einigen Mitgliedstaaten der EU, die sich nicht einig sind hinsichtlich der Haltung, die von den Europäern einzunehmen ist, lastet als Ungewissheit auf dem Konvent.

Viel wird davon abhängen, ob eine sehr grosse Mehrheit der Mitglieder des Konvents am Ende des Tages einem überzeugenden, kohärenten und lesbaren Text zustimmt. Dann werden sich die Regierungen kaum drücken können; sie werden dann auch nicht ohne weiteres an dem Text Änderungen vornehmen können, die von dem Willen der Mehrheit des Konvents nicht gedeckt sind. Das wird ihnen auch dadurch schwer gemacht, dass sie durch ihre Vertreter im Konvent eingebunden sind. Die meisten Regierungen sind durch Stellvertretende Ministerpräsidenten oder durch die Aussenminister vertreten. Man kann sagen, dass die Regierungskonferenz bereits mitten im Konvent im Gange ist.

Aber die Gegner des Prozesses der Verfassungsgebung, zum Beispiel und vor allem die Briten, die das Ergebnis des Konvents nicht gutheissen werden, könnten sich in der Regierungskonferenz querlegen; denn hier muss einstimmig entschieden werden, was jeder Regierung eine Veto-Möglichkeit bietet. Wenn dadurch schliesslich nicht alle Blütenträume reifen sollten, wird durch die im und um den Konvent entstandene Dynamik dennoch ein erheblicher Fortschritt bewirkt werden. Gemessen an den allgemeinen Erwartungen bei der Einberufung oder bei Beginn der Arbeit des Konvents wird dieser Fortschritt beträchtlich sein; gemessen an den Notwendigkeiten wird dieser Fortschritt vielleicht nicht ausreichend sein; er wird aber eine neue Grundlage schaffen für weitere Fortschritte im Sinne der Demokratie und des Föderalismus.

Dr. Thomas Jansen

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