Vertrauen stärken – Verantwortung tragen – Solidarität erhalten
Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) am 21./22. November
Vertrauen stärken – Verantwortung tragen – Solidarität erhalten
Zur Bedeutung der Pflege in einem leistungsfähigen Gesundheitswesen
Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken
Im Rahmen der Gesundheitsreformdebatte 2003 hat sich die Politik darauf konzentriert, durch Ausgabenbeschränkungen, zusätzliche Selbstbeteiligung und Steuerfinanzierung die Beitragssatzentwick-lung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren. Zu der großen Zahl weiterhin ungelöster Probleme im Gesundheitsbereich gehört insbesondere die nachhaltige Sicherung der Pflege, ihrer Qualität und Finanzierung.
Für die Heilung von Kranken kommt der Pflege im therapeutischen Prozess eine ebenso große Bedeutung zu wie der medizinischen Versorgung. Darüber hinaus spielt Pflege in einer alternden Gesellschaft und angesichts der Zunahme chronischer Erkrankungen eine immer wichtigere Rolle bei der Begleitung von kranken Menschen unabhängig von ihren Heilungschancen.
Mit Einführung der Pflegeversicherung reagierte der Gesetzgeber auf die skizzierten Entwicklungen. Fast zehn Jahre später gibt es weitergehenden Handlungsbedarf: Die Bewältigung der den Pflegebereich betreffenden Herausforderungen muss als zentrale Aufgabe im Gesundheitswesen angesehen werden. So wie vor 120 Jahren die Kompensation der Lohnausfälle im Mittelpunkt der Sozialpolitik im Krankheitsfall stand und in den Nachkriegsjahren die finanzielle Absicherung des medizinischen und pharmazeutischen Fortschritts besonders wichtig wurde, ist nun die Gewährleistung qualitativ hochwertiger Pflege für alte und kranke Menschen als vordringliche Zeitforderung im Gesundheitswesen anzusehen.
1. Die Menschenwürde als Maßstab für die Gestaltung des Gesundheitssystems
Für die Vorschläge des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zur Gestaltung des Gesundheitswesens ist das christliche Menschenbild grundlegend. Daraus folgt die Bedeutung der Pflege als integrierter Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung. Eine Engführung allein auf medizinische Aspekte ist mit den Grundsätzen christlicher Ethik nicht vereinbar.
Als Ebenbild Gottes verfügt jeder Mensch über gleiche Würde und ist zu Freiheit und Verantwortung berufen. Durch Freiheit und Verantwortung – so bruchstückhaft sie manches Mal nur verwirklicht werden – entfalten Menschen in ihren Biographien jene Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit, die Gott jedem menschlichen Leben unwiderruflich zugesprochen hat. Freiheit und Verantwortung sind jedem Menschen zugestanden, aber auch seinen Möglichkeiten und Kräften nach zugemutet. Wer sich von ihnen dispensieren wollte, würde die Grundfeste seines menschenwürdigen Daseins gefährden. Ähnlich gefährdet werden sie dann, wenn andere Menschen oder soziale Strukturen die eigenständige Lebensführung eines Menschen ohne Not beeinträchtigen oder sogar zerstören. Nächstenliebe und Solidarität sind Ausdruck der Achtung der gleichen Menschenwürde aller Menschen.
Dies gilt auch für den Bereich der Gesundheitsversorgung und der Pflege. Gesundheit ist "Kraft zum Leben". Sie ist die Fähigkeit, körperliche wie psychosoziale Krisen und Grenzsituationen des eigenen Lebens zu bewältigen. Gesundheitsversorgung und Pflege unterstützen diese Bewältigung, wenn das Eigenvermögen des Menschen zeitweilig (während einer Krankheit) oder auf Dauer (auf Grund von Behinderung, chronischer Krankheit oder des Alters) eingeschränkt ist. Gesundheit ist ein hohes Gut. Die ungestillte Sehnsucht der Menschen nach Heilung beantwortet der christliche Glaube aber nicht mit einer übersteigerten Ethik des Heilens, die allen in Gestalt eines grenzenlosen medizinischen Fortschritts ein Erlösungsszenarium aus Menschenhand verspricht. Der christliche Glaube nimmt diese Sehnsucht statt dessen durch eine Ethik der Heilsamkeit ernst, die alle segensreichen medizinischen wie pflegerischen Versorgungsleistungen einbaut in eine Begleitung von Kranken und Pflegebedürftigen, die die "Kraft zum Leben" wenigstens soweit schützt, stärkt oder wiederherstellt, dass belastete Situationen der eigenen Lebensgeschichte bestanden werden können. Als Christen und Christinnen sind wir überzeugt: Das Gegenstück von Krankheit und Leid ist nicht Leidfreiheit und perfekte Gesundheit, sondern unser leidenschaftliches Engagement für die Schwachen und Kranken. Gegen alle hierarchisierenden Einteilungen von "nützlich" und "wertlos" spricht es den kranken und behinderten Menschen neue Lebenskraft für die Überwindung ihrer belasteten Situation oder wenigstens ein würdevolles Bestehenkönnen zu.
Jeder Mensch ist ganz Person: Seine individuelle Lebensgeschichte ist in ihrer Einmaligkeit nur möglich im Zusammenleben mit anderen Menschen, ja in der Schöpfung insgesamt. Deshalb ist jeder Mensch auf wechselseitige Unterstützung angewiesen, die wir Solidarität nennen. Die gemeinsame Anstrengung ist besonders für die notwendig, deren eigene Kräfte zunächst oder auch auf Dauer schwächer ausgebildet oder durch Krisen besonders gefährdet sind. Die Erstzuständigkeit eines Menschen für die Gestaltung seines Lebens ist niemals eine Alleinzuständigkeit. Unsere Verantwortung gilt deshalb nie nur unserem eigenen Gelingen, sondern allen, die unserer Fürsorge und Unterstützung in besonderer Weise anvertraut sind. Diese Solidarität ist Ausdruck christlicher Nächstenliebe (caritas).
Das hat Konsequenzen für die Gestaltung unseres Gesundheitswesens. So sehr unsere Gesundheit ein privates Gut darstellt und unserer persönlichen Gestaltung überantwortet ist, so sehr ist die Sicherstellung einer Solidarität, die die privaten Lebensrisiken und Belastungen gemeinsam abfedert, eine öffentliche Aufgabe. Zugleich verbietet die unvertretbare Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen alle Versuche, die Zuweisung von materiellen wie immateriellen Hilfen an ihre Nützlichkeit für das öffentliche Wohl zu knüpfen. Natürlich müssen die begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel für die medizinische oder pflegerische Versorgung unter allen Anspruchsberechtigten gerecht verteilt werden. Maßstab für diese Gerechtigkeit ist aber nicht ihr Nutzen für die Allgemeinheit oder eine Tauschgerechtigkeit im Sinne von Leistung und Gegenleistung.
Dabei ergeben sich aus der Sicht des ZdK drei Grundsätze – Vertrauen stärken, Verantwortung tragen und Solidarität erhalten –, die für alle anstehenden Reformanstrengungen leitend sein sollten.
2. Verantwortung – Vertrauen – Solidarität
Das Gesundheitswesen braucht nicht nur "Eigenverantwortung"
Verantwortung im Gesundheitswesen ist mehr als die heute so viel beschworene und häufig auf eine höhere Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten enggeführte Eigenverantwortung der Patienten. Das Gesundheitswesen braucht verantwortlich handelnde Ärzte und Pflegepersonen, die in geteilter Verantwortung sich gemeinsam als therapeutisches Team verstehen und gemeinsam mit Patienten entscheiden; Patienten, die informiert und aktiv ihre Selbstverantwortung für das eigene Wohlbefinden so weit wahrnehmen wie möglich – wobei in besonderen Lebensphasen, z. B. am Lebensanfang, Entscheidungen stellvertretend getroffen werden müssen. Es braucht darüber hinaus Verantwortliche in Berufsverbänden, Kranken- und Pflegekassen, die Verantwortung nicht nur für ihre Teilbereiche, sondern für das Gesamtsystem übernehmen. Außerdem bedarf es verantwortlich agierender Politiker, die so handeln, dass die Bürger und Bürgerinnen begründet auf die Stabilität und Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens vertrauen können.
Traditionell übernehmen die Heilberufe in besonderer Weise stellvertretend Verantwortung für ihre Patienten und Patientinnen. Wer stellvertretend Verantwortung wahrnimmt, muss sich bewusst sein, dass dies eine "Notfalllösung" ist. Während auf der einen Seite die Entscheidungskompetenzen der Patienten erweitert, gefördert, gesucht und genutzt werden müssen, ist es auf der anderen Seite entscheidend, Ärzte und Ärztinnen und Pflegende in ihrer Fähigkeit zu stärken, Patientenwünsche und -bedürfnisse einfühlsam wahrzunehmen, zu respektieren und nach Kräften zu berücksichtigen.
Für Ärzte und Pflegende ist es ebenso wie für Patienten letztlich unverzichtbar, über Kosten, Vor- und Nachteile und Alternativen von Behandlungen und Therapien gut informiert zu sein. Zur Verantwortung der Heilberufe zählt dabei auch Besonnenheit im Einsatz von Diagnostiken und Therapien. Sie bekämpft Ressourcenknappheit am Ursprung und führt zu einer gezielten Verwendung begrenzter Mittel. Die Verantwortung der Ärzte und Pflegenden, die Angemessenheit der Leistungen zu beurteilen und zu vermitteln, muss durch qualifizierende Ausbildung, entsprechende – Rechtssicherheit gewährleistende – Ausgestaltung der (haftungs-)rechtlichen Fragen und vernünftige ökonomische Anreize positiv unterstützt werden.
Ein komplexes Gesundheitswesens ist auf begründetes Vertrauen angewiesen
Gerade für komplexe Systeme wie das Gesundheitssystem wird Vertrauen zu einer Existenzfrage, da die Bereitschaft jeder Gene-ration, die notwendigen Beiträge zu erbringen, entscheidend von dem Vertrauen in die heutige Funktionsfähigkeit und von den Erwartungen über die Zukunftsfähigkeit des Systems abhängt. Eine verantwortliche Diskussion über Reformnotwendigkeit und Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens muss daher in der Zukunft liegende Risiken sachgerecht berücksichtigen: Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Beitragsbelastung der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung etwa müssen sorgfältig abgeschätzt und erforscht, Weichenstellungen für zukünftige Herausforderungen müssen rechtzeitig vorgenommen werden. Das Vertrauen der Beitragszahler in die Zukunftsfähigkeit des solidarischen Sicherungssystems ist Grundvoraussetzung für das Funktionieren dieses Systems.
Neben dem Vertrauen in das System ist das individuelle Vertrauen des Patienten zu Pflegenden und Ärzten entscheidend. Patienten müssen darauf vertrauen können, dass Ärzte und Pflegende zum Wohle des Patienten handeln. Die beispiellosen Fortschritte der Medizin und ihrer Technologie bewirken jedoch nicht selten, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen die unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen schwer miteinander zu vereinbaren sind und einem expliziten Aushandlungsprozess bedürfen. So erfordert Vertrauen in die gesundheitliche Versorgung mehr denn je eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen Arzt/Pflegenden und Patient. Diese Beziehung ist auch auf das Vertrauen der Ärzte und Pflegenden in die eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit der Patienten angewiesen.
Solidarbereitschaft heute und morgen
Aufgabe der Politik ist es, die Solidarbereitschaft unter den sich wandelnden Bedingungen und veränderten gesellschaftlichen Vorstellungen von "Selbstbestimmung", Gemeinwohlverpflichtung und Solidarität zu erhalten. Reformen, die mit sachgerechten wohl abgewogenen Einschnitten verbunden sind, können durchaus dem Solidarprinzip verantwortlich verpflichtet sein. Die Solidarbereitschaft der Menschen ist nicht unerschöpflich – eigene Leistung und eigener Anspruch müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Wir brauchen die Solidarität der Gesunden mit den Kranken, derer mit geringem Krankheitsrisiko mit den Menschen, die ein höheres Krankheitsrisiko haben – ohne Eingruppierung in "Schadensklassen", bei denen etwa die behinderten und chronisch kranken Menschen bald ausgesteuert würden. Die Idee der Sozialversicherung besteht in der Balance von Versicherung ("Eigenvorsorge") und sozialem Ausgleich mit der Entscheidung, den eigenen Leistungsanspruch an die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ("der aktiven Generation") zu koppeln. Für die Verteidigung dieser Idee wirbt das ZdK.
Besonderen Belastungen sieht sich das Solidarprinzip aktuell durch die demographischen Veränderungen ausgesetzt. Die starke Ad-hoc-Plausibilität der Annahme, dass mit steigender Lebenserwartung auch jene Lebenszeiten zunehmen, in denen hohe Ausgaben für medizinische und pflegerische Versorgung relativ niedrigeren Beiträgen gegenüberstehen, verursachen Ängste gerade bei der jungen Generation, die sich nun einer hohen "Alterslast" gegenübersieht.
Wohl verstandene Selbstverantwortung und Solidarbereitschaft müssen also gemeinsam gefördert werden. Wer den Eindruck gewinnt, heute für die heute Bedürftigen/Kranken zur Kasse gebeten zu werden, ohne sich darauf verlassen zu können, morgen im Fall eigener Bedürftigkeit aus dem System Leistungen im notwendigen Umfang erwarten zu dürfen, dessen Zahlungs- und Solidarbereitschaft wird rasch erschöpft sein. Rationierung, die als willkürlich erfahren wird und keine expliziten Kriterien vorweisen kann, vermag ebenso wie Intransparenz die Leistungsfähigkeit und den Sinn der Solidargemeinschaft mehr und mehr in Frage zu stellen.
3. Pflege für alte und kranke Menschen sichern – aktuelle Herausforderungen
Pflegebedarf heute und morgen
Ein Großteil von Pflege findet im häuslichen Umfeld statt, nur zu einem Teil registriert durch die Pflege- oder Krankenversicherung. Diese Unterstützung von Menschen, die Hilfe in alltäglichen Handlungen benötigen, erfolgt meist im engen sozialen Umfeld durch Familie, Freunde und Nachbarn.
Im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes waren in Deutschland 2001 über 2 Millionen Menschen pflegebedürftig. 51 % dieser Pflegebedürftigen werden zu Hause vor allem durch Familienangehörige ohne Unterstützung ambulanter Pflegedienste versorgt, etwa drei Viertel aller Leistungsempfänger der Pflegeversicherung leben zu Hause. Davon sind ca. 1,5 Millionen über 75 Jahre alt. Hinzu kommen pflegebedürftige Menschen in Krankenhäusern und Rehakliniken.
Auf Grund zunehmender Lebenserwartung ist von einer Zunahme an pflegebedürftigen Menschen auszugehen. Die Schätzungen für das Jahr 2040 fallen sehr unterschiedlich aus und liegen zwischen 2,98 und 3,26 Millionen (Enquête-Kommission "Demographischer Wandel"). Wenn es gelänge, den Beginn der Pflegebedürftigkeit durchschnittlich um ein halbes Jahr zu verschieben, ließe sich aber die Gesamtzahl der Pflegebedürftigen im Sinne der Pflegeversicherung auf 2,59 Millionen senken.
Angesichts des Strukturwandels der Familie mit zunehmend allein stehenden Menschen im Alter, steigenden Scheidungsziffern sowie hoher Erwerbsneigung von Männern und Frauen stellt sich die Frage, wie sich familiär pflegerische Unterstützung in Zukunft entwickeln wird. Bislang hat die Veränderung der Familien- und Haushaltsstrukturen, z. B. Rückgang der Anzahl der Kinder, nicht zu einem Nachlassen der intergenerationellen Solidarität geführt. Kommt es in Zukunft aber zu einer erheblichen Verminderung dieser pflegerischen Unterstützung, werden ohne Aufbau angemessener ambulanter/teilstationärer Angebote immer mehr Menschen in stationären Einrichtungen versorgt werden müssen.
All dies wird zu einer wachsenden Nachfrage nach professionell Pflegenden führen. In unserem Gesundheitswesen arbeiten momentan ca. 960 000 ausgebildete Krankenschwestern, Hebammen und Altenpfleger, hinzukommen 223 000 Helfer und Helferinnen in der Pflege (Statistisches Bundesamt 6/03). Der Bedarf der derzeit 220 000 Vollzeitstellen im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes könnte auf das Doppelte anwachsen (BMFSFJ 2002). Zugleich werden an Pflegekräfte in Zukunft zusätzliche und höhere Qualifikationsanforderungen gestellt.
Auf eigenverantwortliche Lebensgestaltung ausgerichtete Pflege
Die Patientenautonomie fordert nicht nur den Respekt gegenüber einer konkret geäußerten Entscheidung des Patienten. Sie verpflichtet zugleich jede Pflegeperson auf den Grundsatz der ganzheitlichen und aktivierenden Pflege und der Achtsamkeit vor der Würde auch des durch Alter oder Krankheit in seiner Eigenständigkeit schwerst eingeschränkten Menschen. Die Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung gerät aber auch in der pflegerischen Versorgung immer wieder ins Abseits. Wie in der medizinischen muss ebenso in der pflegerischen Versorgung Patienten sowohl Eigenverantwortung zugestanden als auch ihren Möglichkeiten und Kräften nach zugemutet werden. Dazu gehört es, die Autonomie der Pflegebedürftigen zu respektieren und zu fördern. Eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung – so gut und so lange wie möglich – muss auch dann Ziel der Versorgung sein, wenn Menschen in stationären Einrichtungen leben und auf Unterstützung angewiesen sind. Eine aktivierende und ressourcenerschließende Pflege, wie dies in der Behindertenhilfe praktiziert wird, muss zum Alltag professioneller Pflege gehören.
Das ZdK fordert zu einem Umdenken der medizinischen und pflegerischen Versorgung hin zu präventiven Maßnahmen auf. Ein größeres Bemühen um den Erhalt von Selbstständigkeit vor allem alter oder kranker Menschen ist dringend geboten. Pflege könnte hierzu, so geeignete Strukturen es zulassen, einen entscheidenden Beitrag leisten Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern, etwa durch präventive Hausbesuche. So können Schwierigkeiten frühzeitig erfasst werden und Hilfestellungen erfolgen, die die Bewältigung eines selbstständigen Alltags trotz körperlicher Einschränkungen ermöglichen. Zugleich muss professionelle Pflege nicht nur die pflegebedürftige Person, sondern ihre ganze Familie bzw. "quasifamiliären Netzwerke" der Unterstützung in den Blick nehmen.
Der Wunsch nach selbständiger Entscheidung auch in kritischen Lebensphasen nimmt zu und findet sich in zahlreicher werdenden Patientenverfügungen wieder. In ihnen steckt häufig auch die Angst, im medizinisch-pflegerischen System als "Behandlungsfall" und nicht in der eigenen menschlichen Würde wahrgenommen zu werden. Eine Patientenverfügung muss als Ausdruck eines erklärten Patientenwillens ernst genommen und berücksichtigt werden. Eine gesetzliche Regelung dieses wichtigen Mittels, vorsorglich den eigenen Willen zu dokumentieren, ist anzustreben. Dabei bleibt es Pflicht von Ärzten und Pflegenden, weiter alle Möglichkeiten der aktuellen Willensäußerung der Patienten zu nutzen.
Eine Patientenverfügung enthebt weder Angehörige noch Professionelle des schwerwiegenden Abwägungsprozesses in der jeweiligen spezifischen Situation. Dazu bedürfen Pflegende wie auch Ärzte einer Vorbereitung auf ethisch kritische Fragen und Situationen. Eine gute Sterbebegleitung, hin zu einem menschenwürdigen Sterben, zu der auch ein Verzicht auf maximale medizinische Versorgung gehört, muss gelernt werden. Hierzu bedarf es einer stärkeren Einbindung von Palliativmedizin und Palliativpflege in die Versorgungspraxis.
Zu unterscheiden von einer Patientenverfügung ist die Möglichkeit, für den Fall der Geschäftsunfähigkeit rechtzeitig durch eine notariell beurkundete Vollmacht vorzusorgen. Damit können für die Gestaltung der Pflege und darüber hinaus durch eine dem Vollmachtgeber vertraute Person Geschäfte geregelt werden, ohne dass vom Gericht ein Betreuer bestellt werden muss. Auf diese Form der eigenständigen Entscheidung sollten die Betroffenen vermehrt hingewiesen werden.
Ein strukturelles Problem stellt dar, dass die Pflegeversicherung entgegen dem erklärten Ziel des Gesetzes, keine Anreize zur Förderung eigenverantwortlicher Lebensgestaltung setzt. Die bemessenen Zeiten der Pflegeversicherung lassen kaum eine zeitaufwendigere Anleitung zur Selbstpflege zu, sondern "motivieren" die Pflegenden zur zeitsparenden Übernahme von alltäglichen Handlungen. Aus Sicht des ZdK ist es dringend erforderlich, Anreize und Möglichkeiten zur aktivierenden Pflege zu schaffen und auf diese Weise eine Reduzierung des Pflegebedarfs zu ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise Anreize, die die Integration therapeutisch arbeitender Berufe (z. B. Ergotherapeuten) in das Personal von Pflegeheimen anstoßen. Ebenso ist ein flexiblerer Zugang zur Langzeitrehabilitation notwendig, so dass auch Menschen, die in vollstationären Einrichtungen leben, davon profitieren können.
Eigenständige Verantwortungsbereiche professionell Pflegender sind zu wenig ausgebildet. Dies gilt vor allem für die Pflege im Krankenhaus. Formale ärztliche Zuständigkeiten greifen oft in eigentlich pflegerische Kompetenzbereiche ein, so z. B. bei der Dekubitusprophylaxe. Gleichzeitig herrscht in weiten Bereichen ein stark hierarchisches Verhältnis von Medizin zu Pflege. Eingespannt in eine Macht- und Organisationsstruktur, die vor allem an medizinisch-technischen und ökonomischen Vorstellungen orientiert ist, ist selbstverantwortliches pflegerisches Handeln oft Illusion. Die Situation der Pflegenden ist eine typische "Sandwich-Position": Sie sollen zwischen den Interessen der Patienten und Patientinnen und denen der Medizin auf der einen Seite und der Verwaltung auf der anderen Seite "vermitteln". Kommt es zu Konflikten, dienen Verantwortungsappelle in einem solchen Kontext leider nicht selten der Verschleierung nicht hinnehmbarer Verhältnisse.
Pflege als wichtiger Bestandteil des Heilungsprozesses muss als Partnerin in der Versorgung anerkannt werden und eine starke Stellung im Team erhalten. Vorbilder liefern die geriatrische und die Hospizversorgung sowie die palliative Medizin. Dringend notwendig ist eine neue sachgerechte Aufteilung der Verantwortung zwischen Ärzten und Pflege, so dass beide Berufsgruppen gemeinsam Verantwortung für den Patienten wahrnehmen können. In besonderer Weise sehen wir christliche Träger im Gesundheitswesen in der Verantwortung, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Viele Träger sind sich dieser Problematik durchaus bewusst, Zielkonflikte erschweren jedoch oftmals eine Umsetzung zukunftsweisender Veränderungen. Außerdem braucht die Pflege (rechtliche) Rahmenbedingungen, die die Übernahme von Verantwortung ermöglichen. Vor allem durch steigende ambulante Schwerstkrankenpflege ergeben sich neue Aufgaben der Pflege, die in die Leistungskataloge aufgenommen und mit Leistungsträgern verhandelbar sein müssen.
Professionalisierte und lebensweltnahe Pflege schafft Vertrauen
Alten-, aber auch Krankenpflege ist gekennzeichnet durch hohe Fluktuation im Beruf. Diese ist nicht zuletzt Ausdruck beruflicher Über- und Unterforderung. Trotz bundeseinheitlicher Neuregelung der Pflegeausbildung wird der Pflege die Professionalisierung aus Angst vor Kostensteigerung verweigert. Während für Therapeuten, Optiker, Logopäden und eine Fülle von technischen Berufen, die Möglichkeit der universitären Aus- und Weiterbildung besteht, wird der Pflege dies in zahlreichen Bundesländern verweigert.
Das ZdK fordert faire Professionalisierungschancen für die Pflege. Wir benötigen eine breite Palette an Qualifikationen, entsprechend den Entwicklungen bei den Gesundheitsberufen. Für diese Berufe existieren verschiedene Modelle, die die Ausbildung mit einer universitären Aus- oder Weiterbildung verzahnen. Wichtig ist, dass die verschiedenen Modelle einer Pflegeausbildung sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern gegeneinander durchlässig sind. Eine solche Weiterentwicklung der Pflegeausbildung ist auch aufgrund des sich stetig erweiternden Aufgabenspektrums in der Pflege sowie der Fortschritte in Forschung und Wissenschaft erforderlich. Pflegeforschung und pflegewissenschaftliche Erkenntnisse müssen die Grundlage für die unterschiedlichen Curricula liefern. Nur so kann Pflege den aktuellen und vor allem zukünftigen Anforderungen gerecht und das Vertrauen in die pflegerische Versorgung gestärkt werden. Der Abbau der schon jetzt nicht ausreichend vorhandenen Ausbildungsplätze muss rückgängig gemacht werden. Pflege ist ein Berufsfeld mit Zukunft, für das in ausreichender Zahl Pflegpersonal ausgebildet werden muss.
Auch in Deutschland leben verschiedene Kulturen miteinander. Eine legensweltnahe Pflege erfordert, dass die Pflegekräfte schon in der Ausbildung auf die interkulturellen Aspekte ihrer Tätigkeit vorbereitet werden.
Die Würde des Menschen als zentraler Bezugspunkt pflegerischer Versorgung beinhaltet eine Förderung der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in allen Lebensphasen. Dazu gehört es, gute Voraussetzungen für eine Pflege im häuslichen Umfeld zu schaffen. Dies kann nur dort gewährleistet werden, wo Pflegebedürftige und Pflegende Vertrauen haben, dass mit steigender Pflegebedürftigkeit adäquate Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen. Dies setzt eine Pflege voraus, die kleinräumig und lebensweltnah organisiert ist. Hierzu gehören ein Zusammenspiel von beruflicher und nicht-beruflicher Pflege, ein Ineinandergreifen von familiärer und nachbarschaftlicher Unterstützung und professioneller Hilfe sowie die Verzahnung mit teilstationären und stationären Einrichtungen. Neue Wohnformen und ein leichter Zugang zu flexiblen teilstationären Einrichtungen können eine Übersiedlung in ein Heim verhindern.
Um jedoch transparente Strukturen zu schaffen und vorhandene Ressourcen zu verzahnen, bedarf es aus Sicht des ZdK einer wohnortbezogenen institutionalisierten Koordinierung. Eine solche Vernetzung kann z. B. von Pflegenden mit speziellen Gebietszuständigkeiten übernommen werden, denkbar auch in der Trägerschaft von Pfarrgemeinden (vgl. dazu "Caritas der Pfarrgemeinde", Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 18. Januar 1990), oder von Beratungsstellen in kommunaler Trägerschaft. Ansatzpunkte für diese Arbeit bietet das Konzept der "Familiy-Health-Nurse" der WHO. Von dort aus müssen Netzwerke von Freiwilligen und Professionellen gemeinsam gefördert, neue Wohn- und Hilfeformen entwickelt werden. Insbesondere die Anerkennung von Nachbarschaftshilfen sowohl als wichtige Ressource als auch als lebensqualitätsfördernd für alle Involvierten, ist von elementarer Bedeutung. Ebenso bedarf es der Einbindung stationärer Pflegeheime in diese Netzwerke, um sie nicht zu abgeschiedenen Inseln werden zu lassen.
Sind dennoch nicht genügend Ressourcen für eine ambulante Betreuung vorhanden, müssen stationäre Pflegeheime eine Alternative darstellen, in denen dennoch eine eigenverantwortliche Gestaltung des Alltags möglich bleibt. Zur Zeit herrscht in unseren Pflegeheimen auf breiter Basis gravierende pflegerische, medizinische und psychosoziale Unterversorgung. Die Heime sind zu oft von einer endlosen "Ereignislosigkeit" geprägt. Das Klientel ist in den letzten Jahren älter geworden und immer mehr Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen befinden sich in den Heimen. Vor allem die Versorgung von Menschen mit Demenz stellt eines der dringendsten ungelösten Probleme dar. Die Personaldecke mit Fachkräften in Alten- und Pflegeheimen ist zu dünn, um eine qualitativ hochwertige Pflege gewährleisten zu können. Nicht selten werden zur Arbeitserleichterung medizintechnische Eingriffe vorgenommen (wie z. B. PEG-Sonden), die zwar das Pflegeheim rechtlich absichern, jedoch die Eigenständigkeit und oftmals auch den sozialen Kontakt der Bewohner reduzieren.
Das ZdK weist eindringlich darauf hin, dass die zusätzliche Pflegenotwendigkeit bei Menschen mit Demenz, psychischer Krankheit oder mit Behinderung in der Pflegeversicherung gesondert berücksichtigt werden muss. Gleichzeitig muss Pflege Koordinierungsaufgaben zur Einbindung freiwilliger Helfer als Teil ihrer Aufgabe ansehen. Für die Betreuung kranker Menschen ist ebenso eine Kooperation von Krankenseelsorge und Pflege existenziell wichtig. In dieser Zusammenarbeit kommt der ethischen Reflexion pflegerischen und medizinischen Handelns eine besondere Bedeutung zu.
Die Solidarbereitschaft zur Pflege erhalten
Nach wie vor existiert eine hohe Solidarbereitschaft, insbesondere im engsten Familienkreis, zur Übernahme von Pflege. Pflege findet ganz überwiegend durch Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter statt. Familienkonstellationen ändern sich und entsprechen nicht mehr dem Bild der "typischen" Kleinfamilie. Außerhalb der formell registrierten Pflege finden eine Vielzahl weiterer informeller Unterstützungsleistungen durch die soziale Umgebung statt. Diese "quasifamiliären" Netzwerke treten an die Stelle herkömmlicher Familienkonstellationen. Allerdings sind pflegende Angehörige (nicht nur Familienangehörige sondern auch Angehörige weiterer Netzwerke) häufig überlastet. Hilfsangebote für sie existieren kaum, bestehende werden aber bislang auch noch wenig wahrgenommen.
Vorhandene Familiennetze auch außerhalb der "typischen Kleinfamilie" müssen wahrgenommen und gestärkt werden (siehe hierzu auch die Erklärung des ZdK "Mit Behinderung leben: Familiennetze stärken", 25. Januar 2002). Solidarität bedeutet nicht nur auf die Pflegebereitschaft von Angehörigen zu bauen, sondern eine individuelle Pflegegestaltung realisierbar zu machen. Je nach Wunsch und Situation sollte trotz Pflegebedürftigkeit ein Leben im engsten Familienkreis, mit Freuden und nachbarschaftlichen Netzwerken oder auch allein ermöglicht werden. Pflegende Angehörige bedürfen einer Anerkennung und Begleitung, damit sie verantwortlich ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und die Pflege auch für ihr Leben eine Bereicherung darstellt. Außerdem sollte angestrebt werden, die Aufgaben der häuslichen Pflege gleichmäßiger zwischen den Geschlechtern zu verteilen. Männer sollten ermutigt und unterstützt werden, verstärkt Aufgaben in der häuslichen Pflege zu übernehmen.
Zusätzlich muss über Möglichkeiten nachgedacht werden, Pflege durch Angehörige strukturell zu erleichtern. "Pflegezeit/Pflegeur- laub", wie sie in Österreich entwickelt und nun vom Saarland aufgegriffen wurden, sind auf die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen unter Einbeziehung der Arbeitgeber-Positionen weiter zu ent-wickeln.
Zu den strukturellen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Gewährleistung der Pflege gehört die Pflegeversicherung. Im April 2001 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, in der Pflegeversicherung - einer umlagefinanzierten Sozialversicherung, die vorrangig im Alter in Anspruch genommen wird - die Kindererziehung als generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Versicherung explizit zu berücksichtigen. Nur durch einen solchen familienbezogenen Umbau sei die Pflegeversicherung nachhaltig verfassungsgemäß zu entwickeln, so das Verfassungsgericht.
Das ZdK fordert dazu auf, die Auflage des Gerichtes zügig umzusetzen, nicht nur weil das Gericht das Urteil mit klaren Fristen versehen hat, sondern auch, weil die Akzeptanz des Systems von seiner Familiengerechtigkeit nachhaltig abhängt. "Auf Grund des Umlageverfahrens profitieren die Kinderlosen von der Erziehungsleistung der Eltern" (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001). Dabei ist die Entlastung von Menschen, die Kinder erziehen, über den Versicherungsbeitrag herbeizuführen und nicht auf einen immer wieder neu zu diskutierenden Steuerausgleich zu verlagern. Dies bedeutet, dass Menschen, die keine Kinder erziehen, einen entsprechend höheren Beitrag zur Pflegeversicherung leisten müssen. Gleichzeitig muss, um trotz demographischen Wandels eine Solidarität aller auch zukünftig zu gewährleisten, jeder nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Pflegeversicherung beteiligt werden. Hierzu kann auch die Einbeziehung von Menschen außerhalb abhängiger Arbeitsverhältnisse gehören.
4. Zukunft der Pflege
Das Thema "Pflege" ist das Zukunftsthema der Gesundheitsdebatten. Wie die Enquête-Kommission des Landes NRW zu diesem Thema als Vorreiterin deutlich macht, liegen in den ungeklärten Pflege-Fragen die wirklichen Sprengsätze für die Zukunft unserer Versorgung der kranken, behinderten und pflegebedürftigen Menschen. Eine Verdrängung dieses Themas auf Nebenfelder einer hermetisch gegen Pflegeaspekte sich abgrenzenden "Gesundheitsreform" ist mit der aus christlicher Ethik gebotenen ganzheitlichen Betrachtung des hilfsbedürftig kranken Menschen nicht vereinbar. Alle Bemühungen um ein gut ausgebildetes und motiviertes Personal, um eine Verbesserung der Pflege und Sicherung der Qualität sind verbunden mit der Frage der Finanzierbarkeit. Diese Debatte muss jetzt geführt werden, um zeitnah zu tragfähigen Lösungen zu kommen.
Das ZdK setzt sich daher entschieden dafür ein, Pflege in den gesundheitspolitischen Diskussionen den Stellenwert zu geben, den sie verdient. Ebenfalls fordert das ZdK dazu auf, in den kirchlichen Einrichtungen und Diensten des Gesundheitssystems sowie in Pfarrgemeinden die Diskussion zur Zukunft der Pflege auch als Wertedebatte zu führen, bei der besonders die drei Dimensionen der Verantwortung angesprochen werden: die christliche Verantwortung für den Nächsten (Caritas), die von Christen in Heil- und Pflegeberufen, aber auch in der Krankenpastoral, in besonderer Weise übernommen wird, die Verantwortung jedes Einzelnen für seine eigene Gesundheit (Prävention) und die Verantwortung (der Politik) für den Erhalt der Bereitschaft, Gesundheitsrisiken solidarisch zu tragen.
Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 21. November 2003