Religion und Politik in der säkularisierten Gesellschaft: Was für eine Gesellschaft ist das und was bedeutet sie für Religion und Politik?

Vortrag von Prof. Hans Joachim Meyer bei der Festakademie der Konrad-Adenauer-Stiftung anlässlich des 70. Geburtstages von Bernhard Vogel am 16. Januar 2003. - es gilt das gesprochene Wort.

Zum Verhältnis von Religion und Politik in der säkularisierten Gesellschaft in der Bundesrepublik scheint im Prinzip alles gesagt, und dieses Modell ist in sich stimmig und konsequent. Eine Gesellschaft, die auf der Freiheit des Menschen aufbaut und diese ausdrücklich als Grundlage und Kraftquell ihrer Existenz ansieht, ist unvermeidlich und notwendig eine Gesellschaft der Meinungspluralität und des Konflikts der Überzeugungen. Ein Staat, der einer solchen Gesellschaft gemäß ist, kann daher auch nicht eine Überzeugung privilegieren oder gar in den Rang einer staatlichen Vorgabe erheben, kennt mithin, wenn er darin konsistent sein will, weder eine Staatsreligion noch eine Staatskirche. Dieser Staat ist darum aber andererseits, woran uns das inzwischen wohl berühmt zu nennende Wort Ernst-Wolfgang Böckenfördes erinnert, darauf angewiesen, dass sich in eben dieser freiheitlichen Gesellschaft durch den ständigen Wertediskurs Haltungen und Wertevorstellungen herausbilden oder bestätigen, die jenes Maß an Übereinstimmung und Gemeinsamkeit begründen, ohne die eine Gesellschaft auseinander fiele und der Staat handlungsunfähig wäre. Ein solcher gesellschaftlicher Wertediskurs beginnt nicht an einem Punkte Null und findet nicht in einem geschichtslosen Raum statt, auch wenn Geschichtsvergessenheit und Geschichtsverachtung im heutigen Deutschland weitverbreitete Einstellungen sind. Ein Wertediskurs ist vielmehr vor allem eine Auseinandersetzung mit den in der Geschichte gewachsenen geistigen und ethischen Traditionen. Und da unter diesen überall die Religion und bei uns das Christentum eine herausragende Stellung einnimmt, ist es auch immer eine Auseinandersetzung darüber, ob und wie Glaubenshaltungen und Glaubensüberzeugungen tradiert werden und was diese nicht nur für den Einzelnen, sondern für das gesellschaftliche Zusammenleben bedeuten.

Die für unser Thema relevante Frage ist: Welche geschichtliche Perspektive hat diese Auseinandersetzung? Und genauer gefragt: Unter welcher Perspektive wird dabei die Rolle von Kirche und Glauben gesehen? Daraus bestimmt sich, wie das Verhältnis von Staat und Kirche und damit, wie die Erfahrung lehrt, auch in nicht geringem Maße das Verhältnis von Politik und Religion bewertet wird. Wer die Geschichte der Freiheit vor allem als Befreiung von Kirche und Religion betrachtet, dem wird die Trennung von Staat und Kirche gar nicht radikal genug sein können. Dafür steht im freiheitlichen Europa insbesondere die Tradition des französischen Laizismus. Freilich zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika, dass die Trennung von Kirche und Staat – in Erinnerung an die aus Europa mitgebrachten Erfahrungen ihrer Gründer mit religiöser Verfolgung - auch als Freiheit für Religion, nämlich als individuelle und als in der Gesellschaft eigenverantwortlich zu praktizierende Freiheit für Religion verstanden werden kann.

Aus unserer deutschen Geschichte erwuchs – nicht ohne massive Konflikte und, jedenfalls anfänglich, mehr als Kompromiss denn aus Einsicht – ein anderes Modell des Verhältnisses von Staat und Kirche, das die Trennung zugleich als Unabhängigkeit voneinander und Partnerschaft miteinander verwirklicht. Zunächst in der Weimarer Reichsverfassung formuliert, wurde es in den Jahrzehnten der alten Bundesrepublik ausgebaut und verfeinert. Vielen erscheint es bis heute ein Erfolgsmodell und zur Zeit attackieren es nur wenige mit Nachdruck. Nach dem Beitritt der Deutschen in der DDR zur Ordnung des Grundgesetzes wurde es überdies – freilich mit einer nicht unwichtigen Ausnahme – auch in den wieder erstandenen ostdeutschen Ländern übernommen, und zwar durch eigenen gesetzgeberischen Entschluss. Die Ausnahme, nämlich Brandenburg, zeigt jedoch, dass diese Übernahme alles andere als selbstverständlich war. Denn der Widerstand einer christlichen Minderheit gegen das im hoch bedeutsamen Schulbereich praktizierte brandenburgische Modell konnte nicht im Lande selbst, sondern nur unter Verweis auf die bundesdeutsche Rechtsordnung wirksam werden. Und dieser Konflikt wurde beigelegt, aber letztlich nicht entschieden, weil die Gegner des Modells mit einigen Verbesserungen zufrieden waren, weil die Befürworter dieses Modells aus dem gesamtdeutschen Gerede herauskommen wollten und weil das Bundesverfassungsgericht offenbar ein Urteil zu vermeiden suchte. Für die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Brandenburg änderte sich dadurch nichts. Ist dies nun nur eine Ausnahme zum ansonsten in Deutschland selbstverständlichen Verhältnis von Kirche und Staat als unabhängigen, aber kooperierenden Größen?

Ich fürchte - trotz des kaum laut hinterfragten Konsenses, dass sich das deutsche Modell der Staat-Kirche-Beziehungen bewährt hat - ist dieses nicht mehr so selbstverständlich wie im Jahre 1989 – vierzig Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und kurz vor der revolutionären Wende in der DDR. Eine solche Sorge könnte man vor allem auf den hohen Grad von Entkirchlichung in der früheren DDR stützen – ein Prozess, der auch durch die ernsthaft nicht zu bestreitende Bedeutung der Kirchen für den geistigen Weg zu dieser Wende und für deren Friedlichkeit nicht grundlegend verändert oder gar umgekehrt wurde. Mir scheint sogar das Christentum im Osten Deutschlands heute gesellschaftlich weniger wichtig als in den achtziger Jahren vor der Wende. Überdies wäre es ganz unsinnig, den gesamtdeutschen Stellenwert von Entkirchlichung zu leugnen. Mancher im Westen mag zwar geneigt sein, die dort ebenfalls wachsende Distanz zum Glauben und zur Kirche unter den Folgen der Einheit abzubuchen, zusammen mit dem Milliardentransfer, der angeblich die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beendet hat - und nicht die weit verbreitete Reformunwilligkeit einer Besitzstandsgesellschaft und deren Scheu, einer sich global wandelnden Wirklichkeit zu stellen. Wie in anderen Gebieten, so mag gewiss auch beim Stellenwert von Kirche und Glauben die Situation im Osten ein Faktor sein, der eine im Westen ohnehin längst begonnene Entwicklung verstärkt. Entscheidend für die Wirklichkeit Deutschlands ist die Situation im Osten jedoch nicht. Wie selbstverständlich ein gutes Verhältnis von Staat und Kirche und eine konstruktive Beziehung von Politik und Religion ist, hängt im Wesentlichen von jenem Teil Deutschlands ab, der schon vor dem 3. Oktober 1990 die Bundesrepublik war.

Betrachtet man allein die Zahlen, so gäbe es zur Beunruhigung keinen Grund. Zwar erhöhte sich schon in der alten Bundesrepublik die Zahl jener, die keiner christlichen Konfession angehören, von 3,2% im Jahre 1955 auf 16,4% im Jahre 1989. Das vereinigte Deutschland begann 1990 mit 27, 3%. Und diese Zahl erhöhte sich bis zum Jahre 2000, also in zehn Jahren, auf 35%, und zwar überwiegend durch Kirchenaustritte im Westen. Andererseits wird man ein Land mit insgesamt etwa 65%, die einer christlichen Kirche angehören, nicht als christliche Diaspora bezeichnen können. Allerdings ist es für den gesellschaftlichen Stellenwert einer Gruppe und für die Achtung, die ihr entgegenbracht wird, alles andere als unwichtig, ob diese Gruppe zunimmt oder abnimmt. Das gilt selbstverständlich auch, trotz der tiefen geschichtlichen Verwurzelung, für die Christen, für ihren Glauben und für ihre Kirchen.

Für Deutschland ist dies um so bedeutsamer, als hier das Verhältnis von Kirche und Staat nicht nur auf der negativen Religionsfreiheit beruht, also auf dem Recht zur Freiheit von Religion, auch nicht allein auf der individuellen Religionsfreiheit, nach der die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Kirche und seine religiöse Praxis der gleichen Ebene zugewiesen werden wie die Mitgliedschaft in einem Skatverein oder das sonntägliche Fußballspiel. Sondern Religionsfreiheit umschließt ebenfalls die Freiheit zur Gliedschaft in einer Kirche und zum gemeinsamen Glaubensleben sowie nicht zuletzt zum Wirken der christlichen Kirchen in der Gesellschaft und für die Gesellschaft. Was wird aus dieser positiven Religionsfreiheit, die ja vor allem der Inhalt des konstruktiven deutschen Staat-Kirche-Verhältnisses ist, wenn ein großer und einflussreicher Teil der Gesellschaft oder gar ihre Mehrheit an ihr nicht mehr interessiert wäre oder ausdrücklich daran Anstoß nähme. Noch sind dies nur einzelne. Aber ist es nicht Zeit, genauer hinzuschauen, was eine säkularisierte Gesellschaft ist oder sein könnte und was die Stellung der Christen in dieser Gesellschaft und zu dieser Gesellschaft sein sollte.

Man könnte den Begriff der säkularisierten Gesellschaft einen glücklichen Missgriff nennen. Einen Missgriff, weil er einen ursprünglich kirchlichen Rechtsvorgang, der sich auf Personen innerhalb der Kirche bezog, durch kühne Analogie auf den Übergang von kirchlichem Gut in weltliches Eigentum bezog. Einen gleichwohl glücklichen Missgriff deshalb, weil sich dieser Ausdruck ganz generell auf die Zurückdrängung kirchlicher Macht und kirchlichen Einflusses zugunsten weltlicher Kräfte ausweiten ließ: Was zunächst nur mit bestimmten Kirchengut geschah, widerfuhr nach und nach dem ganzen Herrschafts- und Einflussbereich der Kirche. Glücklich vielleicht auch deshalb, weil die semantische Unschärfe des Begriffs ihm seine Schärfe zu nehmen schien und ihn für Gegner und Freunde des Christentums gleichermaßen verwendbar machte. Dennoch – wie mir jedenfalls scheint – auch heute noch ein Missgriff, weil er dazu führen kann, den Christen die damit gemeinte Wirklichkeit und deren Konsequenzen zu verschleiern. Denn es ist ja in Wahrheit eine große Bandbreite von Wirklichkeiten, die der Begriff der säkularisierten Gesellschaft abdeckt. Da gab es die weithin christlich geprägte deutsche Gesellschaft in der gerade gegründeten Bundesrepublik des Jahres 1949, in der die Kirchen zwar seit dreißig Jahren vom Staat getrennt waren und dies nach der erschreckenden Erfahrung mit der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus auch innerlich akzeptierten, wegen eben dieser Erfahrung jedoch zugleich vom neuen demokratischen Staat als geachtete Partner behandelt wurden und im Sozial- und Bildungsbereich wesentliche Aufgaben erfüllten. Und da gibt es die durchaus nicht unrealistische Perspektive einer westeuropäischen Gesellschaft, in der die Christen nur noch eine politisch und geistig einflusslose Minderheit sind und die Kirchen nur noch als Kultvereine für wenige angesehen werden. In einer solchen Gesellschaft wäre unser Thema Religion und Politik in der säkularisierten Gesellschaft ohne jede Bedeutung, auch für die Christen selbst. Vielleicht gibt es dann noch Weihnachtsbäume und den sogenannten Weihnachtsmann. Aber schon heute, so zitiert Landesbischöfin Margot Käßmann eine Umfrage, weiß schon 39% der Sechs- bis Zwölfjährigen den Grund dieses Festes nicht. Jeder dieser Sechs- bis Zwölfjährigen hat Eltern, die ihrem Kind diesen Grund nicht gesagt haben – sei es, weil er ihnen selbst nicht mehr wichtig ist, sei es, weil sie dem Aberwitz folgen, sie dürften ihren Kindern nichts über den christlichen Glauben erzählen, damit diese sich später frei entscheiden können. In Wahrheit haben sie damit für ihre Kinder schon gegen den Glauben entschieden. Seien wir uns also nicht zu sicher zu wissen, wie eine säkularisierte Gesellschaft der Zukunft sein kann. Und täuschen wir uns nicht über die 65% der Deutschen, die einer christlichen Kirche angehören. Nach meiner Überzeugung sind in Deutschland die bekennenden und praktizierenden Christen eine Minderheit, auch im früheren Westen und zwar nicht erst seit 1990.

Gewiss ist die Hauptsorge der Christen nicht die Zukunft der Gesellschaft, sondern die Zukunft des Glaubens. Auch wenn die Christen nur noch eine kleine Minderheit sind, lebt der Glaube durch sie und er kann, wenn Gott es will, auch wieder zur maßgebenden Lebensquelle der Gesellschaft werden. Ein lebendiger Glaube darf aber nicht den Mitmenschen und die Mitmenschen ausblenden und mithin auch nicht die Gesellschaft. Ein Glaube ohne gesellschaftliche Dimension ist weder das Salz der Erde noch das Licht auf dem Leuchter noch die Stadt auf dem Berge. Darum ist die Frage nach der Beziehung von Religion und Politik in der säkularisierten Gesellschaft, ganz unabhängig davon, wie christlich oder wie entchristlicht diese ist, eine Frage an die Christen in einer solchen Gesellschaft: Was ist das für eine Gesellschaft? Und nehmt ihr Anteil an dieser Gesellschaft?

Betrachten wir zunächst diese Gesellschaft. Nach häufig geäußerter Überzeugung ist der eigentliche Ansatzpunkt des christlichen Weltdienstes – sei es des kirchlichen Amtes, sei es des gesellschaftlichen Engagements von Laienchristen – das Gemeinwohl der Gesellschaft, ihr bonum commune, dessen Definition und dessen Verwirklichung. In dem von der Görresgesellschaft herausgegebenen Staatslexikon fand ich die Aussage:

„Die Kirchen haben die essentielle Aufgabe, bei allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Interessenkonflikten die ethischen Bedingungen der Gemeinwohlverwirklichung in Erinnerung zu rufen. Darin liegt ihr politisches ‚Wächteramt’.“ (II, 861)

Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass die von mir benutzte Ausgabe des Staatslexikons eine milde Gabe für mich als neu gewonnenen Bundesbürger war und aus dem Jahre 1986 stammte. Ich habe mich nicht vergewissert, ob die soeben zitierte Feststellung in folgenden Ausgaben noch enthalten ist. Wundern würde mich eine Änderung nicht. Zu meinen unvergesslichen ersten Erfahrungen als bundesdeutscher Novize gehört es, bei einer Tagung eben dieser Görresgesellschaft einen führenden Politikwissenschaftler sich über den Gemeinwohlbegriff in aller altersmilden Weisheit köstlich erheitern zu sehen. Vor noch gar nicht langer Zeit meinte ein Jurist, der ein nicht ganz unwichtiges Amt in einem mir näher bekannten ostdeutschen Land innehat, in einem Leserbrief an eine führende Tageszeitung, die natürlich weiter westlich erscheint, schreiben zu sollen, der Satz „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ und „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ seien beide gleich falsch. Ich sollte, um mich nicht als Parteipropagandisten einzuordnen, hinzufügen, dass es sich in beiden Fällen um Personen konservativer Provenienz handelt. Selbst wenn die Ausgabe des Staatslexikon weiterhin gültig ist, so wird man den entsprechenden Abschnitt auch nicht gerade ein Hohes Lied auf das Gemeinwohl nennen können. Eher wohl ein verlegenes von einem Fuß auf den anderen tretendes Entschärfen seines Anspruchs.

Die gängige Begründung für einen solchen Umgang mit dem Begriff des Gemeinwohls klang in dem vom mir angeführten Zitat schon an. Und zweifellos ist der Begriff der Gemeinschaft durch die totalitäre Diktatur des Nationalsozialismus in schlimmer Weise missbraucht worden. Auch die gescheiterte Gesellschaftsutopie des Sozialismus mit ihrer starken Gemeinschaftsorientierung wird gern angeführt, um das freiheitsgefährdende Potential des Gemeinwohlbegriffes hervorzuheben. Eine solche Inanspruchnahme hebt aber den Wert und die Berechtigung dieses Begriffs nicht auf, genau so wenig wie den Wert und die Berechtigung anderer missbrauchter Begriffe, wie den der Nation, der Mutterschaft oder des Patriotismus, die im Gefolge von 68 in der alten Bundesrepublik zu Totschlagskeulen für die innenpolitische Auseinandersetzung umfunktioniert wurden. So wurde eine geistige Situation geschaffen, in der das berühmte Wort John F. Kennedys, man solle zunächst fragen, was man für sein Land tun kann, ehe man fragt, was das Land für uns tun kann, in Deutschland nur hämisches Gelächter auslösen würde. Für die Realitätsnähe des in Deutschland vorherrschenden Verständnisses einer individualistisch geprägten Gesellschaftsauffassung ist dies entlarvend. Denn wenn es eine moderne Gesellschaft mit einer ausgeprägten Tradition des Individualismus gibt, dann ist es die der Vereinigten Staaten. Nur weiß man dort gerade darum auch vom Wert der Bürgertugenden und eines demokratischen Patriotismus für die innere Balance einer Gesellschaft, während bei uns der Hinweis auf solche Gemeinschaftsverpflichtungen viele eher unangenehm berührt.

Statt dessen ist die bundesdeutsche Gesellschaft zur Summe der rechtlich gesicherten individuellen Besitzstände geworden. Und das prägt ihre Mentalität und ihren Diskurs. So gerät Leistung zu oft zum Synonym für individuelle Rücksichtslosigkeit, die ohne Bezug ist zur gesellschaftlichen Anerkennung, und Solidarität zu oft zu einer Allianz der individuellen Ansprüche und Forderungen an Staat und Politik, die nichts mehr weiß von der biblischen Mahnung, einer trage des Anderen Last. Die Frage nach Eigennutz oder Gemeinnutz berührt den Kern unserer freiheitlichen Demokratie. Zu viele Deutsche haben sich einreden lassen und wollen auch nur zu gern glauben, der Begriff des Gemeinwohls stamme aus vor- und undemokratischen Zeiten und bedrohe ihre Freiheit. Meinen sie die Freiheit oder meinen sie ihre Freiheiten? Oder was soll es heißen, wenn die Freiheitsrechte ausschließlich als Abwehrrechte gegen den Staat charakterisiert werden? Sollte das Grundgesetz mit seinem Katalog der Grundrechte nicht vielmehr die Grundlagen unseres mitmenschlichen Zusammenlebens in einer freiheitlichen Demokratie beschreiben? Nicht die je individuellen Freiheiten garantieren die Zukunft dieser Gesellschaft, sondern die gemeinsame Freiheit, d. h. das Recht zur gemeinsamen Entscheidung und die Pflicht zur gemeinsamen Verantwortung.

Kein demokratischer Staat und keine freiheitliche Gesellschaft sind, wie die Geschichte lehrt, auf Dauer lebensfähig, wenn sie das Gemeinwohl gering schätzen. Eine rein individualistische Gesellschaft wird denknotwendig dazu tendieren, Politik und Religion nur als Dienstleister zu betrachten. Und die Erwartungen, die an diese Dienstleistungen geknüpft werden, sind unerfüllbar. Wird das Gemeinwohl als Basis und Bezugspunkt einer konstruktiven Partnerschaft von Staat und Kirche unterminiert und diskreditiert, dann erscheint in dieser Partnerschaft die Kirche nur noch als Advokat und Lobbyist in eigener Sache oder als Sozius in einer Firma, die mit unbezahlbaren Rechnungen operiert und also immer kurz vor dem Bankrott steht. Gewiss muss in einer freiheitlichen Gesellschaft um den Inhalt und die Grenzen des Gemeinwohls immer neu gerungen werden, denn es ist keine vorgegebene und für alle Zeiten festgeschriebene Größe. Aber dieser Abwägungsprozess kann nicht gelingen, wenn der langfristige und nachhaltige allgemeine Nutzen zunächst von vornherein unter den Generalverdacht gestellt wird, der Freiheit zu schaden und allenfalls als notwendiges Übel hinnehmbar zu sein. Wer will, dass die Kirche Partner im gesellschaftlichen Diskurs bleibt und die Religion eine öffentlich bedeutsame Angelegenheit, der muss in unserer säkularisierten Gesellschaft den Respekt vor dem Gemeinwohl stärken und hochhalten.

Niemand kann bestreiten, dass die Christen eine bedeutsame Ressource für den Stellenwert des Gemeinwohls sind. Wieweit diese Ressource zum Einsatz kommt, hängt allerdings in hohem Maße von ihrer Sicht dieser Gesellschaft ab und von ihrem Verständnis der Rolle der Kirche in dieser Gesellschaft. Selbstverständlich geht es hier nicht in erster Linie um politische Programme und Aktivitäten, sondern um grundsätzliche Glaubensüberzeugungen von Gott und seiner Schöpfung, vom Sinn des Lebens und der Bestimmung der Welt und um ethische Werte und Haltungen, die im christlichen Glauben ihren Grund und ihre Wurzel haben. Es hieße, das Spannungsverhältnis von Glauben und Geschichte zu verkennen und das Gewicht der je eigenen Gewissensentscheidung des Christen zu leugnen, wollte man diese Grundüberzeugungen gleichsam politisch umrechnen. Dennoch ist es auch eine Erfahrung der Geschichte, dass es für den Charakter einer Gesellschaft nicht unwichtig ist, wie weit sich Christen der öffentlichen Dimension ihres Lebens aus dem Glauben heraus bewusst sind und entsprechend handeln.

Gewiss ist, allgemein gesprochen, in Deutschland das Maß des öffentlichen Interesses von Christen nach wie vor bedeutsam. Dennoch gibt es Tendenzen, die geeignet sind, die Rolle der Christen und ihrer Kirchen in der säkularisierten Gesellschaft, insbesondere, wenn sich diese zu einer partiell entchristlichten Gesellschaft entwickelt, zu schmälern und zu beeinträchtigen.

Eine nicht geringe Zahl von Christen in Deutschland ist sich, so fürchte ich, über den Ernst der Realität nicht im Klaren. Zwar sind sie sich der gesellschaftlichen Dimension von Kirche und Glauben mehr oder weniger deutlich bewusst. Sie halten jedoch – jedenfalls im älteren Teil der Bundesrepublik – Deutschland immer noch für ein christlich geprägtes Land, nehmen darum den Unterschied zwischen christlich und nichtchristlich motivierten Auffassungen oft nicht wahr, ja, sie wollen ihn oft nicht sehen und sind daher auch geneigt, Auffassungen und Wertmaßstäbe, die in dieser Gesellschaft, insbesondere in der veröffentlichten Meinung gängig sind, als auch für sie maßgeblich anzusehen. Für nicht wenige gilt es geradezu als christliche Tugend, in diese Gesellschaft völlig einzutauchen und peinlich darauf zu achten, ihr Tun nicht als Bekenntnis, das überzeugen will, erscheinen zu lassen. Ein Wort wie Mission bereitet ihnen körperliches Unbehagen, weil sie es als Affront von Andersdenkenden deuten. Wenn ihr Christsein öffentlich wird, dann eher als Anfrage an Glauben und Kirche.

In diesem Prozess der von Christen selbst betriebenen Entchristlichung dieser Gesellschaft spielen einflussreiche Umdeutungen der beiden für unser Zusammenleben wichtigen Begriffe der Toleranz und des Dialogs eine verhängnisvolle Rolle. Denn Toleranz heißt in seiner heute populären Umdeutung nicht, eine eigene Überzeugung zu haben und dennoch andere Überzeugungen zu achten, sondern auf seine eigene Überzeugung, jedenfalls, wenn sie christlich tradiert ist, zu verzichten und jede andere Auffassung hinzunehmen. Nach diesem Verständnis wird z. B. in einem konfessionellen Kindergarten das christliche Tischgebet spätestens dann eingestellt, wenn ein nichtchristliches Kind diesen Kindergarten besucht. Und Dialog heißt nach diesem Verständnis nicht, dass man in Respekt vor einander um das Richtige ringt, sondern um fast jeden Preis Konsens und Harmonie mit allem und jeden herstellen will. Als Mehrheit, so wird suggeriert, müssten die Christen hier doch ihre Toleranz und ihre Dialogfähigkeit nachweisen, zumal sie ja ohnehin schon große geschichtliche Schuld auf sich geladen hätten.

Je klarer die Christen begreifen, dass eine solche Sicht die gesellschaftliche Realität verfälscht und sie in jeder Debatte auf die Anklagebank setzt, um so mehr werden sie sich der Notwendigkeit bewusst werden, durch ein unverwechselbares Profil erkennbar zu sein und zu lernen, ohne Selbstgerechtigkeit ihre Positionen gleichermaßen fest und illusionslos zu vertreten. Dabei ist es gewiss wertvoll und hilfreich, wenn wir in der öffentlichen Debatte auf das Grundgesetz und auf darauf fußende Gerichtsurteile verweisen können und wenn es gelingt, durch ethische Allianzen zu öffentlichen Erfolgen zu kommen. Das macht aber aus dem Grundgesetz kein Glaubensdokument und aus der gesellschaftlichen Mehrheit keine Glaubensinstanz. Mehrheiten sind nicht stabil und die Verfassung kann durch Richter ideologisch umgedeutet werden. Wir haben das mehr als einmal erfahren. Der Wertekonsens einer freiheitlichen Gesellschaft ist keine stabile Größe, sondern das jeweilige Produkt des ständigen Wertediskurses und Wertewandels. Jene werden den Wertekonsens am stärksten beeinflussen, die entschlossen sind, ihn zu prägen, ohne sich von ihm abhängig zu machen.

Es gibt wiederum andere Christen, die das Zerbröseln der gesellschaftlichen Stellung von Kirche und Glauben durchaus sehen, dies aber nicht als einen geschichtlichen Verlust betrachten. Ihnen ist Glaube allein eine persönliche Angelegenheit geworden, während sie zur Gesellschaft und insbesondere zur Politik eher auf Distanz halten. Unbehagen am öffentlichen Engagement von Christen und damit auch am kooperativen Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland wird dann leicht zur gern kultivierten Grundstimmung. Nach einem solchen Verständnis hält sich der wahre Christ von der Politik und erst recht von der Macht fern, auch wenn sie in der freiheitlichen Demokratie politische Verantwortung bedeutet. Statt dessen pflegt man seine biographischen Brüche und Risse, kokettiert auch mit dem Ideal einer Kirche in Armut und dem Glauben als subversivem Unterwandern der Gesellschaft, ohne aus eigener Erfahrung zu wissen, was das bedeutet. Es klingt aber gut, wenn der Einzelne, der sich zum Glauben bekehrt, zum authentischen Repräsentanten des Christlichen erhoben wird, auch wenn dies an der Wirklichkeit der Kirche und ihrer Geschichte weithin vorbei geht. Aus richtigen Analysen unserer heutigen Gesellschaft gewinnt die Haltung gewollter Öffentlichkeitsdistanz verquere Rechtfertigungen für ein Glaubensleben jenseits der verfassten und sich gesellschaftlich engagierenden Kirche, was die angenehme Konsequenz hat, sich um das Schwinden der christlichen Glaubenstradition in Europa keine großen Sorgen machen zu müssen. Häufig, insbesondere bei katholischen Christen, steht im biographischen Hintergrund die Enttäuschung darüber, dass sich viele Erwartungen, die das II. Vatikanische Konzil geweckt hatte, nicht erfüllt haben. Nun waren einige dieser Erwartungen gewiss illusionär, weil sie darauf setzten, den Grundkonflikt zwischen Glauben und Welt aufzuheben und die ständige kirchliche Erneuerung der Kirche ein für allemal erfolgreich abzuschließen. Aber auch ich bin traurig darüber, dass viele richtige und notwendige Einsichten und Anstöße, zu denen sich das Konzil in einer Sternstunde der Kirchengeschichte durchgerungen hat, bis heute kaum in Angriff genommen worden sind, ja, ihre Verwirklichung nicht selten behindert oder zurückgenommen wurde. Dennoch kann dies für jemanden, der davon überzeugt ist, dass der Glaube zum Heil notwendig ist und dass Glaube und Kirche zusammen gehören, kein Grund sein, die Kritik an der Kirche höher zu stellen als die Treue zur Kirche. Nur in Treue zur Kirche wird Kritik der Kirche in der Kirche und für die Kirche wirksam, wenn vielleicht auch erst nach langer Zeit. Es ist aber eine typische Eigenschaft des Individualismus, keine Geschichte jenseits seiner eigenen Existenz und Selbstverwirklichung kennen zu wollen.

An der notwendigen Treue zur Kirche lässt sich wiederum eine andere Richtung von Christen nicht übertreffen. Ihre Konsequenz daraus ist jedoch, deshalb auf jede Art von Kritik an der Kirche, ja, auch nur von Dialog in der Kirche empört zu reagieren. Denn das wichtigste Kriterium wahren Glaubens und wahrer Kirchlichkeit ist ihnen eine in Regeln und Normen gefasste Unveränderlichkeit. In einer Welt des Wandels wollen sie Dauer, in einer Zeit der Unsicherheit Gewissheit, in einer Gesellschaft der Debatte und des Dialogs schweigenden Gehorsam. Ihr Ideal ist das der Kirche des 19. Jahrhunderts – das eines Felsens gegen die Zeit. Dass auch damals die Kirche kein monolithischer Block war, sondern sich mühsam und streitend ihren Weg suchte und dass sie damals Irrtümer vertrat, die zu nennen heute einfach nur noch peinlich ist, weigern sie sich zur Kenntnis zu nehmen. Während die meisten unserer Zeitgenossen die Geschichte als Arsenal von Wurfgeschossen gegen die Kirche verwenden, ist diesen Leuten die Kirchengeschichte ein strahlender Hymnus unangefochtener Selbstgerechtigkeit. Nur die Gegenwart stört für sie das schöne Bild. Denn die Kirche kann selbstverständlich nicht, wie sie zu meinen scheinen, gleich einer militärischen Formation in Reih’ und Glied durch die Gesellschaft und durch die Geschichte marschieren. Sie konnte das nie, weshalb denn auch alle Modelle in dieser Richtung gescheitert sind. Darum hat auch das II. Vatikanische Konzil das Bild des Volkes Gottes gewählt, um die Kirche zu beschreiben, und überdies die eigene Verantwortung der Laienchristen für deren gesellschaftliches Handeln eindringlich unterstrichen. Ja, mehr noch: Das Konzil hat ausdrücklich auf die Legitimität politischer Pluralität unter Katholiken auf der Grundlage des Glaubens hingewiesen. Ist es ein Zufall, dass sich jene, denen jedes freie und offene Wort in der Kirche missfällt, fast immer auch in wütenden Ausfällen und miesen Verdächtigungen gegen die Politik und die Politiker ergehen, insbesondere gegen solche, die sich dieser Aufgabe aus christlicher Verantwortung stellen. Manche Leserbriefe legen jedenfalls den Verdacht nahe, dass, wer etwas gegen eine dialogische Kirche hat, auch nicht begreift, dass freiheitliche Politik nur diskursiv und dialogisch vorgehen kann. Wir leben nicht mehr in einer obrigkeitlich verfassten Gesellschaft und darum ist auch die Zeit einer obrigkeitlich verfassten Kirche vorbei. Zwar verdient eine Kirche, die durch eine Ordnung der Unfreiheit an ihrer freien Entfaltung gehindert und zum Schweigen verurteilt ist, unseren Respekt und verlangt unser Mitgefühl. Mit Sicherheit kann sie aber nicht das Vorbild für eine lebendige Kirche in einer politischen Ordnung der Freiheit sein. In einer freiheitlichen Gesellschaft kann die Kirche, können die sich gesellschaftlich engagierenden Christen nur mit den Mitteln der Freiheit den Glauben wirksam bezeugen.

Neben dem Stellenwert des Gemeinwohls in der Gesellschaft ist das gesellschaftliche, ist nicht zuletzt das eigentlich politische Engagement von Christen, seien sie die Mehrheit oder die Minderheit in der Gesellschaft, die entscheidende Antwort auf die Frage, ob es in der säkularisierten Politik der Zukunft ein gewiss spannungsvolles, aber fruchtbares Verhältnis von Politik und Religion geben wird. Diese Antwort wird auch darüber entscheiden, ob das für Deutschland charakteristische Verhältnis von Staat und Kirche, das auf dem Verständnis von Religion als einer öffentlichen Sache beruht, eine Zukunft hat. Denn dieses Verhältnis hängt letztlich nicht von Strukturen, Apparaten und Verträgen ab, so nützlich und unentbehrlich diese – entgegen dem heute weit verbreiteten und gern gepflegten antiinstitutionellen Vorurteil - für konkretes Handeln sind. Maßgeblich sind die geistigen Voraussetzungen, auf denen die Stellung des Christentums in der Gesellschaft beruht, und die Klarheit und Entschlossenheit, mit der die Christen zum Wertefundament der Gesellschaft beitragen und dies mitgestalten.

Sich darum in vielen Jahrzehnten vorbildlich und unermüdlich zu mühen, ist, verehrter Herr Bernhard Vogel, Ihre eindrucksvolle Lebensleistung. Sie sind darum ein Beispiel und eine Ermutigung für alle, die sich für ein lebendiges Christentum in Deutschland und für eine gute Zukunft der deutschen Gesellschaft einsetzen. Beides ist für Christen nicht voneinander zu trennen. Darum habe ich es auch in dieser Feier zu Ehren Ihres siebzigsten Geburtstages für richtig gehalten, über erkennbare Gefahren für diese Zukunft zu sprechen.

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer

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