Katholische Verbände: Denkmäler vergangener Zeiten oder Hoffnung für die Zukunft?
Rede von ZdK-Präsident Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen des "Tag der Verbände" - es gilt das gesprochene Wort
Wir wissen es alle aus trauriger Erfahrung: „Verbandskatholizismus“ gehört zu den Begriffen, die in die Defensive geraten sind – in der Gesellschaft und nicht minder in der Kirche. Damit befinden sich die katholischen Verbände allerdings in guter Gesellschaft, denn von solchen Wörtern und Begriffen gibt es heute nicht wenige. Denken wir doch nur an Ehe, Elternschaft und Gemeinwohl, aber auch an die Liebe zu seinem Land und zu seiner Sprache. Bevor die Menschen zu einem eigenen Urteil kommen können, hat das Vorurteil schon von vielen von ihnen Besitz ergriffen. Allem, was gemeinsame Verpflichtung und gemeinsame Verantwortung bedeutet, gelten seit längerem die Attacken eines hämischen-aggressiven Willens zur Bindungslosigkeit und Geschichtsverachtung. Das ist zwar nur ein schwacher Trost, aber es ist eine Tatsache, die eigentlich nachdenklich stimmen sollte. Zu oft nämlich ist schon behauptet worden, alle menschlichen Einsichten und Erfahrungen der Vergangenheit seien hinfällig und wertlos.
In Wahrheit sind es oft zeitbeständige Einsichten und Erfahrungen, die sich in solchen in der Geschichte gewachsenen Formen gemeinschaftlichen Handelns niederschlagen. Nicht selten hat sich gerade jenes als wertbeständig erwiesen und als unverzichtbar, was angeblich durch eine neue Zeit überholt und überflüssig geworden sein sollte. Nichts ist weniger überzeugend als der Verweis auf den Wechsel der Moden und Launen. Setzen wir also aller Stimmungsmache die ruhige und selbstbewusste Frage entgegen: Was ist die Alternative? Und ist diese zukunftsfähig? Zukunftsfähig kann nur sein, was nicht nur über den Tag und das Jahr von Bestand sein kann, sondern so angelegt ist, dass es auch über das Leben des Einzelnen hinausweist.
Darum enthält unser Thema auch eigentlich keine Alternative. Wenn man es beim Wort nimmt, dann behauptet es auch nicht, eine Alternative zu sein. Ein Denkmal ist seinem Wortsinn nach nämlich etwas, was uns auch heute noch etwas zu sagen hat. Die Leistung der katholischen Laien im 19. Jahrhundert, als wesentliche Elemente des deutschen Verbandskatholizismus geschaffen wurden, war von der richtigen Erkenntnis getragen, dass die heraufkommende bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft der Eigenverantwortung sein würde. Wobei sich, was immer noch richtig ist, Eigenverantwortung nicht in Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit, sondern vielmehr im solidarischen Handeln verwirklichte. Wer seine eigene Verantwortung für das allgemeine Wohl erkennt und entsprechend handelt, geht einen wichtigen Schritt zur Freiheit. Denn die Konsequenz der gesellschaftlichen Freiheit bedeutet, dass jeder vor seinem Gewissen verpflichtet ist, dass zu tun, was notwendig ist, aber ohne sein eigenes Handeln nicht getan würde. Es ist dies eine Erkenntnis, die meist nur dann mit Aussicht auf Erfolg umgesetzt werden kann, wenn man sich mit anderen dauerhaft und verlässlich zusammen tut und dafür die geeigneten Formen und Strukturen begründet.
Diese Wahrheit hat nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, was man gar nicht nachdrücklich genug jenen entgegenhalten muss, die mit jener bekannten ja-aber-Haltung für die Vergangenheit das notgedrungen zugeben, was sie für die Gegenwart bestreiten. Was ganz generell für bürgerschaftliches Handeln gilt, ist nicht minder richtig für die katholischen Verbände. Als sie sich kraftvoll für die Rechte und Chancen der deutschen Katholiken und für die Minderung der sozialen Not einsetzten, leisteten sie Wesentliches für die Festigkeit der religiösen Überzeugung und für die Ausbildung eines nüchternen und zupackenden Bürgersinns. Zugleich trugen sie damit dazu bei, dass sich in Deutschland ein freiheitliches Bewusstsein ausbildete. Trotz des tiefen geschichtlichen Falls der Deutschen, als es den Nationalsozialisten gelang, die erste deutsche Republik zu zerstören und einen schrecklichen Krieg zu entfesseln, gehört diese Tradition zu den Fundamenten unserer heutigen Demokratie. Und entgegen allen individualistischen Behauptungen gilt auch heute: Der Geist einer Demokratie lebt vor allem vom gemeinsamen Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
Freilich umfasst die Geschichte nicht nur Tradition und Kontinuität, sondern auch Wandel und Fortschritt. Ein lebendiges Verhältnis zur Geschichte erfordert daher nicht nur treues Festhalten, sondern auch kritische Nachdenklichkeit und mutiges Weiterdenken. So ist nicht zu bestreiten, dass es lange ein Motiv der Verbände war, das katholische Leben in Deutschland flächendeckend und buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre zu erfassen und in einer Sondergesellschaft zu integrieren, deren Gestalt man meinte, direkt aus dem Glauben und den kirchlichen Lehren ableiten zu können. Einer solchen Absicht lag ein gründliches Missverständnis der Beziehung zwischen Glauben und Geschichte und ein erhebliches Maß an Misstrauen gegenüber der Moderne zu Grunde. Was schon im Ansatz irrig war, ist im 20. Jahrhundert durch die geschichtliche Entwicklung mehr und mehr ad absurdum geführt. Das II. Vatikanum hat, als es die eigene Verantwortung des Laien in gesellschaftlichen Angelegenheiten unterstrich und die damit verbundene politische Pluralität unter Katholiken ausdrücklich anerkannte, solchen Vorstellungen auch theoretisch den Boden entzogen. Daher kann es auch kein Ziel mehr sein, im Verbandskatholizismus ein Gegenüber zur Gesellschaft zu schaffen. Gleichwohl frage ich mich, ob ein solcher Gedanke trotz des Reformwillens in unseren Verbänden nicht gelegentlich faktisch weiterlebt, dann nämlich, wenn dringend gebotene strukturelle Veränderungen und organisatorische Neuzuschnitte auf Widerstand stoßen. Denn darüber sollte Klarheit herrschen: Bewahrenswert ist am deutschen Verbandskatholizismus das gemeinsame Handeln katholischer Laien in verlässlicher und verbindlicher Zusammenarbeit und in stabilen Formen. Bewahrenswert sind nicht unbedingt die konkreten Strukturen, die einmal zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entstanden sind. Ganz generell gilt: Eine Idee ist um so lebendiger, je eher sie fähig und willens ist, sich dafür immer wieder die geeigneten Strukturen neu zu schaffen. Und eine Idee ist um so bedrohter, je mehr sie sich in konkreten Strukturen verkrallt.
Das trifft nicht nur auf katholische Laienverbände zu. Die katholische Kirche liefert insgesamt und leider bis auf den heutigen Tag immer wieder Beispiele dafür, wie das Festhalten an bestimmten Strukturen als Treue zum Glauben missdeutet wird. Nicht selten geschieht dies sogar mit der fromm klingenden Begründung, Strukturen seien nicht so wichtig und darum Strukturänderungen nicht notwendig. Genau umgekehrt ist es richtig: Weil Strukturen gegenüber dem Inhalt zweitrangig sind, müssen sie geändert werden, wenn sie durch die Geschichte überholt sind. Denn die konkreten Strukturen sind immer geschichtliche Größen: Sie kommen und gehen. Weigert man sich, sie rechtzeitig und angemessen zu verändern oder zu ersetzen, dann besteht die Gefahr, dass ihre Bewahrung, ob man es will oder nicht, wichtiger wird als die Idee und diese verdunkelt. Diese einfache Wahrheit ist durch den Gang der Geschichte immer wieder bewiesen und erhärtet worden.
Es gibt aber nicht nur das keinem Argument zugängliche Festhalten an überholten Strukturen. Was unsere Zeit vor allem charakterisiert, ist die Verachtung von Strukturen und Institutionen. Es ist heutzutage populär und gilt als ein Ausweis von Modernität, Normen und Institutionen gering zu schätzen. Und viele halten es für einen Ausdruck von Freiheit, wenn man sich über Normen und Institutionen hinwegsetzt. Das antiinstitutionelle und antistrukturelle Vorurteil, das heute weithin das Denken in unserer Gesellschaft bestimmt, ist einer der Gründe für die Geringschätzung, mit der die katholischen Verbände zu kämpfen haben – wie viele andere Strukturen und Institutionen auch. Der Weg zur dauerhaften Wirkung führt aber nur über Verbände und Institutionen und über Strukturen und Gremien. Allerdings kann niemand in Strukturen und Gremien auf Dauer erfolgreich handeln ohne Augenmaß, Realitätssinn, Nüchternheit, Beharrlichkeit, Verlässlichkeit und nicht zuletzt ohne die rechte Mischung von Grundsatzfestigkeit und Kompromissfähigkeit. Mit solchen Eigenschaften kommt man nicht auf die Welt, sondern sie werden im Handeln ausgebildet, allerdings nicht von selbst, sondern nur in Verbindung mit dem festen Willen, zu einer Haltung zu finden, die sich am Gemeinwohl und am Respekt vor dem Mitmenschen orientiert und die blanken Eigennutz und opportunistisches Karrierestreben ablehnt.
Ein solcher Wille und eine solche Haltung orientieren sich an Vorbildern und entstehen durch Erziehung. Diese Erziehung ist wohl der wichtigste Dienst, den die Generation der Eltern der Generation ihrer Kinder leisten muss. Ist es zu hart zu sagen, dass sich viele in der älteren Generation genau diesem Dienst entzogen haben? Aber es ist eine Illusion zu meinen, man könne und dürfe unter dem richtigen Vorsatz, die Kinder sollten es einmal besser haben, dem Generationenkonflikt ausweichen und die nach uns Kommenden auf die Herausforderungen des Lebens nicht wirklich vorbereiten. Das Ergebnis sind zu häufig rein individualistische Lebenskonzepte, ein völliges Unverständnis für die Notwendigkeiten und Anforderungen gesellschaftlichen Engagements und eine ebenso wohlfeile wie kenntnislose Verachtung der Politik, was unserer Demokratie noch einmal kreuzgefährlich werden kann. Und nicht zuletzt führt dies zu einer mehr oder weniger große Distanz zum Glauben und zur Kirche.
Die Bereitschaft zur öffentlichen Verantwortung und zum gemeinsamen Handeln gehören aber zu den Fundamenten einer Bürgergesellschaft, die ja nicht weniger, sondern viel mehr leisten muss als von der Gesellschaft unter obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen zu leisten war. Und wenn Glauben und Kirche keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit mehr sind, überleben sie nur, wenn sich die Christen deutlich zu dem bekennen, was ihre Überzeugung ist, und dies in ihrem Leben auch praktizieren. Darum ist der Traditionsbruch zwischen den Generationen, der in Deutschland besonders tief ist und der in seiner Schärfe nur durch die Pseudotoleranz fast grenzenloser Hinnahme von allem und jedem ein wenig verschleiert wird, auch eine Gefahr für die Zukunft unserer katholischen Verbände.
Wenn die katholischen Verbände denn auch Denkmale im besten Sinne des Wortes sind, so wird gleichwohl der Blick in die Vergangenheit allein nicht ihre Zukunft garantieren. Was sind die neuen Bedingungen, mit denen wir alle fertig werden müssen?
Er ist erstens der Abschied von der Selbstverständlichkeit des Christlichen. Noch weist die Statistik für den größeren Teil Deutschlands eine Mehrheit aus, die den christlichen Kirchen angehört. Daraus sollten wir nicht den frohgemuten Schluss ziehen, die deutsche Gesellschaft sei christlich. Wer aufmerksam die Medien, die öffentlichen Debatten und das geistige Leben in Deutschland verfolgt, kann zu einem solchen Schluss nicht kommen. Und viele, wenn nicht die meisten, die ihre persönliche Lebenssituation, ihren Kollegen- und Bekanntenkreis, ja, ihre eigene Familie ehrlich betrachten, werden an der Erkenntnis nicht vorbeikommen, dass es nur wenige gibt, denen Glauben und Kirche wirklich wichtig sind. Daher sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Christen, die sich zu ihrem Glauben bekennen und diesen Glauben in und mit ihrer Kirche leben, sind überall in Deutschland eine Minderheit, auch wenn es in den einzelnen Regionen eine mehr oder weniger große Minderheit ist. Das katholische Milieu, das zu stabilisieren und zu einer geistigen Heimat umzuformen ein berechtigtes und sinnvolles Ziel des Verbandskatholizismus war, existiert allenfalls noch in einigen ländlichen Gebieten. In den Städten jedenfalls, auf die es in unserer modernen Gesellschaft besonders ankommt, hat es sich aufgelöst. Wer nicht fest in sich selbst steht, der wird auch nicht mehr gehalten.
Nun gibt es eigentlich keinen Grund, die Rolle von Minderheiten als unbedeutend anzusehen. Im Gegenteil: Wie schon immer in der Geschichte, so sind noch stärker in der Moderne die bewegenden Kräfte in der Gesellschaft Minderheiten. Freilich gelten in dieser Hinsicht für die Situation der Christen in der heutigen Gesellschaft zwei Einschränkungen. Sie sind nämlich eine kleiner werdende Minderheit und mithin in der Defensive. Das schwächt das Selbstbewusstsein und ermuntert andere zum Angriff. Mut als Massenerscheinung findet man bekanntlich immer nur bei der Mehrheit. Und heute gilt es als schick, modern, aufgeklärt oder was auch immer, sich kritisch gegenüber dem Christentum zu verhalten oder es rundweg abzulehnen. Der Hauptgrund für die Schwäche der christlichen Position in der heutigen deutschen Gesellschaft liegt allerdings bei den Christen selbst und ihrem Verhältnis zu dieser Gesellschaft. Zu viele sind nämlich nicht bereit, sich auf ihre Minderheitenrolle einzustellen und entsprechend zu agieren. Nicht wenige halten an der Illusion fest, dies sei doch nach wie vor eine christlich geprägte Gesellschaft – was im Blick auf die Geschichte zweifellos richtig ist, uns aber für die Gegenwart keinen Vorteil gibt. Wer keine nüchterne Sicht auf die Wirklichkeit hat, wird auch nicht wirklichkeitsgemäß reagieren. Und die Gefahr ist groß, zum Gefangenen seiner Illusionen zu werden. Dann verhält man sich – bewusst oder unbewusst – so, dass der schöne Schein nicht gefährdet wird. Man ist versucht, den anderen zu beweisen, dass man ja auch als Christ ein ganz akzeptabler Mitmensch ist. Vielleicht, so die trügerische Erwartung, verhalten sich dann auch die Anderen freundlicher zu den Christen. Da ist der Schritt nur klein, sich so zu verhalten, dass man keinen Anlass zum Konflikt gibt. Aber einen christlichen Glauben, der mit einer nichtchristlichen Umwelt in keinerlei Konflikt gerät, gibt es nicht und kann es nicht geben.
Die schlechthin verhängnisvolle Konsequenz ist es aber, die Mehrheitsmeinungen zur Norm seiner eigenen Überzeugungen zu machen, und zwar mit der christlich klingenden Begründung, nur so wären wir mit unseren Mitmenschen solidarisch und hätten eine Chance, den Glauben in die Gesellschaft hinein zu tragen. Mit Sicherheit ist daran der Ansatz richtig, dass wir uns den Fragen, Hoffnungen und Ängsten unserer Welt und dieser Gesellschaft stellen müssen. Damit die Wahrheit Gottes, die für alle Zeiten gilt, in einer konkreten Zeit lebt, muss sie so verkündet werden, dass sie auf die Nöte und Sorgen, auf die Chancen und Herausforderungen in dieser Zeit eine Antwort gibt. Diese Antwort bleibt aber dennoch eine Antwort aus dem Glauben heraus. Sie darf sich daher nicht davon abhängig machen, ob sie auch jenen Erwartungen und Vorstellungen entspricht, die in dieser Gesellschaft gängig oder angesehen sind. Wenn dies so wäre, dann wäre das Evangelium völlig überflüssig. Die Antwort muss gewiss in einer Sprache erfolgen, die die Menschen dieser Zeit trifft. Das heißt, die Antwort muss so gesagt werden, dass sie die Menschen nicht gleichgültig lässt, weil sie einen Bezug zu ihrem Leben hat und man sie daher verstehen kann. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sie sich dieser Antwort auch öffnen und sie für sich annehmen. Das bleibt eine Sache ihrer Entscheidung, und nach aller menschlichen Erfahrung werden sich viele gegen diese Antwort entscheiden. Tatsächlich ist schon viel erreicht, wenn sie sich der Antwort stellen, sie verstehen und darüber nachdenken.
Ich sage das mit solcher Eindringlichkeit, weil es in der Bundesrepublik unter den Christen eine einflussreiche Richtung gibt, sein Christentum unter den Scheffel, wenn nicht sogar zur Disposition zu stellen, sich also gleichsam selbst zu säkularisieren und dies auch noch für ein besonders überzeugendes christliches Zeugnis zu halten. Eine verhängnisvolle Rolle spielt da ein falscher Begriff von Toleranz, der darin besteht, auf seinen Wahrheitsanspruch zu verzichten und alles hinzunehmen. Und da sich die Christen immer noch für die Mehrheit halten, wird von ihnen dieser Toleranzbeweis besonders häufig verlangt. Mit einem so pervertierten Begriff von Toleranz ist es möglich, gegen christliche Traditionen in den Schulen anzugehen oder gar in einem christlichen Kindergarten das christliche Gebet abzuschaffen, weil das ja nichtchristliche Kinder verletzen könnte, oder auf die christliche Erziehung seiner Kinder zu verzichten, damit diese sich angeblich später frei entscheiden können. Machen wir uns nichts vor: Es handelt sich um wohlfeile Ausreden für Feigheit und Drückebergerei.
Gewiss kann es schwer sein, als Einzelner zum Christentum zu stehen. Außerhalb einer Gemeinschaft stirbt der Glaube rasch. Um so wichtiger sind katholische Verbände, wenn sie ihren Namen nicht als Verbeugung vor der Vergangenheit, sondern als Verpflichtung für die Gegenwart verstehen. Das darf Suchende nicht ausschließen. Aber besser ein kleine Gemeinschaft, die weiß, warum sie zusammenhält, als eine große Gemeinschaft ohne Gesicht, in der sich der Glauben auflöst wie ein Stück Zucker im Tee. Gewiss müssen wir uns auch mühen, Schwellenängste abzubauen und insbesondere junge Menschen schrittweise in eine feste Mitgliedschaft zu führen. Aber der Endzustand kann nicht darin bestehen, dass die verlässlichen Mitglieder die Älteren sind, während die Jüngeren nur das machen, wozu sie Lust und Laune verspüren. Heute werden die katholischen Verbände gern als Biotope des Glaubens beschrieben. In der Tat kann in einem Biotop wachsen, was sonst verkümmerte. Aber ein Biotop kann auch ein Reservat sein für etwas, was unter den sonst vorherrschenden Bedingungen nicht überleben könnte. Damit das Bild des Biotops nicht in einer solchen Weise missverstanden wird, muss das missionarische Bewusstsein der Verbände gestärkt werden. Der missionarische Auftrag wird gewiss gesellschaftlich wirksam durch öffentliche Anliegen. Aktionen für soziale Gerechtigkeit oder für den Schutz des Sonntags kommen jedoch nur dann wirklich aus dem Glauben, wenn dieser auch vom Einzelnen vor Anderen bekannt und gelebt wird.
Zweitens müssen wir das Verhältnis zwischen Verbänden und Gemeinden neu durchdenken. Es ist meine Überzeugung, dass das Wachsen der Pfarreien und Pfarrverbünde in der Fläche bei schrumpfender Zahl der Gemeindeglieder eine Chance für eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Verbänden ergibt, vorausgesetzt, die Gemeindepfarrer hängen nicht einer abwehrenden Kirchturmpolitik an und die Verbände nehmen Rücksicht auf die Bedürfnisse der Gemeinden. Ein Blick in die ostdeutschen Bistümer, wo es leider immer noch mehr unfruchtbare Distanz zu den Verbänden gibt als konstruktive Zusammenarbeit mit ihnen, zeigt uns die Dringlichkeit des Problems. Dabei gibt es durchaus auch positive Beispiele im Osten. Dort war vor der Wende in nicht wenigen Gemeinden eine Kolpingfamilie der Motor des Gemeindelebens. Sollten wir nicht im Zentralkomitee anregen und befördern, dass die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Organisationen Deutschlands und die Diözesanräte, die ja inzwischen ebenfalls regelmäßig zu Konferenzen zusammenkommen, Modelle der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Verbänden entwickeln, die sich dann mit der Kraft des guten Beispiels ausbreiten? Durch einen solchen neuen Ansatz könnte, was zur Zeit noch zu häufig wie Abbau und Rückzug wirkt, der unter dem Druck des Augenblicks erfolgt, längerfristig durch eine neue Strategie der Stabilisierung und der Offensive ersetzt werden.
Drittens müssen wir das Verhältnis der Verbände zur Kirche und ihre Stellung in der Kirche neu durchdenken. Es bleibt dabei: Es sind in einem ganz entscheidenden Maße die Verbände, durch die in der freiheitlichen Gesellschaft die Kirche in ihrer Gesamtheit handlungs- und debattenfähig ist. Dennoch ist und bleibt das Verhältnis der Verbände zur Kirche komplex und spannungsvoll. Einerseits gibt es immer noch eine starke Neigung – und es wird sie wohl immer geben – die Kirche mit dem kirchlichen Amt gleichzusetzen. Diese Neigung gibt es in der Gesellschaft wie in der Kirche selbst. Deutlicher gesagt: In der Öffentlichkeit werden die katholischen Verbände von einigen gern als Werkzeug und Transmissionsriemen der Bischöfe verdächtigt, aber manchmal werden sie in der Kirche auch tatsächlich so behandelt. Das schadet nicht nur der geistigen und gesellschaftlichen Wirkung der Verbände, es widerspricht auch der Sicht des II. Vatikanischen Konzils auf die Laien und deren Verantwortung, in gesellschaftlichen Angelegenheiten auf der Grundlage des Glaubens und der Lehre der Kirche vor ihrem Gewissen eigenständige Entscheidungen zu treffen. Das Konzil billigte dem geistlichen Amt hier ganz ausdrücklich keine bessere Einsicht und darum auch kein Entscheidungsrecht bei innerkatholischen Meinungsunterschieden zu, sondern bejahte ausdrücklich politische Pluralität auch unter Katholiken. Insofern die Laien in den Verbänden Teil des Volkes Gottes sind, das in seiner Gesamtheit die Kirche ist, sind die Verbände selbstverständlich ebenfalls Kirche. Sie sind es aber in einer anderen Weise als das geistliche Amt. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Sie haben in ihren Entscheidungen ein sehr viel geringeres Maß an Verbindlichkeit, aber dafür ein sehr viel höheres Maß an Freiheit. Anders könnten sie ja auch gar nicht mit Aussicht auf Erfolg in einer freiheitlichen Gesellschaft agieren.
Aber auch als Teil des Volkes Gottes bedürfen die Verbände dieser Freiheit. Im Zeitalter der Freiheit kann die Kirche nur geschwisterlich und dialogisch sein. Eine geschwisterliche und dialogische Kirche kennt notwendigerweise auch Kritik und Konflikte. Sie sind, wie bei jeder Gemeinschaft, zunächst einmal ein Zeichen von Vitalität. In der Kirche gehören allerdings Kirchenkritik und Kirchentreue zusammen. Wer sie auseinanderreißt und gegeneinander stellt, zerstört die Kirche oder erstickt ihre Lebendigkeit. Gleichwohl wird es immer und notwendigerweise ein Moment von Spannung zwischen den Aufgaben des geistlichen Amtes und der Rolle der Verbände geben.
Ich fürchte, dass diesen Tatsachen mit dem hohen Maß an Kirchlichkeit der Verbände in rechtlicher, aber auch in finanzieller Hinsicht, das sich in Deutschland, nicht zuletzt in den Jahrzehnten nach dem II. Vatikanum entwickelt hat, nur unzureichend entsprochen wird. Lassen Sie es mich zugespitzt sagen: Man kann sich nicht Satzungen von Bischöfen bis in die Details hinein bestätigen lassen und sich dann wundern, wenn Bischöfe in die Arbeit eben dieser Verbände intervenieren. Das ist weniger eine Sache des Rechts als vielmehr eine Einsicht des gesunden Menschenverbandes. Man kann auch nicht als selbstverständlich davon ausgehen, vom Verband der Diözesen finanziert zu werden, und sich dann wundern, dass dieser auch die Kriterien dafür festlegt. Ich möchte in diesem Punkte nicht missverstanden werden: Ich teile die Auffassung der katholischen Verbände, dass ihre Arbeit, die für die Kirche in Deutschland von wahrhaft elementarer Bedeutung ist, auch finanziell ermöglicht werden muss. Gleichwohl sage ich in aller Behutsamkeit: Je finanziell selbständiger ein Verband ist, um so unabhängiger ist er auch. Diese Feststellung sei das ermunternde Gegenstück zu der sich leider von Jahr zu Jahr mehr bestätigenden Tatsache, dass nicht nur für jede menschliche Einrichtung, sondern auch für die Kirche Gottes die Einsicht gilt: Eine begrenzte Menge Geld kann man auch nur für eine begrenzte Zahl von Zwecken ausgeben. Wer mehr ausgeben und das auch selbst bestimmen will, muss sehen, wie er an das dafür notwendige Geld kommt. Ich bekenne mich dazu, ein leidenschaftlicher Verteidiger der Kirchensteuer zu sein. Ein Nachteil dieser sinnvollen Einrichtung ist aber leider die weit verbreitete Illusion, damit könne in der Kirche alles finanziert werden.
Viertens müssen wir die Chance, die sich aus der gemeinsamen Zugehörigkeit der Verbände und der geistlichen Gemeinschaften zu der einen Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen ergibt, sehr viel intensiver nutzen. Ich will dies an einer geschichtlichen Erfahrung verdeutlichen. Bekanntlich hat es in der Kirchengeschichte immer wieder geistige und geistliche Aufbrüche gegeben, die für die Zukunft der Kirche bedeutsam wurden. Eine solche Zeit waren in Deutschland auch die wenigen Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen, als die liturgische Bewegung, das Entstehen einer neuen Verbundenheit mit der Kirche und neue Formen der Jugendbewegung aufkamen, die in der einen oder anderen Weise für unser heutiges Verständnis von Kirche und kirchlichem Leben wesentlich werden sollten. So gut wie alle diese Aufbrüche erfolgten außerhalb des organisierten vielgliedrigen Laienkatholizismus und wurden von diesem auch kaum wahrgenommen. Eine uns heute nur schwer verständliche Tatsache ist z. B., dass Romano Guardini auf keinem Katholikentag während der Zeit der Weimarer Republik gesprochen hat. Diese Erfahrung sollte uns nachdenklich machen. Andererseits ist es allerdings auch wahr, dass damals die neuen geistigen Aufbrüche meist in keiner Beziehung standen zu den sozialen Nöten und politischen Konflikten dieser Zeit, dafür auch kein Verständnis entwickelten und daher auch große Mühe hatten, zu einem politischen Verständnis der nationalsozialistischen Diktatur zu kommen und deren Wesen zu durchschauen. So eindrucksvoll es auch klingen mag, wenn man sich über die Wirren und Untiefen dieser Welt im Allgemeinen und der freiheitlichen Gesellschaft im Besonderen erhebt und allein auf den Glauben setzt: Letztlich schafft man sich eine heile Scheinwelt in einer geistigen Nische. Und draußen geht die wirkliche Welt weiter. In dieser wirklichen Welt aus dem Glauben zu leben und auf sie Einfluss zu nehmen, ist die immer neue Aufgabe des Christen.
Darum muss es fünftens das wesentliche Anliegen der katholischen Verbände sein, christliche Werte in gegenwartsgemäßen Formen zur Wirkung zu bringen. Lassen Sie mich das an einem Kernstück der gesellschaftlichen Grundanliegen katholischer Christen verdeutlichen, nämlich an der Familie. Das Ideal christlicher Familie besteht darin, dass sich Mann und Frau aus Liebe und in Freiheit vor Gott für ihr ganzes Leben zur Gemeinsamkeit verpflichten und in dieser Gemeinsamkeit Kindern das Leben schenken und diese zu anständigen Menschen und guten Christen erziehen wollen. Es ist eine uralte und immer wieder bestätigte Erfahrung, dass Familie vor allem dann gelingt, wenn sie eine stabile Gemeinschaft ist. Darin liegt der für jeden rational denkenden Menschen nachvollziehbare Sinn der Ehe als rechtlicher Institution. Für Katholiken ist sie überdies ein Sakrament.
Diesem Familienideal entsprechen durchaus unterschiedliche Lebensformen, nicht nur in der Gegenwart, sondern in allen Perioden der Geschichte. In der Vergangenheit hatte die bäuerliche Familie und die Handwerkerfamilie in bezug auf die Stellung der Frau im Wirtschaftsleben eine ganze andere Praxis und Auffassung als die bürgerliche Familie. Und die Familien des Adels, insbesondere des Hochadels, hatten in bezug auf die Möglichkeiten von Frauen zum politischen Handeln wiederum eine ganz andere Praxis als alle übrigen Familien. Daher war es immer schon fragwürdig, die bürgerliche Familie der Vergangenheit, in der die Frau auf die Aufgaben der Hausfrau und Mutter beschränkt war und berufliche Tätigkeit als Notfall und Ausnahme angesehen wurde, für die einzige authentische Verwirklichung des christlichen Familienideals zu halten. Seit langem ist es falsch und daher eine Belastung für das christliche Familienideal, an dieser Einseitigkeit festhalten zu wollen. Denn die überwiegende Mehrzahl der jungen Frauen will beides: Mutter sein und sich in einem Beruf verwirklichen. Also müssen wir uns im Interesse der Familien und im Interesse der Zukunft der Gesellschaft und nicht zuletzt im Interesse der Zukunft der Kirche in diesem Land, dafür einsetzen, dass es auch real möglich ist, gleichzeitig Mutter und berufstätig zu sein. Selbstverständlich müssen wir zugleich für das Recht eines der beiden Eltern, d. h. der Mütter und der Väter, eintreten, sich, wenn sie das für richtig oder sogar notwendig halten, für eine bestimmte Zeit ihres Lebens ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Entscheidend ist, dass beide Optionen – die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf und die Entscheidung allein für die Kinder – nicht nur Rechte sind, sondern Chancen, die verwirklicht werden können.
Das besondere Problem der Bundesrepublik besteht darin, dass diese beiden Optionen als Alternative gegeneinander gestellt werden. Deutschland war schon immer das Land der Extremisten, und die bundesdeutsche Gesellschaft ist hochideologisiert, obwohl heute die meisten vorgeben, sich gegenseitig in der Mitte auf die Füße zu treten. In der Familienpolitik jedenfalls hat die wechselseitige ideologische Verhärtung dazu geführt, dass die Bundesrepublik im west- und nordeuropäischen Vergleich ein Entwicklungsland war und weithin immer noch ist. Die demographische Katastrophe, auf die wir zusteuern, ist gewiss in hohem Maße darin begründet, dass unsere Altersversorgung den berufstätigen Single begünstigt und die Familien benachteiligt. Sie hat aber auch mentale Gründe. Derzeit stehen wir erneut in der Gefahr, dass die Familie zum Schlachtfeld eines ideologischen Konflikts wird, statt dass es zu notwendigen Reformen kommt, die beides garantieren – einerseits, die Vereinbarkeit von Mutterschaft wie Vaterschaft und Beruf und, andererseits, die Entscheidungsfreiheit eines der beiden Eltern, sich allein der Kindererziehung zu widmen.
Wie groß die Gefahr eines erneuten ideologischen Stellungskrieges ist, wurde mir bewusst, als ich das Medienecho auf meinen letzten Bericht vor der Vollversammlung des ZdK sah. Viele hatten offenbar nur meine skeptischen Vorbehalte gegenüber einer flächendeckenden Ganztagsschule als Allheilmittel gehört, nicht aber meine Warnung davor, mit diskriminierenden Verweisen auf die DDR eine dringend notwendige Debatte abzublocken und überfällige Reformen zu verhindern. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die katholischen Familienverbände vertreten seit langem realistische Positionen in der Familienpolitik. Wenn trotzdem immer wieder behauptet wird, wir seien ewiggestrig, dann liegt das entweder an jenen, die eine Gesellschaft der Bindungslosigkeit und des hemmungslosen Individualismus wollen, oder an jenen, die in der Tat rückwärts gerichtet sind und nur im Beharren auf Vergangenes das Heil der Kirche sehen. Wer für die Zukunft des Glaubens und der Kirche eintritt, kann weder zu den einen noch zu den anderen gehören.
Wir leben in einer Zeit des Abbruchs, Umbruchs und Aufbruchs, in der es darum viel Unübersichtlichkeit und wenig Gewissheit gibt. Viele Katholiken in der Mitte des 19. Jahrhunderts werden ähnlich empfunden haben. Das zeigen uns jedenfalls Zeitdokumente. Es war gemeinschaftliches Handeln, das sie nach vorn führte. Ich sehe keinen Grund, warum das in unserer Zeit anders sein sollte. Wenn sich unsere katholischen Verbände nicht selbst zum Museum machen, dann werden sie heute und morgen nicht nur Denkmäler einer vergangenen Zeit sein, sondern vor allem Hoffnung für die Zukunft.
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer