Exposure-Aufenhalt in Bolivien
Ein Erfahrungsbericht von Christoph Braß im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Als ich vor einem Jahr die Einladung von Exposure- und Dialogprogramme e.V. zur Teilnahme an einem Exposure-Aufenthalt in Bolivien erhielt, habe ich zuerst gezögert: „Was soll ich dort?“ habe ich mich gefragt. „Habe ich als leidlich etablierter Jung-Akademiker die Bodenhaftung schon soweit verloren, daß ich um die halbe Welt fahren muß, um zu erfahren, was Armut ist?“ „Ich habe es doch nicht nötig, mir von fremden Leuten zeigen lassen zu müssen, was es bedeutet, arm zu sein!“ Und im übrigen: „Was sollen die Leute dort von mir denken, wenn da einer aus dem reichen Norden anreist, in ihr Leben eindringt und nach einer Woche unter Zurücklassung guter Ratschläge und eines verschämten Geldgeschenks wieder verschwindet? Ist das nicht furchtbar obszön?“ Das böse Wort vom „Armutstourismus“ schoß mir durch den Kopf, und ich habe das Einladungsschreiben fürs erste unbeantwortet zur Seite gelegt.
Trotz dieser Skepsis bin ich dann doch gefahren. Reisen hat etwas mit Bewegung zu tun - im räumlichen, aber auch in einem übertragenen Sinne. „Emotion“ kommt von „movere“ - „bewegen“. Wer reist, wechselt Standort und Blickrichtung. Im folgenden will ich Ihnen diesen Perspektivenwechsel anhand einiger weniger Schlaglichter skizzieren.
Ziel meiner Reise war Chicachorropata, ein 180-Seelen-Dorf in den bolivianischen Yungas, 200 Kilometer oder acht Autostunden östlich von La Paz, wo die Anden sich ins Tiefland hinabstürzen und die karge Bergwelt des Altiplano einer tropischen Vegetation weicht. Während meines Aufenthalts war ich zu Gast in der Familie von Dionicia und Manuel Manami, die mit dreien ihrer fünf Kinder in einer kleinen Hütte leben und mit dem Anbau von Kaffee und Coca ein Jahreseinkommen von etwa 200 Euro erwirtschaften. Die Manamis sind Aymara-Indianer. Und wie viele Aymara stammt auch ihre Familie ursprünglich aus dem Hochland. Mit der Krise des Erzbergbaues in den letzten Jahren hat der Zuzug von Hochlandindianern in die Yungas zugenommen und die sozialen Probleme dort deutlich verschärft.
Was heißt eigentlich „arm“?
Erstes Schlaglicht: Wenige Stunden nach unserer Ankunft in der Familie. Wir sitzen in der offenen Lehmziegelhütte beim Mittagessen; es gibt Kartoffeln und Kochbananen. Don Manuel ist von der Arbeit im Wald nach Hause zurückgekehrt. Vorsichtig tasten wir uns im Gespräch aneinander heran. Mein Gastgeber will wissen, wie das Leben bei uns ist. Sorgsam beschämt vermeide ich es, über Geld zu reden oder einen Hinweis auf das Wohlstandsgefälle zwischen uns zu geben. Mit Blick auf meinen Ringfinger fragen sie mich schließlich, ob ich Kinder habe. - Ich verneine fast entschuldigend. Was meine Frau beruflich mache? - „Oh, die hat eine sehr interessante Stelle, leider 450 Kilometer von mir entfernt. Wir sehen uns nur am Wochenende.“ Das übersteigt die Vorstellungskraft meiner Indio-Familie. Plötzlich steht Dona Dionicia von ihrem Platz an der Feuerstelle auf, tätschelt mir den Rücken und meint: „Was seid Ihr doch für arme Leute: Keine Kinder, keine Familie. Ihr seid wirklich arm!“
Ihr Mitleid war keineswegs gespielt. Tatsächlich hatte ich in den folgenden Tagen den Eindruck, daß „meine“ Familie einen viel differenzierteren Armutsbegriff hatte als ich selbst. Sie fühlten sich keineswegs als Exponate der Gattung „homo pauper“, die von einem weit gereisten Besucher in ihrem ärmlichen Reservat bestaunt wurden. Nein, für sie war es eine Begegnung auf Augenhöhe. Und für mich war es beschämend, daß ich an die Möglichkeit einer solchen Begegnung noch nicht einmal zu glauben gewagt hatte.
Armut als Mangel an Optionen
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will hier keiner romantisch-anbiedernden Gleichmacherei das Wort reden. Nein, den Menschen, die ich während des Exposures kennengelernt habe, ging - und geht - es wirklich schlecht. Während des Aufenthaltes ist mir hautnah bewußt geworden, daß Armut nicht nur eine Zahlengröße ist: Sie hat eine Farbe und einen Geschmack. Und manchmal riecht sie auch streng. Armut juckt auf der Haut, wenn das Geld für Läusepuder fehlt. Sie würgt im Hals, wenn Don Manuel von seinem Bruder erzählt, der an Leukämie erkrankt ist und nicht behandelt werden kann, weil die Ersparnisse der Familie aufgebraucht sind. Im Exposure bekommt Armut ein Gesicht: zum Beispiel das der zwölfjährigen Lydia, der ich bei der Kaffee-Ernte begegnet bin und die nicht zur Schule gehen kann, weil ihre Eltern, die selbst keinen Grundbesitz haben, sie für 1,50 Euro pro Tag als Tagelöhnerin an die benachbarten Kleinbauern vermieten.
Aber erschreckender als die äußeren Zwänge der Armut schien mir oft das, was sie in den Köpfen der Menschen anrichtet. Wie sie ihr Mensch-Sein, ihre Würde, verkümmern läßt. Und erschreckend war und ist für mich auch, wie ich selbst auf diese Verkümmerung in meiner Umgebung reagierte. Lassen Sie mich das am Beispiel der hygienischen Verhältnisse in meiner Gastfamilie illustrieren: Daß es in unserer Hütte kein Bad und keine Toilette gibt, kann ich akzeptieren: Das ist nun einmal so. Daß das Geschirr nach dem Essen nicht gespült, sondern einfach bis zur nächsten Mahlzeit ins Regal gestellt wird, obwohl es sogar einen primitiven Wasseranschluß gibt, kann ich dagegen nicht begreifen. Daß es tagaus, tagein Bananen und Kartoffeln gibt, obwohl doch um die Hütte Tomaten, Salate und allerlei Kräuter wachsen, ist unfaßbar für mich. Das Verhalten meiner Gastgeber, die fatalistische Art, wie sie durch den Tag gehen, erinnert mich an Menschen, die in einer Depression gefangen sind; an Menschen, die man am liebsten schütteln möchte, damit sie wieder zu sich kommen.
„Warum geben sich die Leute - bei aller Herzlichkeit - so wenig Mühe mit ihrem Leben?“ frage ich mich. Ich bin ratlos. Und schon nach wenigen Stunden merke ich, wie meine Ratlosigkeit in Aggression umschlägt. In meinem Kopf empfinde ich auf einmal eine erschreckende Nähe zu den Zeitgenossen, die behaupten, daß die Armen an ihrem Schicksal doch eigentlich selbst schuld seien, daß man ihnen einfach nicht helfen könne, daß jeder seines Glückes Schmied ist. Schnell verscheuche ich diese neoliberalen Anwandlungen. Und dennoch bleibe ich ratlos und zornig.
Meine Verunsicherung gründet wahrscheinlich darauf, daß ich irgendwie doch mit alteuropäischen Utopie vom „edlen Wilden“ hierhergekommen bin; mit der naiven Vorstellung, es gebe so etwas wie „Armut in Würde“ und auch arme Menschen könnten sich trotz widriger Umstände den Kern ihres Menschseins bewahren. Und jetzt spüre, schmecke und rieche ich auf Schritt und Tritt, wie sehr dieser Kern an Menschlichkeit gefährdet ist, wie die Armut durch die Haut der Menschen hineinsickert und sie buchstäblich von innen heraus deformiert. Und ich fühle, wie meine eigene Mitleidsfähigkeit, auf die ich mir doch immer so viel eingebildet hatte, ganz langsam an ihre Grenze stößt: Wie ich mir heimlich die Hände waschen gehe, wie ich anfange, die noch verbleibenden Tage meines Aufenthalts zu zählen. Ich hatte mir immer eingeredet, man könne arm sein und trotzdem ordentlich, sauber, vernünftig bleiben (hier ließen sich beliebig weitere aufgeklärt-bürgerliche Adjektive einfügen). Jetzt erlebe ich, daß das wohl doch ein romantisches Mißverständnis ist. Es gibt nichts Wahres im Falschen. Man kann nicht gebückt gehen, ohne dabei selbst verbogen zu werden.
Am Abend sitze ich mit Don Manuel vor dem offenen Feuer in der Küche. Wir reden über das Leben in Deutschland und in Bolivien, über seine Zukunftspläne für die Kinder. Er erzählt ein wenig aus seiner Lebensgeschichte. Schließlich frage ich ihn, was für ihn die wichtigste Entscheidung seines Lebens war. Don Manuel weiß keine Antwort. Oder vielmehr: Er versteht vermutlich meine Frage überhaupt nicht. Wer arm ist, hat keine Optionen, zwischen denen er entscheiden könnte. Mensch-Sein heißt nach unserem Verständnis, sich entscheiden müssen. Aber was ist mit Menschen, die sich nicht entscheiden können, weil es für sie gar keine Wahlmöglichkeiten gibt?
Ich bin mit Skepsis nach Bolivien gefahren - und ich bin mit einer gewissen Ratlosigkeit von dort zurückgekehrt. Aber es ist eine heilsame Ratlosigkeit, die ich all denen gönnen möchte, die - wie ich selber - schon immer gemeint haben, sie wüßten genau, wo’s langgeht. Während meiner Reise sind mir fremde Menschen sehr nahe gekommen, und ich selbst bin mir in meinen Gewohnheiten und Denkroutinen mehr als einmal fremd geworden. Wohlfeile Schlagworte wie „Globalisierung“, „Solidarität“ und „weltweite Verantwortung“ haben für mich durch das Exposure ein sehr konkretes Gesicht bekommen.
Das Leben in der Familie und auch die anschließende gemeinsame Reflexion mit den bolivianischen und deutschen Teilnehmern des Exposures haben mir neue Anstöße gegeben: für meine berufliche Tätigkeit im politischen Raum, für die Arbeit in der Kirche - und auch für meine persönliche Lebensführung. Diese Unmittelbarkeit läßt sich durch kein entwicklungspolitisches Seminar, durch keine Lektüre und auch nicht durch noch soviel guten Willen ersetzen. Reisen hat etwas mit Bewegung zu tun - im räumlichen wie im emotionalen Sinne. Und nur wer sich bewegen läßt, kann etwas bewegen.
Christoph Braß, Sprecher Sachbereich 7