Die Krise überwinden, die Erweiterung der Europäischen Union zum Erfolg machen
Abschlusserklärung des Krakauer Symposiums
1. Die Erweiterung der Europäischen Union, die wir als einen historischen Akt der Versöhnung und als Wiedervereinigung der Völker Europas nach der revolutionären Wende im Osten erleben, stellt eine ebenso große und schwierige Aufgabe dar, wie die Gründung und Ingangsetzung des Einigungsprozesses vor fünfzig Jahren.
2. Der Prozess der politischen Vertiefung und der geographischen Erweiterung muss zum Erfolg geführt werden. Der Traum der Gründungsväter, das gesamte Europa in Frieden und Freiheit zu vereinen, kann jetzt Wirklichkeit werden.
3. Die Union der Völker und der Staaten muss durch die Erweiterung stärker werden, damit sie mit den wachsenden Aufgaben fertig werden kann. Deswegen unterstützen wir mit Nachdruck die Erarbeitung einer demokratischen Verfassung mit föderaler Perspektive. Die Stärkung des politisch-institutionellen Systems der Union ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ihrer geographischen Erweiterung. Dieses System muss dem europäischen Gemeinwohl dienen und sich von den Methoden inspirieren lassen, die seit Beginn den Aufbau Europas zum Erfolg gemacht haben.
4. Als gesellschaftspolitisch engagierte Christen und als zukünftige Bürger einer erneuerten, um die Länder Mittelosteuropas erweiterten Europäischen Union treten wir für eine Verfassung ein, die auf Werten gründet und zu diesen Werten verpflichtet. Diese Verfassung muss die Verständigung der Europäer über ihre moralischen Grundlagen und die Identität ihres supranationalen Gemeinwesens zum Ausdruck bringen.
5. Wir bestehen mit Nachdruck auf unserer Forderung, dass in die Präambel der Verfassung ein Bekenntnis zum religiösen und kulturellen Erbe Europas aufgenommen wird, welches die Bildung der Identität, die den Europäern gemeinsam ist, stark beeinflusst hat.
6. Die Einigung Europas ist ein ethisches Projekt. Es geht um Vergebung und Versöhnung, um Frieden und Freiheit, um Recht und Gerechtigkeit, um die Solidarität der Reicheren mit den Ärmeren und der Stärkeren mit den Schwächeren – und zwar im Inneren der Union wie gegenüber der Welt. Die Europäer müssen ihrer Verantwortung für die Beachtung und die Förderung dieser Werte gerecht werden: vor ihrem Gewissen, vor den Menschen, und – sofern sie an Gott glauben - vor Gott. Wir wollen dies in der Verfassung verankert sehen. Eine entsprechende Formulierung darf niemanden ausschließen und sie darf Gott nicht für politische Zwecke vereinnahmen. Die Verfassung der Republik Polen bietet dafür eine bedenkenswerte Anregung.
7. Wir stellen fest, dass sich der Europäische Konvent mit großem Eifer und Ernst um einen Konsens bemüht, der weit über den Status Quo und die materiellen Interessen der Regierungen hinausweist ; er nimmt wesentliche Forderungen auf, die von den Kirchen, darin eingeschlossen die Organisationen der christlichen Laien, vorgebracht wurden. Wir unterstützen insbesondere die Aufnahme der Europäischen Charta der Grundrechte in die Verfassung und damit ihre Rechtsverbindlichkeit. Die Verfassung sollte ausdrücklich erklären, dass sie auf dem Respekt vor der unteilbaren und unantastbaren Menschenwürde basiert. Unter den Zielen der Verfassung sollte ausdrücklich die Achtung vor dem Leben, die Förderung der Ehe ebenso wie die Förderung der Familie, verstanden als Basis der Gesellschaft, benannt werden.
8. Wir unterstreichen die Bedeutung der Autonomie der zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihrer Aktivitäten für das Europäische Gemeinwesen. Im gleichen Geiste bekräftigen wir unsere Forderung nach einer institutionellen Absicherung der Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie sie in den Mitgliedstaaten bestehen, um auszuschließen, dass sie durch Politiken oder Maßnahmen der Union geschmälert oder infrage gestellt werden können.
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Das Schauspiel der Zwietracht, welches die europäische Diplomatie in der gegenwärtigen internationalen Krise liefert, drängt uns zu einem gemeinsamen Nachdenken, ohne Vorbehalte und ohne falsche Erwartungen. Es handelt sich in der Tat um eine Krise. Wir dürfen uns nicht mit der Zwietracht abfinden. Vielmehr müssen wir die jetzige Situation nutzen, um im gegenseitigen Gespräch das Gewicht unserer Geschichte und den Sinn unserer Unterschiede besser zu verstehen. Ein solches Gespräch und die Praxis der gemeinsamen Beratung und Abstimmung sind unverzichtbar für die wesentlichen Grundlinien unserer Außenpolitik. Von hier aus können wir eine europäische Aktionseinheit in einer pluripolaren Welt bilden ; diese muss auf konstruktiven Partnerschaften mit der ganzen Welt gegründet sein. So können wir besser unserer Zugehörigkeit zur Union gerecht werden und die Chance nutzen, um die internationalen Beziehungen hin zu mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden zu gestalten.
Auf diese Weise kann uns auch der Übergang von der Diplomatie zur Demokratie als dem leitenden Prinzip der Politik in der Union gelingen. Die Verfassung als Rechtsgrundlage des Zusammenlebens ist ein notwendiger Schritt zu einem Europa, das fähig ist, die Wohlfahrt seiner Bürger zu sichern und vor der Welt das Zeugnis einer solidarischen Gesellschaft abzulegen. Unsere Aufgabe als Christen ist es, heute und in Zukunft dazu beizutragen, den Schritt von einer Union der Staaten zu einer Union der Völker und der Bürger Europas zu bewältigen.
Krakau, den 9. März 2003