Vertrauen stärken – Verantwortung tragen – Solidarität erhalten
Einführung in den Erklärungstext von Barbara Stamm im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Entwurf einer Erklärung zur Bedeutung der Pflege im Gesundheitswesen
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Vorsitzende der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Gesundheitspolitik gebe ich eine Einführung in den Text der Erklärung "Vertrauen stärken – Verantwortung tragen – Solidarität erhalten". Ich konzentriere mich dabei auf die darin vertretenen Grundanliegen.
Die Pflege alter und kranker Menschen ist eines der ungelösten Probleme in unserem Gesundheitswesen. Ihr kommt eine ebenso große Bedeutung zu wie der medizinischen Versorgung. Qualität und Finanzierung der Pflege zu sichern, gehört deshalb zu den vordringlichen Aufgaben der Gesundheitspolitik.
1. Die Menschenwürde als Maßstab für die Gestaltung des Gesundheitssystems
Unseren Vorschlägen zur Gestaltung des Gesundheitswesens liegt das christliche Menschenbild zugrunde. Als Ebenbild Gottes verfügt jeder Mensch über gleiche Würde und ist zu Freiheit und Verantwortung berufen. Wer sich von Freiheit und Verantwortung dispensieren wollte, gefährdet sein menschenwürdiges Dasein ebenso wie wenn sie ihm von anderen Menschen beeinträchtigt oder sogar zerstört würden. Nächstenliebe und Solidarität sind Ausdruck der Achtung der gleichen Menschenwürde aller Menschen.
Dies gilt auch für die Bereiche der Gesundheitsversorgung und der Pflege. Gesundheit ist "Kraft zum Leben". Sie ist ein hohes Gut. Der christliche Glaube beantwortet die Sehnsucht nach ihr mit einer Ethik der Heilsamkeit, die die segensreichen medizinischen und pflegerischen Versorgungsleistungen einbaut in eine schützende und bestärkende Begleitung von Kranken und Pflegebedürftigen. Das Gegenstück von Krankheit und Leid ist nicht Leidfreiheit und perfekte Gesundheit, sondern unser leidenschaftliches Engagement für die Schwachen und Kranken.
Jeder Mensch ist angewiesen auf wechselseitige Unterstützung, die wir Solidarität nennen. Sie ist Ausdruck der caritas, der christlichen Nächstenliebe.
Übertragen auf die Gestaltung unseres Gesundheitswesens heißt das: Gesundheit ist als privates Gut zwar unserer persönlichen Gestaltung überantwortet; gleichwohl ist es eine öffentliche Aufgabe, Solidarität sicherzustellen. Die für die medizinische und pflegerische Versorgung zur Verfügung stehenden Mittel müssen gerecht verteilt werden. Dabei dürfen Nützlichkeitserwägungen für die Allgemeinheit keinesfalls der Maßstab sein.
Aus unserer Sicht ergeben sich drei Grundsätze für alle anstehenden Reformanstrengungen.
2. Verantwortung – Vertrauen – Solidarität
Verantwortung im Gesundheitswesen ist mehr als nur eine auf Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten reduzierte "Eigenverantwortung" der Patienten. Das Gesundheitswesen braucht verantwortlich handelnde Ärzte und Pflegepersonen, die einfühlsam und mit Respekt auf Patientenwünsche und -bedürfnisse eingehen. Es braucht Patienten, die – wie Ärzte und Pflegende – über Kosten sowie Vor- und Nachteile von Behandlungen und Therapien gut informiert sind und sich verantwortlich entscheiden. Darüber hinaus braucht es in Berufsverbänden, in Kranken- und Pflegekassen Verantwortliche, die sich nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft Vorteile verschaffen. Außerdem bedarf es verantwortlich agierender Politiker, die so handeln, dass die Bürgerinnen und Bürger begründet weiter auf das Funktionieren des Systems vertrauen können.
Ein komplexes Gesundheitswesen ist auf Vertrauen angewiesen. Die Bereitschaft jeder Generation, die notwendigen Beiträge zu erbringen, hängt entscheidend vom Vertrauen und von den Erwartungen in die Zukunftsfähigkeit des Systems ab. Eine verantwortliche Diskussion über Reformen und die Zukunft des Gesundheitswesens muss daher künftige Risiken sachgerecht berücksichtigen.
Hinzu kommt das individuelle Vertrauen des Patienten zu Pflegenden und Ärzten sowie deren Vertrauen in die eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit der Patienten. Auf beiden Seiten ist dazu eine gute zwischenmenschliche Beziehung nötig.
Die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken und zwischen Menschen mit prognostiziertem niedrigem und hohem Krankheitsrisiko sowie die Beteiligung aller im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit ist Kern unseres Gesundheitswesens. Die nicht unerschöpfliche Solidarbereitschaft – besonders angesichts der demographischen Veränderungen – heute und morgen zu erhalten, ist Aufgabe der Politik. Dabei müssen wohlverstandene Selbstverantwortung und Solidarbereitschaft gemeinsam gefördert werden.
3. Pflege für alte und kranke Menschen sichern – aktuelle Herausforderungen
Pflegebedarf heute und morgen
Auf Grund zunehmender Lebenserwartung ist von einer Zunahme an pflegebedürftigen Menschen auszugehen. Derzeit findet ein Großteil von Pflege im häuslichen Umfeld statt. Angesichts der wachsenden Zahl allein stehender Menschen stellt sich die Frage, wie sich diese pflegerische Unterstützung in den Familien künftig entwickeln wird. Geht sie zurück, müssen ambulante/teilstationäre Angebote aufgebaut werden. Dies wird zu einer wachsenden Nachfrage nach professionell Pflegenden mit zusätzlichen und höheren Qualifikationsanforderungen führen.
Auf eigenverantwortliche Lebensgestaltung ausgerichtete Pflege
Wie in der medizinischen muss ebenso in der pflegerischen Versorgung die Autonomie der Pflegebedürftigen respektiert und gefördert werden. Die bestmögliche eigenverantwortliche Lebensgestaltung muss den Patienten zugestanden und auch nach Kräften zugemutet werden.
Der vor Ihnen liegende Text fordert ein Umdenken hin zu präventiven Maßnahmen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, wodurch Schwierigkeiten frühzeitig erfasst und Pflegebedürftigkeit hinausgezögert werden können.
Patientenverfügungen drücken den Wunsch nach selbstständigen Entscheidungen aus. Sie müssen ernst genommen und berücksichtigt werden. Dennoch entheben sie Ärzte und Pflegende nicht schwerwiegender Entscheidungen in ethisch kritischen Situationen, auf die sie vorbereitet werden müssen.
Da die Pflegeversicherung eigenverantwortliche Lebensgestaltung nicht fördert, ist es aus Sicht der Ad-hoc-Arbeitsgruppe dringend erforderlich, Anreize und Möglichkeiten zur aktivierenden Pflege zu schaffen.
Hinzu kommt, dass eigenständige Verantwortungsbereiche professionell Pflegender weiter ausgebildet werden müssen. Durch eine neue, sachgerechte, auch rechtlich geregelte Aufteilung der Verantwortung zwischen Ärzten und Pflege können beide Berufsgruppen gemeinsam Verantwortung für den Patienten wahrnehmen.
Professionalisierte und lebensweltnahe Pflege schafft Vertrauen
Der Pflege wird seit Jahren die Professionalisierung aus Angst vor Kostensteigerung verweigert. Der Erklärungsentwurf fordert faire Professionalisierungschancen mit einer breiten Palette an Qualifikationen. Pflege ist ein Berufsfeld mit Zukunft, für das ausreichend Personal ausgebildet werden muss.
Eigenverantwortliche, der Würde des Menschen entsprechende Lebensgestaltung in allen Lebensphasen setzt voraus, gute Bedingungen für eine Pflege im häuslichen Umfeld zu schaffen, die kleinräumig und lebensweltnah organisiert ist und auf einem vertrauensvollen Zusammenspiel von beruflicher und nicht-beruflicher Pflege beruht.
Dazu bedarf es einer wohnortnahen institutionalisierten Koordinierung, wie es zum Beispiel das Konzept der „Family-Health-Nurse“ der WHO vorsieht. Von dort aus müssen Netzwerke von Freiwilligen und Professionellen gefördert werden, die insbesondere auch die Nachbarschaftshilfe einbeziehen.
Wo diese Netzwerke fehlen, stellen stationäre Pflegeheime eine Alternative dar, in denen dennoch eine eigenverantwortliche Gestaltung des Alltags möglich bleibt. Zurzeit sind unsere Pflegeheime jedoch auf breiter Basis unterversorgt, besonders hinsichtlich qualifizierter Fachkräfte für die zahlreichen Menschen mit Demenz. Die zusätzliche Pflegenotwendigkeit bei Menschen mit Demenz, psychischen Krankheiten oder mit Behinderung muss in der Pflegeversicherung gesondert berücksichtigt werden.
Die Solidarbereitschaft zur Pflege erhalten
Nach wie vor existiert eine hohe Solidarbereitschaft zur Übernahme von Pflege – sowohl im engsten Familienkreis als auch in der sozialen Umgebung durch „quasifamiliäre“ Nerzwerke.
Vorhandene Familiennetze müssen wahrgenommen und gestärkt werden. Dazu bedürfen pflegende Angehörige einer Anerkennung und Begleitung, um Pflege als Bereicherung auch für ihr Leben zu erfahren. Außerdem sollten auch Männer ermutigt und unterstützt werden, verstärkt Aufgaben in der häuslichen Pflege zu übernehmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2001 entschieden, in der Pflegeversicherung die Kindererziehung als generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Versicherung explizit zu berücksichtigen. Das ZdK fordert nicht erst heute, diese Auflage zügig umzusetzen. Dabei müssen Menschen, die keine Kinder erziehen, einen entsprechend höheren Beitrag zur Pflegeversicherung leisten. Um trotz des demographischen Wandels auch künftig die Solidarität aller zu gewährleisten, muss gleichzeitig jeder nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Pflegeversicherung beteiligt werden.
4. Zukunft der Pflege
Das Thema „Pflege“ ist das Zukunftsthema der Gesundheitsdebatten. Das ZdK setzt sich entschieden dafür ein, ihr in gesundheitspolitischen Diskussionen einen entsprechend hohen Stellenwert zu geben. Innerkirchlich soll die Zukunft der Pflege auch als Wertedebatte diskutiert werden, wobei die drei Dimensionen der Verantwortung besonders anzusprechen sind: die christliche Verantwortung für den Nächsten (Caritas), die von Christen in Heil- und Pflegeberufen und in der Krankenpastoral in besondere Weise übernommen wird, die Verantwortung jedes Einzelnen für seine Gesundheit (Prävention) und die Verantwortung (der Politik) für den Erhalt der Bereitschaft, Gesundheitsrisiken solidarisch zu tragen.
Barbara Stamm, Vorsitzende der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Gesundheitspolitik