Die Krise überwinden – die Erweiterung der Europäischen Union zum Erfolg machen !

Zur Vorstellung des Entwurfs einer Erklärung von Dr. Thomas Jansen im Rahmen des Symposium Krakau - es gilt das gesprochene Wort.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist beschlossene Sache. Die Beitrittsverträge sind ausgehandelt und der Beitrittstermin für die neuen Mitgliedstaaten steht fest. Dennoch bleibt viel zu tun, um die Erweiterung um diese zehn neuen Mitgliedstaaten, die im Mai 2004 vollzogen werden soll, zu einem Erfolg zu machen. Denn bei der Erweiterung der Union, die wir als Versöhnung Europas mit sich selbst und als Wiedervereinigung seiner Völker erleben, handelt es sich um eine ebenso grosse und schwierige Aufgabe wie die Gründung und Ingangsetzung des Einigungsprozesses vor fünfzig Jahren.

Zunächst muss dafür gesorgt werden, dass die Menschen in den zukünftigen Mitgliedstaaten verstehen lernen, was bei den bevorstehenden Volksabstimmungen über die Beitrittsverträge auf dem Spiel steht, und in welche Union sie eintreten werden. Denn nach wie vor bestehen grosse Missverständnisse über den Charakter der Union, aus denen sich sowohl ungerechtfertigte Abwehrhaltungen als auch übertriebene Erwartungen ergeben.

Sodann muss sichergestellt werden, dass die Erweiterung der Union nicht zu einer Verwässerung ihres politisch-institutionellen Systems führt; sie muss im Gegenteil die Union stärker machen, damit sie mit den durch die Erweiterung wachsenden Aufgaben fertig werden kann. Die demokratische und föderale Vertiefung der Union bleibt eine wesentliche Voraussetzung ihrer geographischen Erweiterung.

Auch aus historischen und moralischen Gründen muss dieser doppelte Prozess der politischen Vertiefung und der geographischen Erweiterung zum Erfolg geführt werden. Der Traum der Gründungsväter, das gesamte Europa in Frieden und Freiheit zu vereinen, kann jetzt Wirklichkeit werden. Unser transnationales Gemeinwesen wird erheblich an Identität und Glaubwürdigkeit hinzugewinnen, wenn der Anspruch eingelöst werden kann, das ganze Europa zusammenfassen und repräsentieren zu wollen, der mit der Namensgebung "Europäische Gemeinschaft” und “Europäische Union" erhoben wurde.

Was nach der Befreiung Mittelosteuropas im Laufe des letzten Jahrzehnts, bereits geleistet wurde, um diese Vereinigung zu ermöglichen, und was im Laufe der nächsten Zeit noch zu leisten sein wird - das würde ein bloss wirtschaftlich interessierter Staatenverbund ebensowenig leisten können wie eine bloss internationale, nach diplomatischen Regeln funktionierende Organisation. Hieran zeigt sich die besondere Qualität der Europäischen Union, die als Gemeinschaft der Versöhnung, als Friedensgemeinschaft, als Solidargemeinschaft, als Rechtsgemeinschaft vor allem eine Werte-Gemeinschaft ist.

Die Integration und das Zusammenleben in der Europäischen Union kann und wird auch in Zukunft nur gelingen können, wenn die einzelnen Teile Europas, seine Staaten und Nationen in Ost und West, in Nord und Süd in der Wirklichkeit des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Alltags zu einer Wertegemeinschaft zusammenwachsen.

Tatsächlich ist die Einigung Europas ein ethisches Projekt. Es geht um Vergebung und Versöhnung, um Frieden und Freiheit, um Recht und Gerechtigkeit, um die Solidarität der Reicheren mit den Ärmeren und der Stärkeren mit den Schwächeren. Die Verwirklichung dieses Projekts und seine Institutionalisierung während der letzten 50 Jahre ist im Wesensentlich segensreich verlaufen und hat allen Betroffenen Vorteile gebracht. Dieser Prozess muss jetzt im Sinne der Demokratie und des Föderalismus nachhaltig gestaltet werden, damit im Interesse der betroffenen Menschen und Völker auf Dauer ein Raum des Friedens, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidiarität entsteht. Die Erarbeitung und Verabschiedung einer Verfassung für die Europäische Union durch den Konvent ist ein entscheidender Schritt auf diesem Wege.

Als politisch engagierte katholische Christen und als zukünftige Bürger einer erneuerten, um die Länder Mittelosteuropas erweiterten Europäischen Union treten wir ein für eine Verfassung, die auf Werten gründet und an diese Werte gebunden ist. Diese Verfassung muss – wenn das Werk Bestand haben soll – die Verständigung der Europäer über ihr Ethos, ihre moralischen Grundlagen und die Identität ihres übernationalen Gemeinwesens zum Ausdruck bringen.

Die Ziele der europäischen Verfassung müssen - vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung Europas – der Frieden, die Freiheit und die Gerechtigkeit sein; ihre Verwirklichung und Sicherung macht das Gemeinwohl aus. Friede, Freiheit und Gerechtigkeit sind auch die Werte, von denen sich die Prinzipien ableiten, die für politisches Handeln und Gestalten gerade im Kontext der europäischen Einigung maßgebend sind: Solidarität und Subsidiarität, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit, Pluralismus und Zusammenhalt, Dialog und Demokratie. Ihre Festschreibung in der Verfassung bedeutet eine Verpflichtung für die Ausrichtung der Politik der Europäischen Union, für die Wahrnehmung ihrer Interessen in der Welt, für die Regelung der möglichen Konflikte innerhalb der Union und überhaupt für die Lösung der Probleme, mit denen sie konfrontiert sein wird.

*

Wir haben, glaube ich, allen Grund, dankbar anzuerkennen, dass sich der Europäische Konvent mit grossen Eifer und Ernst um einen Konsens bemüht, der weit über den Status quo und auch weit über die wirtschaftlichen oder materiellen Interessen der Regierungen hinausweist; er nimmt wesentliche Forderungen auf, die von den Kirchen und den Organisationen der christlichen Laien vorgebracht wurden.

Wir begrüssen insbesondere, dass die Aufnahme der Europäischen Charta der Grundrechte in die Verfassung und damit ihre Rechtsverbindlichkeit als gesichert gelten kann.

Wir dürfen auch darauf vertrauen, dass die Verfassung dem demokratischen und föderalen Gemeinwesen ‚Europäische Union’ eine institutionelle Ordnung geben wird, die seinen Prinzipien und Werten entspricht.

Ebenso können wir zuversichtlich damit rechnen, dass unter Bezugnahme auf das Prinzip der Subsidiarität die Achtung der nationalen Identitäten nicht nur die Rücksicht auf den innerstaatlichen Aufbau, die Kompetenzordnung, die regionale Gliederung und die kommunale Selbstverwaltung der Mitgliedsstaaten umfasst, sondern auch die rechtliche Stellung der Kirchen, und dass die Autonomie und Wirkungsmöglichkeit der Organisationen und Einrichtungen, Vereinigungen und Verbände der Zivilgesellschaft garantiert wird.

Wir insistieren schiesslich mit Nachdruck auf unserer Forderung, dass in die Präambel der Verfassung ein Bekenntnis zum religiösen und kulturellen Erbe und damit u.a. auch zur christlichen Prägung Europas aufgenommen wird. Dabei soll es nicht um eine Festlegung gehen, die Nicht-Christen ausschließlich soll, sondern um die Erinnerung an einen historischen Tatbestand, der für die Identität Europas wichtig ist.

Wir erheben mit Nachdruck die Forderung nach einem ausdrücklichen Transzendenzbezug durch den Hinweis auf die Verantwortung vor Gott. Die Debatte über diese Frage, die aus unterschiedlichen Gründen ausserordentlich kontrovers verläuft, und die Bemühung um das gegenseitige Verständnis der Befürworter und der Gegner dieser Forderung ist für das zukünftige Zusammenleben in Europa von grosser Bedeutung.

Wir bekräftigen unsere Forderungen,
- nach einer institutionellen Absicherung der Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie sie in den Mitgliedstaaten bestehen, um auszuschliessen, dass diese durch Politiken oder Maßnahmen der Union geschmälert oder infrage gestellt werden können;
- nach einer Garantie dafür, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Union und ihrer Mitgliedstaaten der Sozialen Marktwirtschaft entspricht, und dass das Gebot der Sozialen Marktwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung auch für die Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung gilt;
- nach einer verfassungsrechtlichen Festlegung der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf das Gebot, zur internationalen Zusammenarbeit und zur Schaffung einer friedlichen Weltordnung beizutragen.

*

Zutiefst bedauern wir das unwürdige Schauspiel, dass sich die Diplomatie der europäischen Nationalstaaten zur Zeit leistet. Zu einer Zeit, die durch die bevorstehende Erweiterung und durch die Bemühung um die Verfassung für eine erneuerte Union eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung sein könnte.

Angesichts der internationalen Krise um die von den Vereinten Nationen seit Jahren geforderte Entwaffnung des menschenverachtenden Regimes im Irak laufen die Staats- und Regierungschef und ihre Aussenminister in verschiedene Richtungen auseinander, anstatt sich der Disziplin ihrer gemeinschaftlichen Verantwortung zu unterwerfen.

Die von den Regierenden sorgsam gepflegte Vorstellung, dass die internationalen Beziehungen wegen ihrer Besonderheiten einer demokratischen und gemeinschaftlichen Disziplin nicht unterworfen werden können, muss als Fiktion entlarvt und überwunden werden. Die Staats- und Regierungschefs müssen in ein verbindliches Verfahren eingebunden werden, das sie in zum gemeinsamen Nachdenken, Sprechen und Handeln zwingt. Denn kein europäischer Staat verfügt heute noch über die Mittel und Möglichkeiten, in der internationalen Politik einen eigenen Weg zu gehen.

Auch deshalb muss der Übergang von der Diplomatie zur Demokratie als dem leitenden Prinzip der Politik in der Union gelingen. Dieser Paradigmenwechsel, der mit der Ablösung des Vertrags durch die Verfassung als der Rechtsgrundlage des Zusammenlebens vollzogen werden soll, bedeutet zugleich den Übergang von einer Union der Staaten zu einer Union der Völker und der Bürger Europas.

Dr. Thomas Jansen

Diesen Artikel teilen:
Schlagworte