Die aktuellen Debatten zur Reform der Sozialen Sicherungssysteme als Herausforderung für den politischen und sozialen Katholizismus

von Ministerpräsident Dieter Althaus im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. Die tief greifenden Veränderungen im Bevölkerungsaufbau unserer Gesellschaft und die sich gleichzeitig vollziehende Globalisierung mit fundamental veränderten Herausforderungen an unsere Wettbewerbsfähigkeit aber verlangen eine grundlegende Weiterentwicklung. Nur dann können wir den Sozialstaat auch für die Zukunft sichern.

Aufgrund des medizinischen Fortschritts leben die Menschen heute erfreulicherweise länger als früher. Gleichzeitig aber werden immer weniger Kinder geboren. Dies hat gewaltige Konsequenzen für die Sozialsysteme:

Die Zahl der Beitragszahler wird weiter sinken. Gleichzeitig aber werden die Ausgaben der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung steigen. Wer dieser Entwicklung nicht mit einer neuen ordnungspolitischen Antwort begegnet, handelt verantwortungslos mit Blick auf die Zukunft unserer Gesellschaft.

Die Beitragssätze der vier Sozialversicherungssysteme von derzeit 42 Prozent würden im Jahr 2030 auf 54 Prozent und auf über 61 Prozent der Bruttolöhne und Gehälter im Jahr 2050 steigen müssen - dabei sind zusätzliche Kosten durch den zu erwartenden medizinischen Fortschritt noch nicht berücksichtigt. Im Jahr 2030 müsste ein Arbeitnehmer einen Rentner finanzieren, heute kommen immerhin noch 2,3 Arbeitnehmer für einen Rentner auf.

Die Probleme der Sozialversicherungen werden schon heute durch die hohe Arbeitslosigkeit erschwert. Ihre Einnahmesituation hat sich dadurch in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert und eine Besserung ist bislang nicht in Sicht:

Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten im laufenden Jahr ein Null-Wachstum, im nächsten Jahr nur 1,7 Prozent Wachstum aufgrund zusätzlicher Arbeitstage. Ohne diesen Sondereffekt bliebe das Wachstum bei 1,1 Prozent. Ein solches Wirtschaftswachstum aber löst keine zusätzlichen Beschäftigungseffekte aus.

Die Konsequenzen sind klar. Diese Entwicklungen überfordern die Sozialsysteme, sie lähmen unsere Gesellschaft und berauben uns mittel- und erst Recht langfristig der Kraft zur Solidarität.

Es wäre zutiefst unsozial und nicht zu verantworten, vor diesen Entwicklungen die Augen zu verschließen und unseren Kindern eine Last aufzubürden, die sie ganz sicher nicht schultern können.

Kardinal Lehmann hat eine „vorausschauende Verantwortung“ gefordert. Er hat Recht. Es geht um aktuelle Handlungsfähigkeit und langfristig angelegte Strategien. Verantwortliche Ordnungspolitik gestalten heißt aber nicht, einen generalstabsmäßigen Plan überzuwölben, sondern ein Ziel zu definieren, den geeigneten Weg zu
überlegen und ihn Schritt für Schritt zu gehen.

Katholische Christen können und müssen klar Position beziehen. Die Katholische Soziallehre bleibt unsere Grundlage. Wir wollen den Rahmen dafür erhalten, dass das menschliche Zusammenleben gut geordnet und fruchtbar ist: Die Würde und Einmaligkeit jeder einzelnen Person, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Subsidiarität und die Solidarität müssen Leitprinzipien bleiben. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Es geht darum, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass sie auch in Zukunft gesichert werden kann. Das ist unser Ziel.

Aber welchen Weg sollen wir einschlagen? Die Verunsicherung der Menschen ist groß. Der Ruf nach einem starken Staat wird lauter. Freiheit scheint an Bedeutung zu verlieren, obwohl die politische, die wirtschaftliche und die persönliche Freiheit so wesentlich sind. Dies muss alarmieren.

Oft tragen Politiker, übrigens aller Parteien, selbst zur Verunsicherung aktiv teil. Es werden Schlagworte formuliert und dabei die Fakten leider oft nicht vermittelt:
• Das ist unsozial!
• Das ist ungerecht!
• Das begünstigt Reiche und benachteiligt Arme!
• Die Krankenschwester kann doch nicht die gleiche Prämie zahlen müssen wie der Chefarzt– das ist ungerecht!

Solche Worte gehen leicht über die Lippen. Aber treffen sie auch die Realität? Meiner Ansicht nach nicht. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir die Realitäten leugnen oder sie nur selektiv wahrnehmen, wenn wir Reformen den Menschen nur als Zumutungen vermitteln, wenn wir Neid schüren und Leistung diskreditieren, auch indem wir ihren Ertrag in Frage stellen, dann wird unsere Gesellschaft ungerechter und unsozialer. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit spricht eine klare Sprache. Damit schaden wir auch der Demokratie.

Ich bin überzeugt davon, dass uns nur eine Politik in Richtung weniger Staat, mehr Eigenverantwortung und Förderung der Leistungsfähigkeit reale Zukunftschancen für die Sicherung der sozialen Marktwirtschaft eröffnet.

Um aus der aktuellen Krise herauszukommen brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Freiheit. Das ist kein „platter Liberalismus“, wie zuweilen befürchtet wird (Bischof Marx), sondern eine Politik, die mit dem Menschen rechnet.

Wir müssen eine Grundsatzdebatte über Freiheit und Eigenverantwortung führen und sollten uns dabei auf die Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft besinnen: Nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg, in einer Zeit von Not, Mangel und Bewirtschaftung von Gütern und Rohstoffen konnte man sich kaum vorstellen, dass ohne staatlichen Dirigismus, sondern mit einer konsequenten Liberalisierung Wohlstand, Effizienz, Wachstum und technischer Fortschritt zu erreichen seien.

Die Entscheidung zur Einführung der Sozialen Marktwirtschaft fiel nur mit einer knappen Mehrheit. Seither aber steht die Soziale Marktwirtschaft für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie hat die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geprägt. Mit ihr haben wir die Wiedervereinigung gestaltet.

Die Soziale Marktwirtschaft müssen wir weiterentwickeln, denn sie verbindet ökonomische Konkurrenz (Marktwirtschaft) und Mitmenschlichkeit (Soziales) und kommt dadurch zu besseren Resultaten. Sozialpolitik wird also nicht dem "Markt" abgetrotzt, vielmehr erhöht sie - richtig angelegt - die Chancen einer Gesellschaft als Marktwirtschaft erfolgreich zu sein.

Dies wird in unserem Land nicht von allen so gesehen. In der aktuellen Debatte leuchtet zuweilen alte Klassenkampfrhetorik durch. Ich verhehle nicht, dass ich mit dem Zerfall des Kommunismus und den katastrophalen Folgen, die er hinterlassen hat, geglaubt habe, aus diesen Erfahrungen sei gelernt worden. Es scheint aber immer noch Nacharbeit nötig zu sein.

Es muss uns also darum gehen, die Kräfte des Einzelnen zu mobilisieren. Anreize für Leistung müssen so gesetzt werden, das eine "Win-Win Situation" für beide Seiten entsteht.

Dazu muss der Staat seine Aufgaben reduzieren und auf Kernbereiche beschränken, so dass mehr Flexibilität in das Sozial- und Beschäftigungssystem einziehen kann.
Nur so können die Chancen für Eigenverantwortung – Privat und im Unternehmen – wachsen und die sozialen Sicherungssysteme auf eine zukunftsfähige Basis gestellt und damit langfristig gesichert werden.

Auch müssen wir einen Konstruktionsfehler der sozialen Sicherungssysteme beheben und die Familien aktiv fördern. Kardinal Lehmann fordert eine „energische Wende“ in der Familienpolitik. Auch das ZdK hat hierzu klare Aussagen getroffen.Ich teile sie und habe deshalb neben der Wirtschaft die Familie zum Schwerpunkt meiner politische Arbeit erklärt.

Das „Ja zum Kind“ muss wieder selbstverständlich werden. Familien mit Kindern müssen in absehbarer Zeit eine spürbare Verbesserung ihrer finanziellen Situation erwarten können. Dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes, bis zum Jahr 2002 eine durchgreifende Verbesserung der Familienförderung umzusetzen, ist die Bundesregierung bisher leider nicht nachgekommen. Im Gegenteil, die Belastungen für Familien sind in den letzten Jahren weiter gestiegen.

Familienförderung muss in den sozialen Sicherungssystemen zum Tragen kommen, nicht nur durch die Anerkennung von Erziehungsleistungen bei der Rente, durch sogenannte Entgeltpunkte, vielmehr muss vor allem in Zeiten der Erziehung eine aktive Unterstützung erfolgen. Ich bin dafür, diese Unterstützung über das Steuersystem zu finanzieren, denn nur dann wird die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht kontraproduktiv belastet. Außerdem tragen dann alle Steuerzahler zu dieser Förderung bei.

Ich halte es dagegen für falsch, dass die Bundesregierung das Erziehungsgeld kürzen will. Auch ist die Abschaffung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende eine schwere Belastung, die nicht annähernd kompensiert wird. Auf diesem Gebiet muss nachgearbeitet werden. Thüringen ist übrigens eines der wenigen Länder, die ein Landeserziehungsgeld zahlen.

In der aktuellen Diskussion um die Reform der sozialen Sicherungssysteme befürchten einige nun eine Abkehr der CDU von der katholischen Soziallehre, die für den sozialen Rechtsstaat in unserem Land wesentliche Grundlagen gelegt hat. Ist diese Sorge berechtigt? Ich meine nein!

Das Sozialwort der Kirchen von 1997 hat für uns große Bedeutung. Wir orientieren uns auch weiterhin an den Zielen von „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“. Aber wir müssen uns fragen, wie wir sie in der heutigen Zeit am besten umsetzen können. Denn eine Gesellschaft braucht nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft zur Solidarität.

Bischof Homeyer wurde kürzlich mit dem Satz zitiert: Das System kollektiver Umverteilung habe die gesellschaftlichen Kräfte der Eigenverantwortung, Solidarität und Gemeinwohlorientierung nachhaltig geschwächt (Die Welt, 17.11.03).

„Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ müssen meiner Ansicht nach wieder mehr in Verbindung mit „Freiheit„ und „Subsidiarität“ gedacht werden – nur wenn wir diese Werte zusammen denken, werden wir auch der Würde des Menschen hinreichend gerecht.

Sicherlich müssen die Sozialsysteme „armutsfest“ gestaltet werden (Bischof Marx). Das aber bedeutet zuallererst, die Sozialsysteme demographiefest zu machen und ihre finanzielle Basis so zu gestalten, dass dadurch keine weitere Belastung für die Sozialsysteme entsteht. Würden durch die Reformen z.B. die Lohnnebenkosten weiter ansteigen, wären Arbeitslosigkeit und weitere Einnahmeverluste für die Sozialversicherungssysteme die Folge. Das kann nicht das Ziel sein.

Grundsätzlich ist mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme wichtig, dass die Familienkomponente überall zum Tragen kommt, dass wir eine tragfähige Balance aus gesellschaftlicher und eigener Verantwortung finden und die großen Lebensrisiken solidarisch abgesichert sind.

Beispiel „Krankenversicherung“: Alle in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten sollen auch alle notwendigen Leistungen erhalten, unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Verdienst. Dies ist in einigen Nachbarstaaten längst nicht mehr der Fall und auch in Deutschland sind bereits Zweifel erlaubt.

Eine gute Grundlage dafür bilden meiner Ansicht nach die Vorschläge der Herzog-Kommission, denn sie schnüren erstmalig ein in sich stringentes Paket für die sozialen Sicherungssysteme, deren Lösungen aufeinander abgestimmt sind.

Für die Kranken- und Pflegeversicherung sehen sie ein lohnunabhängiges Prämienmodell vor, das nun auch von den Wirtschaftsweisen unterstützt wird. Dadurch wird die Wirtschaft nachhaltig entlastet, Wachstum und Neueinstellungen werden befördert. Die Renten- und Arbeitslosenversicherung dagegen sollen lohn- und damit beitragsbezogen bleiben .

Wer diese Vorschläge als unsozial bezeichnet, hat sie, so glaube ich, in ihrer Komplexität und Wirkung nicht wirklich verstanden. Dies gilt z. B. für den Vorschlag der Herzog-Kommission, den sozialen Augleich bei der Krankenversicherung über Steuern und nicht mehr über die Beitragssätze zu finanzieren. Dieser Vorschlag ist sehr sozial, denn nur die Steuer kennt keine Beitragsbemessungsgrenze. Derjenige, der viel verdient, würde sich über die Steuer dann in einem höheren Maße an dem sozialen Ausgleich beteiligen als bisher. Die Sachdiskussion darüber ist sinnvoll, aber sie sollte auch sachlich geführt werden

Zurzeit wird in diesem System übrigens kein gerechter Ausgleich geleistet. Wir reden so, als würden alle in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Das aber ist nicht der Fall.

Natürlich müssen wir uns fragen, ob wir den Kraftakt der Steuerfinanzierung schultern können und wie wir ihn unabhängig von den jährlichen Haushaltsberatungen sichern können.

Die Herzog-Vorschläge setzen deshalb eine grundlegende Steuerreform voraus. Konzepte dazu liegen von verschiedenen Seiten vor. Unter den aktuellen Bedingungen könnten die Herzog-Vorschläge also nicht umgesetzt werden. Die Kritik, die diese Vorschläge an den aktuellen Gegebenheiten misst, läuft deshalb ins Leere.

Es geht bei diesen Vorschlägen um die langfristige Sicherung der sozialen Sicherungssysteme. Deshalb auch wird die aktuelle Rentnergeneration davon kaum betroffen sein, zumal Übergangslösungen notwendig werden.

Entscheidend ist die langfristige, deutliche Entlastung der Lohnnebenkosten und damit ein wirklicher Beitrag für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft.

Wichtig war mir von Anfang an, dass gerade im Bereich Familie eine Nachbesserung erfolgt:

Die Herzog-Kommission sieht eine Verdopplung der Anrechnungszeiten von Kindererziehungszeiten bei der Rente von drei auf sechs Jahre für nach 1992 Geborene und von ein auf zwei Jahre für ältere Kinder vor. Darüber hinaus soll ein Kinderbonus von 50 Euro für die Beiträge zur Rentenversicherung und ein Familiengeld von maximal 240 Euro je Kind und Monat für diejenigen Familien gezahlt werden, die den Freibetrag von 8000 Euro pro Kind, die die Steuerreformvorschläge von Kirchhoff und Merz vorsehen, nicht ausnutzen können.

Nach meiner Überzeugung gehen diese Vorschläge in die richtige Richtung, weil sie die soziale Sicherung regeln und gleichzeitig die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung deutlich verbessern.

Die Herzog-Kommission hat Grundlinien aufgezeigt. Für einen entsprechenden Gesetzestext ist noch viel Detailarbeit mit Blick auf die Familie, aber auch mit Blick auf die jungen Länder notwendig.

Wichtig ist, dass wir die Debatte über eine langfristige Lösung führen. Es geht um existenzielle Fragen. Die Diskussion darüber muss deshalb mit großer Verantwortung geführt werden. Vor allem sollte niemandem, der sich in der Debatte engagiert, abgesprochen werden, dass er sich um eine tragfähige Lösung bemüht.

Wenn wir im Dialog zu einer besseren Lösung kommen, ist es gut. Kritik aber sollte konstruktiv sein und sich nicht im Kritisieren erschöpfen.

Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen die Reformen jetzt angehen. Ansonsten wird es immer schwieriger, die Probleme zu lösen.

Wir müssen kurzfristig zu Lösungen im Vermittlungsausschuss kommen, zum Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform, den Reformen auf dem Arbeitsmarkt und der Gemeindefinanzreform, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.

Mittelfristig brauchen wir ein einfaches und gerechtes Steuersystem und langfristig tragbare Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen. Wer heute einen neuen Generationenvertrag verweigert, handelt unverantwortlich und unsozial.

Vertrauen in die Menschen, Werte als Kompass, Wettbewerb um die besten Ideen und Solidarität mit den Schwachen - das müssen die Grundlagen des Handelns sein.

Ministerpräsident Dieter Althaus

 

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