Agrarpolitik muss wieder Teil der Gesellschaftspolitik werden

Statement von Heinrich Kruse MdL im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Am ersten Sonntag im Oktober feiern wir in Deutschland seit Jahrhunderten „Erntedank“. In verschiedenen Tageszeitungen habe ich zum betreffenden Termin in diesem Jahr nach einem Hinweis auf das Erntedankfest gesucht. Vergeblich. Ich habe auch keine Berichterstattung
über die diesjährige Ernte, den Ertrag oder den Einfluss des außergewöhnlich heißen Sommers darauf gefunden. Es war auch keinen Kommentar über die Ernährungslage in Deutschland oder in Europa zu entdecken.

Stattdessen fand ich in ansonsten seriösen Zeitungen eine umso ausführlichere Berichterstattung über „Bohlen und 4 Engel bei Gottschalk“ vor. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist nicht meine Absicht, eine allgemeine Medienschelte zu betreiben, wohl wissend, dass die Medien auch Spiegelbild der Gesellschaft sind. Aber ist nicht genau darin zu erkennen, dass eben jene, nämlich unsere Gesellschaft mehr an Party als an Erntedank interessiert ist.

Wenn das Thema Landwirtschaft in den Medien aufgegriffen wird, dann meist in negativer Verbindung: in Zusammenhang mit den Brüsseler „Milliardensubventionen“ an die europäischen Landwirte oder bei den ersten BSE-Fällen in Deutschland vor drei Jahren. Wochenlang war die Diskussion um BSE in aller Munde. Wir haben damals eine emotionale und ideologisch geprägte Debatte erlebt. Dazu haben nicht zuletzt viele politisch verantwortliche Akteure und auch Journalisten beigetragen, indem sie Schwarz-Weiß-Malerei betrieben und ideologiebefrachtete und idealisierte Vorstellungen von Landwirtschaft verbreiteten, die weit von der Realität der deutschen Höfe entfernt waren.

Eine emotionalisierte, manchmal sogar ideologische Betrachtungsweise führt nicht weiter, wenn man sich landwirtschaftlichen Themen nähern will. In meinem Vortrag möchte ich mich an diesen Grundsatz halten und eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation der Landwirtschaft in Deutschland und Europa und der Stellung der Agrarpolitik im politischen Gefüge in Deutschland vornehmen. Ich möchte Sie zugleich einladen, mit mir einen neuen Blick auf die Landwirtschaft und insbesondere auf die Agrarpolitik zu werfen.

Denn Agrarpolitik „beackert“ ein weites und komplexes Feld:

  • Agrarpolitik ist Ernährungspolitik: Landwirtschaft schafft gesunde und sichere Lebensmittel, „Mittel zum Leben“.
  • Agrarpolitik ist Verbraucherschutzpolitik: Lebensmittelsicherheit und Qualität der Landwirtschaft müssen durch Qualitätssicherung und Information der Verbraucherinnen und Verbraucher gewährleistet werden.
  • Agrarpolitik ist Politik für Umwelt-, Natur- und Tierschutz: Landwirtschaft ist der Bewahrung der Schöpfung und dem nachhaltigen Umgang mit der Natur, den Tieren und ihren Ressourcen verpflichtet.
  • Agrarpolitik ist Entwicklungspolitik: Landwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Staaten der Dritten Welt und ein Schlüssel für die Bekämpfung des Hungers.
  • Agrarpolitik ist Strukturpolitik: Landwirtschaft prägt den so genannten „ländlichen Raum“, in dem über die Hälfte der Weltbevölkerung leben.
  • Agrarpolitik ist globale Politik: Durch den modernen Handel liegen Erzeuger und Verbrauchermarkt oft weit auseinander. Sie reichen vom heimischen Stall über den Wochenmarkt bis hin zum entferntesten Punkt der Erde.


Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Gibt es einen anderen politischen Themenkomplex, der so allumfassend ist wie Agrarpolitik? Der - weil er die Ernährung sicherstellen soll - von einer solch elementaren Wichtigkeit ist?

Heute erscheint uns auf den ersten Blick die Ernährung der Bevölkerung in Europa quasi als Naturgesetz gesichert. Wie es dazu kommen konnte, dass uns Überschüsse heute offensichtlich mehr Kopfzerbrechen bereiten als der frühere Mangel an Nahrungsmitteln, zeigt ein Blick in die Geschichte:

Die europäische Agrarpolitik nahm ihren Anfang in den fünfziger Jahren, zu einer Zeit, als die Schrecken der Hungerjahre in der Nachkriegszeit noch vor Augen standen. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass wir uns in Europa je aus eigener Kraft würden ernähren können.

In den römischen EWG-Verträgen von 1957 sind unter anderem folgende Ziele festgelegt:

Durch die Erhöhung der Produktivität der Landwirtschaft sollen die Märkte stabilisiert und die Versorgung der Bevölkerung mit angemessenen Preisen gewährleistet werden.

Um diese selbstgesetzten Ziele zu erreichen, führte die EWG die gemeinsame Agrarfinanzierung und einheitliche Agrarpreise ein. Bis in die Mitte der 70er Jahre eignete sich diese Preispolitik dazu, aktive Einkommenspolitik für die Landwirte zu betreiben. Denn bis dahin war die Nachfrage größer als das Angebot. Dies schlug natürlich auch auf die Erzeugerpreise durch und die Produktion nahm entsprechend zu. Der Verbrauch stieg im gleichen Zeitraum nur noch geringfügig. Da die Marktordnungen keine Mengenbegrenzungen vorsahen, entstanden Überschüsse, die als „Milch- und Weinseen“, „Getreide-, Rindfleisch- und Butterberge“ bekannt wurden. Die Einlagerung, Verarbeitung oder auch der Absatz auf dem Weltmarkt kostete viel Geld. Geld, das zum großen Teil nicht auf den Höfen der Landwirte ankam.
Ab Mitte der 80er Jahre versuchte nun die EU die Produktionsmengen durch Höchstmengenbegrenzungen, Flächenstilllegungen und drastische Preissenkungen zu drosseln. Infolge der dramatischen Preissenkungen mussten viele landwirtschaftliche Betriebe aufgeben. Die 1992 erfolgte erste große Agrarreform hat den seit Jahrzehnten staatlich festgesetzten Interventionspreis z. B. für Getreide ganz massiv abgesenkt. Im Gegenzug bekamen die Landwirte eine so genannte Flächenprämie als Ausgleichszahlung mit der Verpflichtung, ab einer bestimmten Größe einen Teil der Flächen nicht mehr zu bewirtschaften, sie also stillzulegen. Im allgemeinen Sprachgebrauch entwickelte sich diese Ausgleichszahlung wenige Jahre später zur „Direktzahlung“; von der „Direktzahlung“ war es nicht mehr weit bis zum Begriff der „Subvention“. Ich überlasse es Ihrer Wertung, ob an dieser Stelle die Bezeichnung „Subvention“ berechtigt ist.

Das Fazit dieser Politik: Sie hat es nicht geschafft, die Märkte zu stabilisieren und die Landwirte an der allgemeinen Entwicklung der Einkommen teilhaben zu lassen.

Die oft gestellte Frage, warum die gemeinsame EU-Agrarpolitik 40 Milliarden Euro im Jahr kostet, ist berechtigt. Der Agrarmarkt ist der einzige weitgehend EU-weit regulierte Wirtschaftsbereich. Derzeit wird in den Mitgliedsstaaten der EU über die Umsetzung einer weiteren großen Agrarreform diskutiert, mit der die europäische und auch die deutsche Landwirtschaft auf einen liberalisierten Agrarweltmarkt vorbereitet werden soll. Staatliche Zuschüsse sollen abgebaut, gleichzeitig sollen die Höfe „fit“ für die Zukunft gemacht werden.

Durch den jährlich von der Bundesregierung vorgelegten Agrarbericht hat die Landwirtschaft als einziger Bereich überhaupt gläserne Taschen. Im vergangenen Wirtschaftsjahr ging der Gewinn der deutschen Landwirte um über 6 Prozent zurück, im laufenden Wirtschaftsjahr wird es einen weiteren Rückgang von 15 bis 20 Prozent geben.

Als engagierter Landwirt möchte ich noch einmal auf die Situation in der deutschen Landwirtschaft zurückkommen und einige Problembereiche aufzeigen.

1.Das Verhältnis zwischen dem Wert von Nahrungsmitteln und ihrem Preis stimmt nicht mehr!

Hierzu einige anschauliche Beispiele aus unserem Alltag:
Wer die Getränkepreise von Frischmilch und Mineralwasser vergleicht, muss zu dem Schluss kommen, dass Mineralwasser offensichtlich mehr wert ist als Milch. Denn pro Liter Milch erhält der Landwirt derzeit nur ca. 30 Cent.
Ein weiteres Beispiel: Brotgetreide wird fast zum gleichen Preis gehandelt wie Futtergetreide. Nicht einmal die Dürre in diesem Jahr in Europa, die ganz erhebliche Ertragsrückgänge zur Folge hatte, hat daran etwas geändert.
Ich verstehe nicht, dass diese Problematik nicht öffentlich thematisiert wird.

2. Bäuerinnen und Bauern sind durch das Negativ-Image ihres Berufsstandes verunsichert!

Bedingt durch die überwiegend negativen Meldungen in den Medien und die geringen Preise für die Produkte, entsteht bei landwirtschaftlichen Familien häufig der Eindruck, dass viele in der Bevölkerung der Tätigkeit auf den Höfen keine entsprechende Wertschätzung mehr entgegenbringen. Diese Verunsicherung greift auch auf die junge Generation über, weshalb - trotz der angespannten Lage auf dem Ausbildungsmarkt - in der Landwirtschaft viele Lehrstellen in diesem Jahr unbesetzt geblieben sind. Landwirtschaft ist ein harter Berufszweig: Die derzeitigen Diskussionen über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit entlockt Bauernfamilien nur ein müdes Lächeln. Durchschnittliche Wochenarbeitszeiten von 55 - 60 Stunden sind keine Seltenheit, insbesondere für die Frauen, auf denen vielfach der höchste Arbeitsdruck lastet. Trotzdem - und das muss anerkannt werden - engagieren sich viele Landfrauen in Kirchengemeinden, Pfarrgemeinderäten oder Verbänden wie der kfd.

Es empört genau diese Menschen, Bäuerinnen und Bauern und ihre Familien, dass sie sich, bedingt durch Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft, in einer „Sündenbockfunktion“ befinden. Schlechte Nachrichten kommen wie eine Sturmflut über das Land - die Massenmedien vermögen nicht, zur Sachlichkeit beizutragen. Häufig wird weder differenziert noch werden die Ursachen analysiert.

Es entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit, egal ob es sich um BSE, Nitrofen oder Maul- und Klauenseuche handelt. In all diesen Fällen waren die Bauern Opfer und nicht Täter. Gleichwohl waren sie es, die riesige wirtschaftliche Schäden bis zur Existenzvernichtung hinnehmen mussten.

3. Die Landwirtschaft gilt als naturschädigend und veraltet!

Selbstverständlich ist, wie jede menschliche Aktivität, auch die Landwirtschaft ein Eingriff in Umwelt und Natur. Entscheidend ist, dass die negativen Folgen so gering wie möglich sind, mit möglichst hoher Effizienz der Bewirtschaftung. So ist z. B. der Einsatz von Mineraldünger in den vergangenen 12 Jahren rapide, in Einzelbereichen um fast die Hälfte zurückgegangen.

Mit Recht kann man behaupten, dass die Landwirte in Deutschland sehr aufgeschlossen sind gegenüber neuen Erkenntnissen. Dafür spricht der Produktivitätszuwachs. Während vor 100 Jahren ein Bauer gerade 4 Menschen ernährte, sind es heute etwa 130.

Der landwirtschaftliche Berufsstand lebt auch heute noch zu einem erheblichen Teil aus der Tradition heraus. Viele Höfe werden in langer Generationenfolge bewirtschaftet. Dies wäre nicht möglich, wenn nicht nachhaltig gewirtschaftet würde. Nachhaltig in diesem Sinne wirtschaftet, wer in der Landwirtschaft das Wissen und die Erfahrung der „Alten“ mit den Erkenntnissen der neuen und unabhängigen Wissenschaft und Forschung verbindet. Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Landwirtschaft liegt also darin, Theorie und Praxis in vernünftiger Weise miteinander zu verbinden. Leider gibt es in Politik, Wirtschaft und Verwaltung mehr Theoretiker als Praktiker, die uns Landwirten mit entsprechender Ausbildung ihre Sichtweise als die einzig richtige darstellen wollen.

In Deutschland werden leider an jedem Tag etwa 130 ha Freifläche verbraucht. Ich finde es in diesem Zusammenhang bedauerlich, dass an keiner Stelle darüber gesprochen wird, dass es sich hier zu fast 100 Prozent um wertvolle landwirtschaftliche Fläche handelt, auf der dann weder Nahrungs- noch Futtermittel noch nachwachsende Rohstoffe mehr angebaut werden können. Gerade aus diesem Grunde habe ich für die so genannte Flächenstilllegung in der europäischen Union nie Verständnis gehabt. Im Zusammenhang mit den Ausgleichsflächen für Eingriffe in die Landschaft müssen wir zu neuen Lösungen kommen. Hier ist es nach meiner Auffassung nicht mehr zu verantworten, diesen Naturausgleich generell über die Herausnahme von landwirtschaftlichen Flächen zu schaffen. Für das Gebiet der Landwirtschaftskammer Rheinland, das von der holländischen Grenze bis nach Rheinland-Pfalz reicht, würde die jetzige Praxis bedeuten, dass in 100 Jahren kein einziger Quadratmeter mehr landwirtschaftlich genutzt werden könnte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschließend noch drei Themen, die mir sehr am Herzen liegen. Zunächst zu Dumpingpreisen im Lebensmittelhandel und zu einer ideologisch geprägten Agrarpolitik:

Das Beispiel der EU-Agrarpolitik zeigt: Wenn die Politik reglementierend auf die Produktion einwirkt, gibt es keine guten Ergebnisse. Erzeugt und produziert werden kann nur das, was am Markt nachgefragt wird. Der Verbraucher entscheidet. Politisch motivierte Festlegungen bestimmter Produktionsrichtungen wie z. B. der so genannte ökologische Landbau, ohne Berücksichtigung der Verbrauchernachfrage, führen in die Irre und die Betriebe in eine Sackgasse.

Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass sich die Verbrauchernachfrage gerade in den vergangenen Jahren auf das Niedrigpreissortiment des Lebensmittelhandels konzentriert hat. Mit dramatischen Erlös- und Einkommenseinbrüchen der so genannten Öko-Bauern. Viele Bio-Betriebe sind in ihrer Existenz gefährdet, manche stellen bereits wieder auf konventionellen Landbau um. Der Einfluss der Verbraucherinnen und Verbraucher auf die Produktion ist immens und wird vom Einzelnen häufig völlig unterschätzt. In Deutschland wird ein sehr, sehr großer Anteil der Nahrungsmittel im Supermarkt oder beim Discounter eingekauft. Wenige „Große“, ungefähr eine Handvoll, streichen mittlerweile über 80 Prozent des Gesamtumsatzes ein. Lebensmittel werden zu Dumpingpreisen angeboten. Zu einem erheblichen Teil werden Produkte unter Einkaufspreisen verramscht. Obwohl dies gegen das geltende Kartellrecht verstößt. Weltweit operierende Lebensmittelkonzerne können es sich erlauben, da die Gewinnmargen in anderen Ländern u. a. auch in unseren Nachbarländern wesentlich größer sind als in Deutschland. Seit Jahren tobt ein beispielloser Verdrängungswettbewerb mit zunehmender Tendenz. Es ist eine Schieflage entstanden zwischen den weltweit operierenden Großen der Branche und der mittelständischen Ernährungswirtschaft sowie den bäuerlichen Familienbetrieben. Der alte Grundsatz: „Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis“ ist oftmals außer Kraft gesetzt.

Die Freude der Verbraucher darüber kann ich verstehen. Solche Dumpingpreise haben aber gravierende Konsequenzen für Erzeuger und Verarbeiter. Wenn Aldi in dieser Woche eine Preissenkungsoffensive annonciert und z. B. den 1000 g Becher Joghurt für 1,79 Euro anbietet und dazu schreibt, dass die Preissenkungen von Dauer sind, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass die Molkereien so unter Druck gesetzt werden, dass sie dem Landwirt nur noch 25 Cent pro Liter auszahlen können. Ein Preis jenseits von Gut und Böse. Er liegt erheblich unter den Selbstkosten, selbst für große und leistungsfähige Betriebe.

Wenn in der gleichen Woche Rewe saftiges Gulasch zum Kilopreis von 3,99 Euro anbietet, ist es kein Wunder, dass der Bauer von der Fleischerei nur 1,25 Euro bekommt und in der fleischverarbeitenden Branche aus Kostengründen Billiglohnkräfte aus Osteuropa für 5 Euro pro Stunde eingesetzt werden. Es ist ein Verdrängungswettbewerb im Gange, der zur Folge haben wird, dass in wenigen Jahren möglicherweise nur noch 3 oder 4 die Preise diktieren.
Ob die Verbraucher dann noch Anlass zur Freude haben, wage ich zu bezweifeln.

Lassen Sie mich nun auf Fragen des freien Welthandels und der Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung eingehen.

Vor dem Hintergrund einer weiter wachsenden Weltbevölkerung und der Tatsache, dass rund 800 Millionen Menschen auf dieser Welt nicht satt werden, hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO zu einer internationalen Allianz gegen den Hunger aufgerufen. Bislang wurde in der Öffentlichkeit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, dass sich die Weltversorgungsbilanz für Getreide einschließlich Reis in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verschlechtert hat. Bereits im fünften Jahr in Folge ist der Verbrauch höher als die Erzeugung. Der Weltgetreidevorrat beträgt heute weniger als 80 Tage, vor fünf Jahren waren es noch über 135 Tage.

Es geht also überhaupt kein Weg daran vorbei, dass mehr produziert werden muss! Nach einer aktuellen Studie der FAO wird die Nachfrage nach Lebensmitteln bis 2030 um 60 Prozent steigen. Ertragssteigerungen können gerade in Entwicklungsländern durch verbesserte Anbaumethoden, gezielte Bewässerung sowie optimierte Dünge- und Pflanzenschutzmaßnahmen erreicht werden.

Im Zusammenhang mit der gescheiterten WTO-Runde von Cancun sind manche Vorurteile wieder aufgewärmt worden. Einige Kommentatoren haben die Beseitigung sämtlicher landwirtschaftlicher Unterstützungen in der EU als das „Non-plus-Ultra“ dargestellt, mit der man alle Schwierigkeiten auf der Welt abschaffen könne. Denn die Europäische Union schotte ihren eigenen Binnenmarkt gegen Nahrungsmittel aus Entwicklungsländern ab und rege die eigenen Bauern gleichzeitig zur Produktion von Überschüssen an. Diese wiederum zu subventionierenden Dumpingpreise haben den Zusammenbruch der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern zur Folge.

Es besteht kein Zweifel, dass in der Vergangenheit subventionierte EU-Agrarexporte in den Entwicklungsländern zu Marktverwerfungen geführt haben, genauso wie die Exportförderung der Hauptkonkurrenten z. B. aus den USA, Australien, Brasilien und Neuseeland. Die EU hat die Exporterstattungen von 37 Prozent im Haushalt 1990 auf deutlich unter 8 Prozent im Jahr 2002 reduziert. Es ändert sich also einiges.

Seit 2001 gewährt die EU den 49 ärmsten Staaten den zollfreien Import faktisch aller Güter in die Gemeinschaft. Gleichzeitig nimmt die EU heute 70 Prozent aller Agrarexporte dieser Staaten auf.

Entwicklung und Handel sind eng miteinander verbunden. Wir brauchen allerdings weniger einen freien Welthandel als einen fairen Welthandel. Davon sind wir derzeit weit entfernt. Eine Handelsliberalisierung und Preise auf Weltmarktbasis würden bei den derzeitigen Strukturen in der Landwirtschaft dazu führen, dass die europäische Landwirtschaft, die zu einem großen Teil nachhaltig betrieben wird, sehr stark schrumpfen würde und eine flächendeckende Landbewirtschaftung nicht mehr möglich wäre.

Sind Preise auf Weltmarktniveau also ein Vorteil?
Ist den Entwicklungsländern damit gedient, dass eine totale Liberalisierung das Preisniveau für landwirtschaftliche Produkte nach unten ziehen wird?

Es bleibt festzuhalten: Ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Hunger und Armut sind faire Welthandelsbeziehungen. Es ist deshalb zu wünschen, dass die WTO-Runde weitergeht.

Und nun ein Letztes: Wir in Europa brauchen vor allem gleiche Wettbewerbsbedingungen in der Landwirtschaft!

Ein immer offenerer Markt braucht faire Regeln. Davon sind wir derzeit weit entfernt. Es fehlen klare Prinzipien und Regeln für den Tier-, Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz. Leider sind die unterschiedlichen Standards innerhalb Europas ein riesiges Problem, worauf die Politik nicht annähernd genügend geachtet hat. Isoliert getroffene nationale Regelungen führen dazu, die Produktion in benachbarte Länder zu verlagern, die einen weitaus niedrigeren Standard haben.

Es müssen dringend EU-weit harmonisierte Bestimmungen im Pflanzenschutz durchgesetzt werden. Es kann einfach nicht sein, dass in Deutschland seit Jahren verbotene Pflanzenschutzmittel im Ausland angewendet werden dürfen, und die importierte Ware schließlich in deutschen Supermärkten verkauft wird, wie es im Sommer beim Import von Obst und Gemüse z.B. aus Mittelmeerländern bekannt geworden ist.

Wenn die Schranken an den Grenzen fallen und der Austausch von Waren möglich ist, müssen auch die Standards von Produktion und Verarbeitung angeglichen werden.

Es gibt aber auch eine ganze Reihe weiterer Wettbewerbsverzerrungen. Es ist z. B. nicht hinnehmbar, dass der Getreide- und Rindfleischpreis in der EU gleich ist, die Mineralölsteuer für Landmaschinen hingegen überhaupt nicht angepasst wurde. Man muss in Deutschland zukünftig im Schnitt etwa 40 Cent pro Liter Diesel zahlen, während in Dänemark, Frankreich und Großbritannien nur zwischen 3 und 5 Cent fällig sind.

Meine Damen und Herren,

Agrarpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wenn das Wort „Nachhaltigkeit“ richtigerweise als Überschrift für und Forderung an die Landwirtschaft steht, muss auch die Politik nachhaltige Gesellschaftspolitik machen und ihr Augenmerk auf eine lebensfähige Landwirtschaft richten!
Agrarpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den vielfältigen Herausforderungen, denen sich die in der Landwirtschaft Tätigen weltweit gegenübersehen, angemessen zu begegnen.

Aus diesem Grunde ist es folgerichtig, dass sich auch die Kirchen sehr intensiv - auf allen Ebenen - dieses Themas annehmen.

Heinrich Kruse MdL

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