Agrarpolitik muss wieder Teil der Gesellschaftspolitik werden

Plädoyer für eine nachhaltige Landwirtschaft

Agrarpolitik muss wieder Teil der  Gesellschaftspolitik werden - Plädoyer für eine nachhaltige Landwirtschaft

Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

 

1. Einleitung

Landwirtschaftspolitik betrifft in existentieller Weise die langfristige Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger. Die Sicherung unserer Ernährung in einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern ist ohne eine moderne und leistungsfähige Landwirtschaft nicht denkbar.1 Die Menschen, die in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten, leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Pflege und Erhaltung unserer Natur- und Kulturlandschaft. Die Möglichkeit dazu ist unter den heutigen Bedingungen gefährdet. Das anhaltende Sterben bäuerlicher Betriebe und das Abwandern landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in Deutschland haben darum kaum absehbare Folgen für unsere Ernährung, für die Gestalt unserer Landschaft und für die Pflege unserer Kultur.

Abgesehen von Zeiten, in denen außergewöhnliche Phänomene wie die Überschwemmungen im Sommer 2002 oder die Hitze- und Dürreperiode im Sommer 2003 das öffentliche Interesse aufflackern lassen, verbleibt das Thema "Landwirtschaft" doch meistens in Fachzirkeln. Daran wird deutlich, dass das Verständnis dafür, dass Landwirtschaftspolitik ein Teil der Gesellschaftspolitik2 sein muss, in unserer Gesellschaft denkbar gering ist. Dies führt immer häufiger dazu, dass sich Landwirtinnen und Landwirte mit widersprüchlichen Erwartungen, Interessen und Wertsetzungen unterschiedlicher Gruppen konfrontiert sehen, denen sie kaum allen gerecht werden können. Die Gestaltung einer zukunftsfähigen Landwirtschaft ist keine sektorale Aufgabe. Denn zukunftsfähige Reformen sind auch im landwirtschaftlichen Sektor nur in der engen Kooperation verschiedener Politikfelder und gesellschaftlicher Gruppen zu erreichen; für die Landwirtschaftspolitik ergeben sich etwa zur Verbraucher-, Umwelt-, Energie- und Außenhandelspolitik wichtige Querschnittsverbindungen, die es zu berücksichtigen gilt. Folglich gelingt die Gestaltung einer zukunftsfähigen Landwirtschaft nur, wenn sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure vernetzen und aktiv zusammenwirken.

Der Gipfel der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 hat für wenige Wochen die Schlagzeilen in den Medien bestimmt. Er hat jedoch – ebenso wie bereits zehn Jahre zuvor der Weltgipfel für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 – deutlich gemacht, dass die Bekämpfung von Hunger und Armut und der vorsorgende Schutz der Natur zwei unlösbar zusammenhängende und nur global zu bewältigende Aufgaben darstellen. Der Kurswechsel hin zu einer globalen Solidarität in der Bekämpfung der Armut und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist eine Überlebensfrage der Menschheit. Darum setzt sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) nach dem Johannesburg-Gipfel für Allianzen ein, die auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen nachhaltiges Handeln integrieren und umsetzen. Aus Sicht des ZdK kommt dabei der Landwirtschaft eine Schlüsselrolle zu.

Nachhaltigkeit ist ein ethisches Leitbild, das eine tief greifende Neuorientierung unserer Wirtschafts- und Lebensweise fordert. Ohne die starke Mitwirkung der Religionen ist die Wende hin zu einem nachhaltigen Lebensstil nicht möglich. Auch die Kirchen haben deshalb eine Bringschuld, die Werte der Nachhaltigkeit in der Gesellschaft umzusetzen. Sie können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die mit dem Begriff "Nachhaltigkeit" verbundenen Visionen, Herausforderungen und Aufgaben neu zu entdecken; sie können zu persönlichem sowie gesellschaftlichem Engagement motivieren und zu kooperativem Handeln befähigen.

Nach der Rio-Konferenz sind eine Vielzahl von ermutigenden Ini-tiativen ergriffen worden. Zahlreiche Pfarrgemeinden und Verbände haben sich z. B. in Agenda 21-Prozessen engagiert. An diese Erfahrungen gilt es anzuknüpfen, sie zu intensivieren und planvoll voranzutreiben. Um hierzu einen Beitrag zu leisten, stellt sich das ZdK als politisches Forum der katholischen Laien in Deutschland den aktuellen Fragen der Landwirtschaftspolitik. Wir wollen die Öffentlichkeit für die Belange der Landwirtschaft verstärkt sensibilisieren und aktivieren. Wir wissen, dass unsere Glaubwürdigkeit davon abhängt, ob wir uns dabei selbst in die Pflicht nehmen lassen.

2. Situation der Landwirtschaft

Eine Sensibilisierung für die Belange der Landwirtschaft in der Gesellschaft gelingt nur, wenn die Situation der Landwirtschaft angemessen wahrgenommen und beschrieben wird. Hierzu bieten sich die drei Aspekte der Nachhaltigkeit (ökonomisch, sozial, ökologisch) als Perspektiven einer Analyse an. Das ZdK sieht mit Sorge einige Phänomene, in denen sich eine tiefe und existenzielle Krise der Landwirtschaft zeigt, die wir als gesamtgesellschaftlich relevant betrachten.

2.1    Ökonomische Krise landwirtschaftlicher Betriebe

Mehr als zwei Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland wurden seit 1960 aufgegeben.3 Dies betrifft insbesondere Betriebe unter 100 ha Landfläche. Gleichzeitig stieg der Druck großer Lebensmittelkonzerne auf Landwirtinnen und Landwirte, immer mehr Produkte zu immer geringeren Preisen herzustellen. Vielen landwirtschaftlichen Betrieben steht in ihrer Region jeweils nur ein einziger Großabnehmer gegenüber, der die Preise diktieren kann und einen hohen Rationalisierungsdruck ausübt. Der Anteil des Verkaufserlöses der Landwirtschaft an den Ausgaben für Lebensmittel sank infolge der besseren Marktstellung vor- und nach gelagerter Betriebe immer weiter. In der Folge haben viele Höfe auf Nebenerwerb umgestellt oder ganz geschlossen.

Als weiterer ökonomischer Nachteil, der von vielen Bauern immer wieder beklagt wird, erweist sich die zunehmende Bürokratisierung.4 Insbesondere die anspruchsvollen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz, wie sie in Deutschland erreicht wurden, führen zu einem enormen betrieblichen Aufwand. Dieser zusätzliche Aufwand führt international zu einem großen Wettbewerbsnachteil, da die bürokratischen Anforderungen in anderen Ländern zum Teil erheblich geringer sind als in Deutschland.

Das Sterben landwirtschaftlicher Betriebe wird dadurch verschärft, dass auf vielen Höfen die Nachfolge ungeklärt ist, weil junge Menschen immer seltener eine berufliche Perspektive in der Landwirtschaft sehen. Wurden in der Vergangenheit die meisten Höfe an die nachfolgenden Generationen in der Familie vererbt, so nimmt dies immer weiter ab und viele Höfe müssen aufgegeben werden.

2.2    Soziale und kulturelle Probleme

Die Mehrheit der in der Landwirtschaft tätigen Menschen wird durch den Strukturwandel sozial, ökonomisch, physisch und psychisch stark belastet. Sinkende Agrarpreise wurden seit 1992 in der EU durch flächengebundene Zahlungen ausgeglichen. Damit waren und sind jedoch ungünstige Folgen für die strukturelle Entwicklung sowie für die Verteilung dieser Ausgleichszahlungen verbunden. Die EU-Kommission hat bezüglich der Verteilung dieser Ausgleichszahlungen im Vorfeld der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik 2002 festgestellt, dass 80 Prozent der Betriebe nur etwa 20 Prozent der Transferzahlungen erhalten. Flächenstarke Betriebe – in welcher Rechtsform auch immer – erhalten den Großteil der Zahlungen und rationalisieren weiter ihre Betriebe. Dies führte und führt zum Verlust vieler mittelständischer und kleiner Betriebe, die im Wettbewerb um Unterstützungen und folglich auch im Wettbewerb um Kunden benachteiligt sind.

Eine aus Verbrauchersicht oftmals als positiv empfundene Verbilligung von landwirtschaftlichen Produkten führt für viele Landwirte zu finanziellen Härten. So ist in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil an Ausgaben der privaten Haushalte für landwirtschaftliche Produkte stark zurückgegangen. Infolge dessen sank der Anteil des landwirtschaftlichen Verkaufserlöses etwa an Brotgetreide von gut sieben Prozent in den Jahren 1992/1993 auf nur noch vier Prozent in den Jahren 2001/20025

Aufgrund der im internationalen Vergleich relativ hohen Kosten für die Produktion landwirtschaftlicher Produkte in Deutschland verlagern größere Unternehmen ihre Produktion immer häufiger in andere Länder (z. B. im Bereich der Geflügelhaltung). Teilweise wird der komparative Kostenvorteil in anderen Ländern durch niedrige Umwelt- und Sozialstandards erkauft. In der deutschen Landwirtschaft führt dies immer häufiger zum Abbau von Arbeitsplätzen. Stärker als bisher müssen von Politik und Kirche die agrarsozialen Sicherungssysteme in den Blick genommen werden. Eng verbunden mit diesem sozialen Umbruch ist ein Wandel der Kultur des ländlichen Raumes, die bislang von einer traditionellen bäuerlichen Lebens- und Arbeitsweise geprägt war.

2.3    Umweltbelastungen

Die globale Erwärmung in den erdnahen Schichten der Atmosphäre und der Erdoberfläche wird bis zum Jahre 2100 um zwei Grad zunehmen, wenn nicht drastische Schritte zur Verringerung der Emissionen unternommen werden.6 Die meisten Szenarios lassen darauf schließen, dass der zukünftige Anstieg der Emissionsraten weitgehend vom weiteren Geschehen in den Entwicklungsländern bestimmt sein wird. Bisher stammten die Emissionen fast ausschließlich aus den Industriestaaten. Das zukünftige Wachstum wird aber voraussichtlich in den Schwellen- und Entwicklungsländern stattfinden, in denen Wirtschaft und Bevölkerung am schnellsten wachsen.7

Die Landwirtschaft trägt mit rund 20 Prozent zu dem vom Menschen weltweit verursachten Treibhauseffekt bei. Intensive landwirtschaftliche Nutzungen wie Viehzucht, Reisanbau in Nasskultur und der Einsatz von Düngemitteln verursachen 50 Prozent des durch Aktivitäten des Menschen entstehenden Methans (CH4) und 70 Prozent unseres Distickstoffmonoxids (N2O).8 Wir sind in der glücklichen Lage, dass die Netto-Emissionen der Land- und Forstwirtschaft heute in allen Teilen der Welt durch Maßnahmen und Technologien erheblich reduziert werden könnten – die überdies in vielen Fällen die Produktionskosten senken, die Erträge steigern oder andere sozioökonomische Vorteile mit sich bringen würden.

Fast 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Erde, der größte Teil davon in Entwicklungsländern, sind heute durch Erosion, Versalzung oder gar Wüstenbildung so stark geschädigt, dass die langfristige Produktivität der Böden bedroht ist.9 Dies hat dramatische Folgen für die Lebenssituation der über eine Milliarde Menschen, die in diesen Regionen der Erde leben. Gleichzeitig ist seit Jahren zu beobachten, dass weltweit Flächen besonders durch Siedlung und Verkehr zerstört werden. Für die deutsche Landwirtschaft stellt sich demgegenüber weitaus mehr das Problem des zunehmenden Flächenverbrauchs durch Siedlung und Verkehr. In Deutschland wuchs dadurch innerhalb der letzten zehn Jahre die Siedlungs- und Verkehrsfläche um fast zehn Prozent.10 Für die Landwirtschaft, die diese Flächen nachhaltig bewirtschaften könnte, sind diese Flächen oftmals unwiederbringlich verloren.

Ein gravierendes und zukünftig sich verschärfendes Problem stellt die Verknappung von Wasser, insbesondere von Trinkwasser, dar. Aufgrund des Bevölkerungswachstums und der beschleunigten Verstädterung wächst einerseits die Nachfrage nach Wasser weiter. Andererseits nimmt das verfügbare Angebot an hygienisch unbedenklichem Wasser dramatisch ab, weil Wasser zunehmend durch die Klimaveränderungen räumlich und zeitlich ungleicher verteilt sowie durch Verschmutzung oder Versalzung unbrauchbar wird. Schon heute haben rund 1,3 Mrd. Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und 2,6 Mrd. Menschen keinen Zugang zu angemessener Abwasserentsorgung.11 Nach Schätzungen der WHO sind in vielen Entwicklungsländern rund 80 Prozent der Krankheiten und ein Drittel der Todesfälle auf verschmutztes Wasser und mangelnde Hygiene zurückzuführen.Durch eine ökologisch verträgliche Nutzung der von der Landwirtschaft angebauten Flächen weltweit könnte die Verschmutzung des Grund- und Oberflächenwassers wesentlich vermieden werden.

Die Gefahren für den Verlust der biologischen Vielfalt auf der Erde (Ökosysteme, Pflanzen- und Tierarten, genetische Informationen) nehmen dramatische Ausmaße an. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass weltweit etwa 22 Millionen Arten existieren. Etwa sieben Millionen Arten davon sind vom Aussterben bedroht. Besonders in den Entwicklungsländern, die über die größte biologische Vielfalt verfügen, besteht die Gefahr, dass in Zukunft biologische Grundlagenstoffe für Ernährung und Medizin unwiederbringlich verloren gehen. Neben der Zerstörung von Wäldern und Feuchtbiotopen sowie maritimen Lebensräumen (insbesondere in den Tropen) sind viele Anbauverfahren in der Landwirtschaft weitere wichtige Ursachen für den Verlust biologischer Vielfalt.12 Der Mangel an Biotopen für Tiere und Pflanzen führt auch in Deutschland dazu, dass viele Arten bedroht sind.13

Insbesondere die Umweltbelastungen in der Atmosphäre sowie in Flüssen machen deutlich, dass auf lange Sicht nationale Alleingänge keinen Erfolg bringen. Eine grenzüberschreitende Koordination der Landwirtschaft im Umweltbereich ist vielfach noch ein Desiderat. Bislang ist der grenzüberschreitende Umwelt- und Naturschutz, der den Schutz internationaler Flüsse wie Rhein, Elbe, Donau, Oder, Mosel oder Saar zum Ziel gesetzt hat, gelungen. Darauf darf aber der Umweltschutz nicht beschränkt bleiben;

er verlangt ein globales Verantwortungsbewusstsein, das Länder und Kontinente übergreift. Insbesondere der Landwirtschaft kommt dabei eine zentrale Rolle zu. In der Verbindung von alten Traditionen und moderner Technik kann sie eine Schrittmacherfunktion für eine neue Balance zwischen Ökonomie und Ökologie übernehmen.

3. Nachhaltigkeit – Handlungsprinzip zeitgemäßer Schöpfungsverantwortung

Erst als vom Menschen die rechtzeitige Vorsorge und der zeitliche Ausgleich der Erträge durch aktive Maßnahmen und nicht bloß durch passive Verbote gesucht wurden, stellten sich Land- und Forstwirtschaft auf das Prinzip der Nachhaltigkeit ein. In der Forstwirtschaft findet sich der Begriff "Nachhaltigkeit" zum ersten Mal bereits im Jahre 1713. Danach verstand man unter "nachhaltig" solche Anbau- und Pflegemethoden, die eine kontinuierliche und beständige Nutzung des Waldes ermöglichen, ohne die das Land in seinem Wesen bzw. Dasein nicht existieren könne.14 Und so wurde es für viele Land- und Forstwirte in der Folgezeit selbstverständlich, ihre Arbeit nach diesem Leitprinzip auszurichten.

Im 20. Jahrhundert finden sich im Bereich der Forstwirtschaft schließlich Definitionen, die das Prinzip Nachhaltigkeit um den Aspekt der Generationengerechtigkeit erweitern: "Nachhaltigkeit ist das Streben und die Forderung nach stetiger und optimaler Bereitstellung sämtlicher materiellen und immateriellen Waldleistungen zum Nutzen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen".15 Auf der Grundlage dieses Nachhaltigkeitskonzeptes ist dann im Vorfeld der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 die Idee der nachhaltigen Entwicklung formuliert worden, die heute zu einem grundlegenden Maßstab einer zukunftsfähigen Entwicklung der gesamten Menschheit geworden ist.

Niemals zuvor in der Geschichte hatte der Mensch ein solches Maß an Macht über seine Umwelt wie heute, über Natur und Mitmenschen, ja, über die gesamte Erde. Diese Erfahrung macht uns bewusst, dass wir unser lokales Handeln in den Anspruch einer globalen und partnerschaftlichen Solidarität stellen müssen, die auch künftige Generationen einschließt. Darum fordert das Prinzip der Nachhaltigkeit zu Recht eine Versöhnung mit der Schöpfung durch sozial gerechte, ökologisch verträgliche und ökonomisch vernünftige Lebens- und Wirtschaftsformen. Die weltweite Wende hin zu nachhaltigen Lebensformen im öffentlichen wie auch im privaten Bereich ist Voraussetzung für die Zukunft unserer Menschheit. In diesem radikalen Anspruch ist Nachhaltigkeit eine große politische, ethische und spirituelle Herausforderung.

Für die notwendige Rückbesinnung auf die tragenden Grundwerte des Lebens kann die befreiende Perspektive des biblischen Schöpfungsglaubens Wesentliches beitragen. Die Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes (Gen 1,26) beruht nicht auf einer Geringschätzung seiner kreatürlichen Eingebundenheit, sondern auf seiner besonderen Verantwortung, die er als sittliches Subjekt auch für alle seine Mitgeschöpfe übernehmen soll.16

Die zentrale Erfahrung, die den Texten zugrunde liegt, ist das Gewährtsein des Lebens und der Lebenswelt sowie die Erstellung eines Lebenshauses durch Gott.17 Dabei wird die Schöpfermacht Gottes nicht nur als anfangsetzende Erstursache verstanden, sondern als ständige belebende und sinnstiftende Gegenwart in der Schöpfung. Diese Sichtweise wird kohärent weitergeführt in der heutigen Prozesstheologie, die die Welt als offenen Prozess kreativer Entwicklung versteht und eine neue Zusammenschau von Naturwissenschaften und Theologie ermöglicht.18 In den Texten kommt eine große Erfurcht und ein tiefes Staunen über die Schöpfung und die Vielfalt des Lebens zum Ausdruck (Psalm 104). Denn für uns Christinnen und Christen ist die Erde auch heute noch Raum des geschenkten Lebens, den wir in Ehrfurcht und Verantwortung bebauen und bewahren sollten (Genesis 2,15). Das Engagement für eine nachhaltige Entwicklung findet nach unserer Überzeugung in diesem biblischen Schöpfungsglauben seine tiefste Begründung und seine größtmögliche Motivation.19

Das christliche Verständnis der Welt als "Lebenshaus der Schöpfung" zielt jedoch nicht nur auf einen verantwortlichen Umgang mit Tieren, Pflanzen, Böden und Wasser, sondern auch auf eine umfassende Kultur des Menschseins. Diese bemisst den Wert des Menschen nicht an Konsum, Besitz oder Macht, sondern an seiner Berufung zu Freiheit und Liebe in der Beziehung zu Gott, zu seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen. Dieser Glaube ermöglicht uns eine Umorientierung in unseren Lebensstilen, weg vom maximalen Konsum, hin zu sozial, ökologisch und ökonomisch verantwortbarem Wohlstand.

Die katholische Kirche ist heute auf den Weg der Nachhaltigkeit verwiesen. Denn das  Konzept der Nachhaltigkeit übersetzt die ethischen Impulse des christlichen Schöpfungsglaubens in die Sprache gegenwärtiger Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.20 Die Idee, dass der Einsatz für eine weltweite Armutsbekämpfung, für Umweltschutz und demokratische Partizipation nur gelingt, wenn ihre gegenseitigen Abhängigkeiten berücksichtigt werden, hat wesentliche Wurzeln im Entwicklungsbegriff der Katholischen Soziallehre und im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Der Anteil der Kirchen an der Entstehung des ethischen Prinzips der Nachhaltigkeit verpflichtet sie zu einer entsprechenden Beteiligung an seiner Umsetzung.

Vor dem Hintergrund dieser Tradition ist für uns das Bekenntnis zum christlichen Schöpfungsglauben sowohl Ermutigung als auch Handlungsauftrag für eine nachhaltige Entwicklung. Und darum gilt es, mit aller Kraft und Kreativität Strategien zu entwickeln, die eine sozial gerechte, ökologisch verträgliche und wirtschaftlich leis-tungsfähige Entwicklung zum Ziel haben. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist für uns Christinnen und Christen, die sich ausdrücklich zu jenem Schöpfungsglauben bekennen, die Landwirtschaft ein exemplarisches Handlungsfeld für die Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips und damit zugleich der Schöpfungsverantwortung.

4. Schlüsselfaktor Landwirtschaft

Der Landwirtschaft kommt eine zentrale Rolle auf dem Weg zur Nachhaltigkeit zu. Sie ist als Urproduktion direkt an die natürlichen Bedingungen Klima und Boden gebunden. In Deutschland und ähnlich in vielen anderen Ländern bewirtschaften Land- und Forstwirtschaft mehr als 80 Prozent der Fläche21. Diese Flächen sind sowohl für die Ernährung wie auch als Kulturgut und Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen unverzichtbar und müssen darum weltweit bewahrt werden.

Ernährungssicherung ist ein zentrales Handlungsfeld im Konzept einer nachhaltigen Entwicklung und erfordert Anstrengungen in Politik sowie in der Land- und Ernährungswirtschaft, sowohl in den Entwicklungs- als auch in den Industrieländern. Sie ist ohne tiefgreifende Reformen nicht mehr denkbar. Dazu gehört, dass der Weltbevölkerung der Erwerb landwirtschaftlicher Produkte zu angemessenen Preisen möglich ist (angemessene Preise sind solche, die zumindest die Produktionskosten der Produzenten decken und die entsprechend den Lebensverhältnissen in den jeweiligen Ländern für die Verbraucher bezahlbar sind).

Allein die vielfältige Attraktivität ländlicher Räume wird in Zukunft verhindern, dass ein ungeordnetes Wachstum überbordender Städte voranschreitet. Insbesondere der zunehmende Flächenverbrauch durch Siedlung und Verkehr (s. o.) sowie die damit verbundenen Ausgleichsmaßnahmen führen zu einer immer kleineren landwirtschaftlichen Nutzfläche. Für die Landwirtschaft ist darum die extensive Nutzung als Ausgleichsfläche anzuerkennen, damit ausreichende Flächen in der landwirtschaftlichen Nutzung verbleiben können.

Aufgrund der engen Beziehungen zwischen der Landwirtschaft und den natürlichen Ressourcen Boden und Wasser trägt eine nachhaltige Landbewirtschaftung wesentlich dazu bei, dass auch unseren Kindern die natürlichen Ressourcen Wasser und fruchtbarer Boden zur Deckung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung stehen. Für eine zukunftsfähige Entwicklung der Menschheit ist sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaft ein Schlüsselfaktor bei der Hunger- und Armutsbekämpfung, beim Tierschutz sowie beim Boden-, Wasser- und beim Artenschutz. Die Krise, in der sich die Landwirtschaft seit Jahren befindet, muss daher endlich als Chance zu einer nachhaltig umgestalteten Landwirtschaft weltweit genutzt werden.

5.      Handlungsfelder für eine nachhaltige Landwirtschaft

5.1    Neuausrichtung der weltweiten, europäischen, nationalen und regionalen Agrarpolitik

Eine konsequente Neuausrichtung der Agrarpolitik ist ein notwendiges Element nachhaltiger Entwicklung in Deutschland, Europa und weltweit. Damit besteht die Chance, nicht nur die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung der heimischen Landwirtschaft zu schaffen, sondern auch einen zentralen Beitrag zu mehr Nord-Süd-Gerechtigkeit zu leisten.

Die über Jahrzehnte verfolgte Agrarpolitik der EU und der USA sowie einiger Schwellenländer mit dem dominierenden Ziel der Ertragssteigerung hat nicht nur zu Umweltbelastungen, zu artwidriger Tierhaltung und Risiken für die Verbraucher geführt, sondern sie schafft auch auf den internationalen Märkten negative Auswirkungen: Die entwickelten Länder schaffen mit ihren Produktionssubventionen ein Überangebot, das die Nachfrage auf ihren Märkten übersteigt. Mit Ausgleichszahlungen und Exporterstattungen bringen sie ihre Überproduktion an Agrarprodukten auf den Weltmarkt. Damit "drücken" sie nicht nur die Weltmarktpreise, sondern überschwemmen auch die Märkte in den Entwicklungsländern und nehmen dort den Anreiz zur eigenen Nahrungsmittelerzeugung.22

Es war während der letzten WTO-Ministerratstagung in Cancún insgesamt wenig Bereitschaft zu spüren, das in Doha vereinbarte "Entwicklungsmandat" der neuen WTO-Verhandlungsrunde umzusetzen. Es ist daher gut, dass die Entwicklungsländer konsequent geblieben sind. Allerdings ist es bedauerlich, dass es der WTO als multilaterales Verhandlungsforum nicht gelingt, die großen Interessensunterschiede zwischen Nord und Süd zu überbrücken. Die ungelösten Probleme des Weltagrarhandels bleiben und deren Lösung ist weiterhin dringlich. Eine zentrale Herausforderung für die EU-Agrarpolitik bleibt in diesem Zusammenhang der Abbau von handelsverzerrenden Agrarsubventionen. Die jüngste GAP-Reform war zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber viel weitergehende Reformen sind erforderlich.

Wir begrüßen, dass die EU zu weiteren Zugeständnissen gegenüber den Entwicklungsländern v. a. im Bereich der Exportsubventionen – bereit ist. Zudem stimmt es zuversichtlich, dass die EU im Jahre 2001 landwirtschaftliche Produkte in Höhe von mehr als 50 Mrd. Euro aus den Entwicklungsländern importiert hat und damit mehr Agrarprodukte aus diesen Ländern importiert als die USA, Japan, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen.23 Diese positive Entwicklung sollte auch in Zukunft noch weiter ausgebaut werden.

Wir begrüßen, dass in der EU in diesem Jahr eine Weiterentwick-lung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) vorgenommen worden ist, mit der es möglich wird, besonders handelsverzerrende Subventionen mittelfristig abzuschaffen. Insbesondere weisen die folgenden Aspekte aus unserer Sicht in die richtige Richtung:

-           Entkopplung – Verbesserung der Marktorientierung landwirtschaftlicher Produktion

Durch die Entkopplung der Zahlungen von der Produktion sinken die Anreize zur Überproduktion. Gleichzeitig haben die Landwirte die Möglichkeit, ihre Erzeugung entsprechend der betrieblichen Möglichkeiten und der Marktverhältnisse neu auszurichten.

-           Modulation – Kombination der Zahlungen mit sozialen Komponenten

Durch die Modulation besteht die Möglichkeit, Prämien gerechter zu verteilen. Um kleinere und mittlere Betriebe zu stärken, sind Freibeträge einzurichten. Darüber hinausgehende Zahlungen werden zukünftig gekürzt. Diese gekürzten Mittel müssen vollständig für zusätzliche Leistungen der Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung zur Verfügung gestellt werden.

-           Beihilfen – Qualitative Ausrichtung

Durch die Bindung der betriebsbezogenen Beihilfen an die Einhaltung gesetzlicher Standards in den Bereichen Umweltschutz, Tierschutz, Lebensmittelsicherheit sowie der betrieblichen Arbeitssicherheit werden die Zahlungen zukünftig stärker qualitativ ausgerichtet.

Aufgrund der genannten Änderungen in der GAP ist zu befürchten, dass auch in Zukunft den Bäuerinnen und Bauern ein Übermaß an Bürokratie abverlangt wird. Darum ist dringend darauf zu achten, dass sowohl die Formalitäten reduziert werden, als auch darauf, dass die Zahlungen von Beihilfen ausschließlich auf ein Mindestmaß an Bürokratie für die Landwirtinnen und Landwirte gebunden sind. Ausufernde gesetzliche Regelungen und eine übermäßige Bürokratie sind ein Hindernis für die Förderung ländlicher Entwicklung.

Ziel aller zukünftigen Politikansätze muss eine weltweite multifunktionale Landwirtschaft sein, wie sie in einigen Regionen Europas bereits heute besteht und in der Vergangenheit fast überall bestanden hat. Eine solche Landwirtschaft erschließt zusätzlich zur Nahrungsmittelerzeugung neue Einkommensquellen für Landwirte (z. B. Dienstleistungen, erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe als Treibstoffe, Verpackungs- oder Dämmmaterial) und erfüllt gleichzeitig gesellschaftlich erwünschte Funktionen (z. B. Erhalt der Kulturlandschaft, sauberes Trinkwasser, Artenvielfalt).

Wichtig ist auch die Rolle der Land- und Forstwirtschaft in der künftigen Energie- und Rohstoffwirtschaft. Insbesondere die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen und Biomasse eröffnet ihr weltweit ein großes Betätigungsfeld und die Möglichkeit, zusätzliche Wertschöpfung zu erzielen. Sowohl für die stoffliche als auch für die energetische Verwendung bieten sich Pflanzen an, die in der Vergangenheit aus der landwirtschaftlichen Produktion verdrängt wurden (z. B. Flachs, Hanf, Lupinen, Erbsen, Gräser) und die den Landwirten helfen, neue Einkommensquellen zu erschließen. Die Vorreiterrolle der deutschen Landwirtschaft in der Biokraftstoffproduktion (Biodiesel, Bioethanol usw.) muss weiter ausgebaut werden.

Dort, wo sich die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Produktions- und Gewerbebereiche im ländlichen Raum befinden, ist Landwirtschaft auch heute noch ein wichtiger Arbeitgeber und Kern des sozialen Lebens. So trägt sie wesentlich dazu bei, den ländlichen Raum lebenswert zu erhalten, wenn sie ihre vielfältigen Funktionen unter Beachtung der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, ökologisch, ökonomisch – wahrnimmt. Diese Strukturen gilt es zu erhalten und, wo möglich, erneut zu beleben.

5.2    Soziale und ökologische Aspekte einer nachhaltigen Landwirtschaft

Viele Bauernhöfe in Deutschland, die oftmals über Generationen, ja sogar Jahrhunderte von einer Familie bewirtschaftet wurden, haben den Gedanken der Nachhaltigkeit bei der Bewirtschaftung ihrer Höfe angewandt. Das dadurch überlieferte Wissen und Können ist für die Zukunft der Landwirtschaft von großer Bedeutung.

Die nicht auf den Strukturwandel in der Landwirtschaft angepasste Agrarpolitik in Deutschland und in Europa hat in der Vergangenheit zu einer ungerechten Verteilung von Fördermitteln geführt (s. o.). Ursachen dafür sind die primär flächengebundene Verteilung der Fördermittel und die darauf abgestellten Ziele in Agrarwissenschaften, Aus- und Fortbildung sowie Beratung. Sie haben den Strukturwandel forciert und die sozialen Probleme in den landwirtschaftlichen Betrieben verschärft. Erschwerend kommt hinzu, dass immer weniger Menschen, die aktiv in der Landwirtschaft beschäftigt sind, die soziale Sicherung bei Krankheit (landwirtschaftliche Krankenkasse) und im Alter (landwirtschaftliche Alterskasse) finanzieren müssen. Angesichts dieser Schwierigkeiten muss die Verteilung von Fördermitteln zukünftig auch die menschliche Arbeit der Landwirtinnen und Landwirte stärker berücksichtigen. Zudem müssen die sozialen Sicherungssysteme auf den Prüfstand. Hierbei darf es nicht zu einer weiteren Beitragsbelastung von bäuerlichen Betrieben kommen. Um Altersarmut zu vermeiden, muss auch im landwirtschaftlichen Bereich eine Versicherungslösung gefunden werden.

Leben in der Landwirtschaft bedeutet vielfach Leben mit vielen Generationen. Die meisten Höfe wurden in der Vergangenheit an nachfolgende Generationen vererbt. Heute stehen jedoch viele landwirtschaftliche Betriebe – selbst wirtschaftlich gut gestellte – vor einem Hofnachfolgeproblem (s. o.). Hier sind Alternativen zur Betriebsaufgabe notwendig wie z. B. Hofbörsen, um Existenzgründern oder Quereinsteigern in der Landwirtschaft Perspektiven zu eröffnen und landwirtschaftliche Strukturen zu erhalten. Der Strukturwandel sollte sozialverträglich gestaltet werden.

Die Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte kann als Erfolg verbuchen, dass sie Ernährungssicherheit in den entwickelten Staaten hergestellt hat; der technische und züchterische Fortschritt und der Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln hat die Erträge kontinuierlich ansteigen lassen. Bei einer einseitig auf Ertragssteigerung ausgerichteten Struktur und nicht sachgerechtem Einsatz sind jedoch Umweltbelastungen wie Bodenerosion oder Dünger- und Pestizidrückstände im Grundwasser und in Nahrungsmitteln die Folgen. Beispiele dafür sind verdichtete und erodierte Böden, mit Dünger- und Pestizidrückständen belastetes Grundwasser sowie wiederholte Futtermittelskandale. In besonderer Weise hat die BSE-Krise einer breiten Bevölkerungsschicht tief greifende Systemprobleme der Landwirtschaft vor Augen geführt. Der guten fachlichen Praxis, die die Chancen der modernen Techniken und biologische Synergieeffekte24 nutzt sowie Risiken vorsorgend vermeidet, muss gerade aus Sicht der Nachhaltigkeit die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Arme hungern und Hungernde sind arm; die Gruppe der Armen (nach UN-Definition mit einem Einkommen von unter einem US-Dollar pro Tag25) und der Hungernden sind weitgehend identisch. Ihre Zahl wird weltweit auf 840 Mio. bis 1,2 Mrd. Menschen geschätzt.26 Die Mehrzahl dieser Menschen sind Frauen und Kinder. Viele leben auf dem Land und bewirtschaften als Kleinstbauern zumeist marginale Böden mit extrem geringer Produktivität. Während die Weltbevölkerung jährlich etwa um die Einwohnerzahl Deutschlands zunimmt, verringert sich die Ackerfläche auf der Welt pro Jahr um fünf bis sieben Mio. ha. Dies entspricht etwa der Hälfte der Ackerfläche Deutschlands. Diese Ausgangslage macht deutlich, dass enorme Kraftanstrengungen notwendig sind, wenn das auf dem Welternährungsgipfel in Rom formulierte Ziel, die Zahl der Hungernden weltweit bis 2015 (Milleniumsziel) zu halbieren, erreicht werden soll.

Hunger hat viele Ursachen und ist nicht nur ein Problem der weltweit erzeugten Menge an Nahrungsmitteln, sondern auch ein Problem der Verteilung und der geringen Kaufkraft vieler Bevölkerungsschichten. Für die künftige Versorgung der Menschen mit ausreichend Nahrung werden die Konsequenzen aus den absehbaren Veränderungen des Weltklimas zu beachten sein. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass akute Hungersnöte zumeist dann auftreten, wenn politische Instabilität, Korruption, Bürgerkrieg oder falsche Agrarpolitik auf ungünstige natürliche Bedingungen, wie z. B. Dürre, treffen. Stabile politische, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sind Voraussetzungen für eine dauerhafte Beseitigung von Armut und Hunger. Hungerbekämpfung und nachhaltige Entwicklung müssen darum mit der Achtung der Menschenrechte und grundlegender Freiheiten eng verknüpft sein. Erst auf dieser Basis kann eine nachhaltige Landwirtschaftspolitik auch in den Ländern des Südens die Ernährungsgrundlage sicherstellen. Dabei sind aus unserer Sicht folgende Punkte von zentraler Bedeutung:

-Sicherung der Verfügbarkeit an fruchtbarem Boden, Saatgut, Wasser und den erforderlichen Betriebsmitteln auf lokaler Ebene;

-Stärkung der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln durch Förderung lokaler und regionaler Märkte;

-Vorrang für Technologien, die an die jeweiligen Standorte angepasst und sozial verträglich sind;

-Schaffung von internationalen Rahmenbedingungen, die unter fairen und gleichen Regeln die Produktion von und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Verarbeitungsprodukten ermöglichen.

Der weltweite Hunger wird in vielen Regionen durch die Förderung solcher agrarwirtschaftlicher Strukturen reduziert werden können, die mit möglichst wenig Kapital und einem Minimum an externen Betriebsmitteln auskommen. Der ökologische Landbau bietet hierzu positive Voraussetzungen, da er von einem weitgehend geschlossenen Betriebskreislauf ausgeht und auf chemisch-synthetische Pflanzenschutz- und Düngemittel verzichtet.27 Für die Entwicklungsländer ist dies auch deshalb wichtig, weil der Anwenderschutz in den weniger entwickelten Ländern häufig nicht gegeben ist.

Wie bedeutsam die Landwirtschaft für die Armutsbekämpfung ist, macht die Diskussion um das sog. TRIPs-Abkommen (Trade Related Intellectual Property Rights) deutlich. Mit dem In-Kraft-Treten dieses Abkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte auf geistiges Eigentum wurde 1995 die Biopatentierung für die heute 148 Mitgliedsstaaten der WTO zur Pflicht. Das Abkommen sieht Patentschutz für mindestens 20 Jahre für Produkte und Produktionsprozesse auf allen Gebieten der Technik vor.

Im Zentrum der Debatte über das TRIPs-Abkommen steht die durch dieses Abkommen ermöglichte Patentierung von Lebensformen und natürlichen Prozessen (Artikel 27.3(b) des TRIPS-Abkommens). Die durch diese Bestimmung ermöglichte Patentierung etwa von Saatgut führt bereits heute zu einer Benachteiligung insbesondere der Entwicklungsländer; denn Patente auf Leben führen zu einer Monopolisierung des Saatgutmarktes und verstärken damit die Abhängigkeit der Bauern von einzelnen Saatgutunternehmen, die die Preise diktieren. Gleichzeitig lässt die Konzentration der Saatgutindustrie auf wenige patentierte Sorten, die höhere Gewinne versprechen, das Sortenspektrum immer enger werden. Damit aber wächst zugleich die Gefahr, dass Krankheiten, Insektenbefall oder extreme klimatische Bedingungen eine ganze Ernte ausrotten.

Patente auf Saatgut und genetische Ressourcen für Ernährung und Wirtschaft bedrohen bereits bestehende, nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken und damit den Lebensunterhalt von Bauern ebenso wie die Ernährungssicherheit weltweit. Die Entwicklungsländer sind von dieser Entwicklung besonders betroffen, da ca. 80 Prozent ihres Saatguts bisher aus heimischer Ernte stammt, das dann ersetzt werden könnte bzw. noch zu patentieren wäre. In unfairer Weise beschneidet darum die Patentierung biologischer Ressourcen das traditionelle Wissen und das Recht der Gemeinschaft auf den Umgang mit diesen Ressourcen, den sie selbst über Generationen hinweg gepflegt hat. Die Kultivierung der Zuchtrechte, die Landwirte jahrhundertelang erbracht haben, wird den Monopolinteressen der großen Saatgutkonzerne unterworfen und die Sortenvielfalt eingeschränkt. Profiteure sind die wenigen großen Agrochemie- und Lebensmittelkonzerne.

In Anbetracht dieser Situation rufen wir die Bundesregierung dazu auf, die Umsetzung des TRIPs-Abkommens in das deutsche Patentrecht zu stoppen und sich für eine Revision des Artikels 27.3(b) des TRIPs-Abkommens einzusetzen. Dabei muss insbesondere klargestellt werden, dass Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen und alle anderen lebenden Organismen und ihre Bestandteile nicht patentierbar sind, und dass auch die natürlichen Verfahren zur Herstellung von Pflanzen, Tieren und anderen lebenden Organismen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden.

5.4    Chancen und Risiken der Grünen Gentechnik

Zwar hat es der Mensch schon immer verstanden, durch Pflanzenzüchtung seine Vorteile aus der Nutzung der Pflanzen zu erweitern und – infolge der Beobachtungen von Gregor Mendel (1822-1884) – nicht nur Höchsterträge, sondern auch die Steigerung der Qualität und vor allem die Sicherung der Erträge durch Resistenzzüchtung erreicht. Aber durch eine Anwendung der Gentechnologie erreichen diese Eingriffe in die Pflanzenwelt zugleich eine neue ‚Tiefe’: Über Kombinations- und Transgressionszüchtung hinaus wird durch genetische Eingriffe die Mutation beeinflusst und daher die sich an die genetische Manipulation anschließende Entwicklung des Organismus "nachhaltig" verändert. Da die traditionellen Techniken der Pflanzenzüchtung sehr langwierig sind, geht es der Grünen Gentechnik besonders um die rasche und gezielte Entwicklung neuer Pflanzensorten.28 Die Grundprinzipien der Evolution – unendliche Langsamkeit und Vielfalt – werden auf den Kopf gestellt. Dieser zeitliche Druck, der oftmals von Unternehmen ausgeübt wird, die sich von der Forschung in diesem Bereich ausschließlich große Gewinne versprechen, ohne die Risiken zu bedenken, ist mit einem verantwortbaren Umgang mit der Gentechnik nicht vereinbar.

In den 90er Jahren hat die Bedeutung der Bio- und Gentechnologie in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit enorm zugenommen. Der Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen, beispielsweise zur Herstellung von Enzymen und anderen Zusatzstoffen in der Lebensmittelproduktion, ist bereits weit verbreitet. In der Landwirtschaft wird die Züchtung durch gentechnische Verfahren wesentlich vereinfacht und beschleunigt. Die Nahrungsmittelkette, in die der Mensch einbezogen ist, ist hiervon direkt betroffen.

Vielfach werden große Hoffnungen auf eine grundlegende Verbesserung der Ertragssituation in den vom Hunger am meisten betroffenen Regionen durch die Grüne Gentechnik gesetzt. Die bisheri-gen Erfahrungen dämpfen jedoch diese Erwartungen. So verweisen nicht nur die Werke Missio und Misereor, sondern auch der Welternährungsgipfel von Rom 2002 auf das Risiko, dass die lokale Wirtschaft mit ihren gewachsenen kleinbäuerlichen Strukturen in den Entwicklungsländern in neue Abhängigkeiten gerate, lokale Märkte zerstört und angepasste Kultursorten verdrängt würden. Umfragen zufolge lehnen über 70 Prozent aller Verbraucher gentechnisch veränderte Lebensmittel ab.29

In der EU wird über die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen (GVO) gestritten. Seit 1998 sind keine neuen gentechnisch veränderten Pflanzen und seit 2000 keine solchen Produkte in der EU zugelassen worden. Dieses de facto-Moratorium soll erst aufgehoben werden, wenn es neue gesetzliche Regelungen für die Zulassung gibt. Es stehen wichtige Fragen wie die Saatgutkontamination mit GVO, die Kennzeichnung von Lebens- und Futtermitteln, die Sicherung der Koexistenz von Landwirtschaft mit und ohne Gentechnik sowie Haftungsfragen an. Für diese Koexistenz sind drei Aspekte von zentraler Bedeutung:

1. Saatgutkontamination: Will man eine solche Kontamination hinnehmen? Wenn ja, wie viel GVO-Kontamination darf Saatgut haben? Es steht ganz am Anfang der Produktionskette und jede Verunreinigung potenziert sich – vom Züchter zum Landwirt über die Verarbeitung bis in den Einkaufsladen.

2. Kosten durch Einkreuzungen: Was geschieht, wenn der Nachbar eines Bauern gentechnisch veränderte Pflanzen anbaut? Einkreuzungen von gentechnisch veränderten Pollen über weite Entfernungen sind beim landwirtschaftlichen Anbau grundsätzlich möglich, auch in verwandte Wildformen. Pflanzen können auswildern, wenn sie durch konventionelle oder gentechnische Züchtung bessere Potenziale zum Überleben in solchen Lebensräumen haben, die nicht vom Menschen geschaffen sind. Eigenschaften können "vertikal", d. h. über Pollen vermittelt, oder "horizontal", also über freie DNA (die nicht zellgebunden vorliegt), auf andere Organismen übertragen werden. Probleme gibt es auch bei den weiteren Stufen der Produktionskette, bei der Verarbeitung und beim Handel. Die zusätzlichen Kosten – z. B. für Abstandsflächen oder Schutzhecken –, die eine Einkreuzung verhindern sollen, können zwischen fünf und 40 Prozent liegen.30 Wer trägt diese Kosten?

3. Haftung: Geht es um Kosten, dann geht es schnell um die Frage, wer für einen Schaden haftet. Soll die Haftungsfrage national oder EU-weit geklärt werden? Der Bauernverband ist in seiner Forderung deutlich: "Grundsätzlich sind die Bedingungen der Koexistenz angesichts des Binnenmarkts und der grenzüberschreitenden Warenströme EU-weit festzulegen und nicht den einzelnen Mitgliedsstaaten zu überlassen."

Auch wenn gentechnische Eingriffe im Bereich der Pflanzenzucht ihrer Absicht nach zum Teil durchaus positiv einzuschätzen sind (Sicherung wesentlicher Grundlagen menschlicher Ernährung und Gesundheit), so müssen doch die Folgen derartiger Eingriffe sehr differenziert betrachtet werden. Bei einer möglichen Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion fordern wir die Einhaltung wichtiger Grundsätze:

- Sicherheit: Der Schutz vor Auskreuzen muss gewährleistet werden. Gentechnik darf nur angewandt werden, wenn ihre Ungefährlichkeit für Gesundheit und Umwelt (bestmöglich) sichergestellt ist.

- Vorsorge: Dazu gehören u. a. Vorsorgemaßnahmen gegen die Ausweitung der Antibiotika-Resistenz und die Kontrolle importierter Lebensmittel durch ein risikoorientiertes Überwachungskonzept. In jedem Einzelfall ist zu prüfen, welche Sicherheitsvorkehrungen nötig sind. Ob alternative Techniken besser greifen und weniger Probleme verursachen, muss vor jedem Einsatz der Grünen Gentechnik nach Ziel-, Folgen- und Alternativbewertung geklärt werden.

- Haftung: Landwirte müssen selbst entscheiden können, ob sie mit oder ohne Gentechnik wirtschaften wollen. Eine strikte Trennung von gentechnisch veränderten und gentechnikfreien Anbauweisen, Verarbeitungs- und Vermarktungsprozessen ist daher unabdingbar. Die Kosten dafür dürfen nicht den konventionell oder ökologisch produzierenden Landwirten auferlegt werden, die GVO-frei wirtschaften wollen. Im Haftungsrecht ist strikt das Verursacherprinzip bei den Nutzern von GVO anzuwenden. Die Beweislast liegt bei den Nutzern von gentechnisch veränderten Organismen.

Kontrolle: Die wissenschaftlichen Grundlagen für ein Monitoring müssen erarbeitet und ein Kataster angelegt werden.

Transparenz und Wahlfreiheit: Menschen müssen frei entscheiden können, sich so zu ernähren, wie sie es für gesund, ökologisch und ethisch unbedenklich halten. Deshalb ist eine klare und umfassende Kennzeichnung für alle gentechnisch veränderten Lebensmittel und deren Bestandteile unerlässlich.

Die Weiterentwicklung der Gentechnik muss sozial und ökologisch verantwortbar sein. Deshalb müssen klare, gesellschaftlich vereinbarte Grenzen gesetzt werden. Menschenwürde, Ethik, Freiheit der Wahl und Entscheidung sowie der Schutz des Naturerbes für kommende Generationen sind dabei prioritär. Denn im Sinne der Wahrung menschlicher Gesundheit, ökologischer Stabilität und einer Autonomie natürlicher Zusammenhänge muss der Weg der technischen Umgestaltung natürlicher Systeme kontrollierbar bleiben, damit er die Schwelle zur ökologischen Zerstörung nicht überschreitet.

6.      Unser Beitrag

6.1    Kirchen – mit gutem Beispiel voran

Nach dem Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg können die christlichen Kirchen in Deutschland mit ihren rund 30.000 Gemeinden und als zweitgrößte Arbeitgeber einen Lern- und Handlungsprozess initiieren. Sie sollten alle ihre Ressourcen und ihr Personal nutzen, um selbst zum Reformmotor für einen "Johannesburg + 10-Prozess" zu werden. Auch auf europäischer und globaler Ebene sind die Kirchen gefordert. Die katholische Kirche ist nicht umsonst Weltkirche.

Die katholische Kirche ist in Deutschland im Besitz umfangreicher landwirtschaftlicher Nutzflächen. Damit hat sie die Möglichkeit, diese Nutzflächen nur solchen landwirtschaftlichen Betrieben zur Verfügung zu stellen, die gemäß dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung wirtschaften. Aufgrund vieler ungeklärter Fragen bei der Anwendung der Grünen Gentechnik in der Landwirtschaft empfehlen wir den Eigentümern kirchlicher landwirtschaftlicher Nutzflächen, den Anbau von gentechnisch manipuliertem Saatgut zu untersagen.

Alle Katholikinnen und Katholiken können einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in der Landwirtschaft leisten. Dies geschieht bereits in vielfältiger Weise durch die Arbeit unserer Bildungseinrichtungen, Verbände, Organisationen und die weltweite Arbeit der Werke. Wir ermuntern alle Katholikinnen und Katholiken diese Arbeit zu fördern: Durch Umwelterziehung und Förderung des Umweltbewusstseins tragen sie dazu bei, die Entwicklung einer positiveren Einstellung zu einem sozial gerechten und ökologisch vertretbaren Lebensstil zu unterstützen. Einige Organisationen und Einrichtungen haben darin bereits eine ausgezeichnete Vorreiterrolle übernommen.31

Produkte, die über einen fairen internationalen Handel vertrieben werden, bieten den Entwicklungsländern wichtige Chancen für innovative, soziale und ökologische Projekte. Zwar konnten bisher die fair gehandelten Produkte in ihren Marktsegmenten nur Anteile im Promillebereich erobern (Ausnahme: fair gehandelter Kaffee mit ca. einem Prozent in Deutschland und über vier Prozent Marktanteil in anderen Ländern, z. B. der Schweiz). Aber der faire Handel ist für einige Produzenten im Süden und für die Bewusstseinsbildung hierzulande von existentieller Bedeutung. Der faire Handel als Möglichkeit einer "von der Basis angestoßenen" Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft bedarf dringend der Stärkung. Hier können insbesondere kirchliche Einrichtungen, die sich zum Teil seit mehr als 30 Jahren in diesem Bereich engagieren, einen wichtigen Beitrag leisten. Küchen und Kantinen in kirchlichen Einrichtungen, gleich ob direkt betrieben oder verpachtet, stellen große Potenziale bei der kontinuierlichen Nutzung fair gehandelter Produkte dar. Mit speziellen Vertragsklauseln zur vorrangigen Nutzung – z. B. von Kaffee und Tee aus der von Kirchen getragenen GEPA (Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH) und von regionalen Produkten – können kirchliche Einrichtungen deutlich zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.

6.2    Verantwortung übernehmen im Marktgeschehen

Die Änderung unseres eigenen Lebensstils schafft Handlungsspielräume für die politische und gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und damit zu einer gerechteren Welt. Nur über solche Zeugnisse gelebten Schöpfungsglaubens wird es gelingen, die Hoffnung auf eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung wach zu halten. Die Kirche braucht Menschen, die bereit sind, exemplarisch Alternativen zu den konsumfixierten Lebensstilen vorzuleben und eine kreative, breitenwirksame und attraktive Bewusstseinsbildung für Schöpfungsverantwortung zu entwickeln.

Letztlich steuern wir als Verbraucher durch unser Kaufverhalten einen Großteil der Entwicklung unserer Landwirtschaft. Dort, wo einzig der niedrige Preis als Kaufanreiz zählt, haben etwa regionale Produkte kaum eine Chance. Der seit Jahrzehnten in Deutschland festzustellende Preiskrieg der marktbeherrschenden Supermärkte hat zu den europaweit niedrigsten Grundlebensmittelpreisen geführt. Dies hatte Folgen für die Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe, die immer mehr zu immer niedrigeren Preisen produzieren mussten. Darum muss das Bundeskartellamt eingreifen, falls Unternehmen mit überlegener Marktmacht regelmäßig unter Einstandspreis verkaufen, weil es gegen geltendes Recht verstößt.

Unsere Pfarrgemeinden sind die Orte, in denen wir uns auf dem Hintergrund unseres Glaubens zukunftsfähige Lebensstile vor Augen führen und uns gegenseitig ermutigen können, diese auch in die Tat umzusetzen. Pfarrgemeinden können und sollen hier Schrittmacherfunktion übernehmen. Denn die Hoffnung auf einen zukunftsfähigen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen kann nicht primär durch Worte vermittelt werden, sondern vor allem durch Taten und deren Vorbildfunktion. Deshalb kommt es entscheidend auf das Engagement vieler Christinnen und Christen vor Ort in ihren Organisationen oder Gemeinden an. So kann etwa der Einkauf regionaler Lebensmittel Ausdruck eines nachhaltigen Verbraucherverhaltens sein. Darüber hinaus kann dieses Verbraucherverhalten wirksam dazu beitragen, die regionalen Wirtschaftskreisläufe zu fördern.

Unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Landwirtschaft ist und bleibt eine angemessene Wertschätzung von Lebensmitteln bei den Verbrauchern. Eine neue Wertschätzung von Lebensmitteln und eine wohl überlegte Ernährung dienen aber auch der Gesundheit und dem Wohl der Konsumenten selbst. Geschätzte Kosten von ca. 65 Mrd. Euro im Gesundheitswesen durch ernährungsbedingte Krankheiten jährlich in Deutschland sind dafür ein klarer Beleg.

Als Verbraucherinnen und Verbraucher haben wir aktiven Anteil an der Gestaltung des Marktgeschehens. Was und wo wir kaufen, welche Anforderungen an Produkte wir stellen und welche Preise wir bereit sind zu bezahlen, hat – in der Summe aller Verbraucher – direkten Einfluss. So steht es allen offen, sich öffentlich durch politische Forderungen, durch die Unterstützung von Interessenverbänden oder durch die Begleitung von nationalen und europäischen Gesetzgebungsverfahren an der Weichenstellung für einen nachhaltig orientierten Agrarmarkt zu beteiligen. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Kampagne des Bauernverbandes "Lebensmittel sind mehr wert".

Um den Verbrauchern verantwortliche Kaufentscheidungen zu ermöglichen, müssen sie über ausreichende Informationen zu den angebotenen Produkten verfügen. Darum kommt einer klaren und leicht nachvollziehbaren Kennzeichnung der Produkte eine herausragende Bedeutung zu.

Der christliche Glaube kann zu einem Bewusstseinswandel im Umgang mit Lebensmitteln vielfältige Impulse geben. In der Bibel und der christlichen Tradition spielen Lob und Dank für die Gaben der Schöpfung eine herausragende Rolle. Wein und Brot stehen als Gaben der Schöpfung, in denen sich Gott selbst uns schenkt, im Mittelpunkt jeder Eucharistiefeier. Jeder Gottesdienst und eine Vielzahl christlicher Feste, besonders das Erntedankfest, zielen darauf ab, die Haltung der Achtung und der Dankbarkeit im Umgang mit den Mitmenschen und mit der Schöpfung einzuüben. Durch das bewusste Begehen des Erntedankfestes wächst die Einsicht, dass jeder von uns für den pfleglichen Umgang mit der Natur und für die Millionen hungernder Menschen Verantwortung trägt.

Nach Rio sind eine Vielzahl von ermutigenden Initiativen in Pfarrgemeinden und Verbänden ergriffen worden. An diese Erfahrungen gilt es anzuknüpfen, sie zu intensivieren und planvoll voranzutreiben, um aus einem "Rio+10-" einen "Johannesburg+10-Prozess” zu machen – für eine nachhaltige Landwirtschaft.

 

Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 22. November 2003

 


1    Vgl. zur Debatte um eine nachhaltige Landwirtschaft den Diskussionsbeitrag zur Lage der Landwirtschaft "Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft", hrsg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Gemeinsame Texte 16, 2003).

2    "Gesellschaftspolitik" wird hier verstanden als zielrationales staatliches Handeln zum Zwecke der bewussten und verantwortlichen Gestaltung der Gesamtheit der sozialen, ökologischen und ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft.

3    Existierten im Jahre 1960 noch 1.5 Millionen landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland, so nahm deren Zahl bis zum Jahre 2001 auf knapp 500.000 ab. Vgl. Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- schaft: Statistisches Jahrbuch über Ernährung Landwirtschaft und Forsten 2002, 28 f. Bei diesen Angaben sind die regionalen Unterschiede in Deutschland und weltweit zu beachten.

4    Der deutsche Bauernverband hat auf diesen Sachverhalt in der Vergangenheit wiederholt hingewiesen.

5    Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2003, 99, Tabelle 3.

6    Vereinte Nationen: Informationsblätter zum Klimawandel, 1999, Nr. 5. Eine Folge der Erderwärmung wird sein, dass der mittlere Meeresspiegel der Erde bis 2100 vermutlich um rund 50 Zentimeter steigen wird.

7    In einem typischen „Nicht-Interventions-Szenario“ erhöhen sich die Kohlendioxid-emissionen von 1990 bis 2100 von jährlich sieben Milliarden Tonnen auf 20 Milliarden Tonnen. „Nicht-Intervention“ bedeutet, dass keine neuen politischen Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen als Reaktion auf den drohenden Klimawandel getroffen werden. Es bedeutet nicht, dass sich sonst nichts ändert: In diesem zugrunde gelegten Szenario verdoppelt sich die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2100 bei gleich bleibendem Wirtschaftswachstum um zwei bis drei Prozent pro Jahr (Vereinte Nationen: Informationsblätter zum Klimawandel, 1999, Nr. 4.

8    N2O-Emissionen in der Landwirtschaft können mit neuen Düngemitteln und Methoden auf ein Minimum reduziert werden. Eine Strategie besteht darin, die durch den Einsatz von Düngemitteln entstehenden N2O-Mengen und damit das aus dem landwirtschaftlichen System in die Atmosphäre gelangende N2O möglichst gering zu halten (Vereinte Nationen: Informationsblätter zum Klimawandel, 1999, Nr. 27).

9    Vgl. dazu Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe: 11. Bericht zur Entwicklungspolitik 2001, 19.

10  Vgl. Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2003, 16 f.

11  Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe: 11. Bericht zur Entwicklungspolitik 2001, 19.

12  Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe: 11. Bericht zur Entwicklungspolitik 2001, 21.

13  Im Pflanzenbereich sind 26,8 Prozent und im Tierbereich 36 Prozent der Arten gefährdet; vgl. Bundesamt für Naturschutz: Daten zur Natur 2002, 69 und 73.

14  Carlowitz, H. C. v.: Sylvicultura oeconomica oder hauswirthliche Nachricht und naturmässige Anweisung zur wilden Baumzucht nebst gründlicher Darstellung. Wie zu förderst durch Göttliche Benehmen dem allenthalben und insgemein eintreffenden Grossen Holz-Mangel, Leipzig 1713, 105.

15  Peters, W.: Die Nachhaltigkeit als Grundsatz der Forstwirtschaft, ihre Verankerung in der Gesetzgebung und ihre Bedeutung in der Praxis. Die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit einigen Entwicklungsländern, Hamburg 1984.

16  Löning, K./Zenger, E.: Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologie, Düsseldorf 1997, 146-155.

17 Löning, K./Zenger, E.: Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologie, Düsseldorf 1997, 146-155. Lochbühler, W.: Christliche Umweltethik. Schöpfungstheologische Grundlagen, Philosophisch-ethische Ansätze, Ökologische Marktwirtschaft (Forum interdisziplinäre Ethik 13), Frankfurt 1996, 85.

18  Faber, R.: Gott als Poet der Welt. Anliegen und Perspektiven der Prozesstheologie, Darmstadt 2003.

19 Die Position des Menschen innerhalb der Schöpfung wird in der Priesterschrift mit dem Begriff der „imago dei“ besonders qualifiziert: „Die Menschen sind als (lebendige) Bilder und Statuen des Schöpfergottes Erscheinungsweisen und Medien göttlicher Wirkmächtigkeit in der Welt, d. h. durch die Menschen will der Schöpfergott sein innerstes Wesen offenbaren und die Erde als Lebensraum für alle Lebendigen schützen und gestalten“ (Zenger, E.: Gottes Bogen in den Wolken. Unersuchungen zu Kompositionen und Theologie der priesterlichen Urgeschichte, Stuttgart 1983, 89).

20  Vogt, Markus: Nachhaltigkeit – ein neues Sozialprinzip?, in: Baumgartner, A. und Putz, G. (Hrsg.): Sozialprinzipien. Leitideen in einer sich wandelnden Welt (Salzburger Theologische Studien 18), Innsbruck 2001, 142-159.

21  Vgl. dazu Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2002, 694. Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2003, 17.

22 Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) hat sich mit der Globalisierung der Finanzströme in der Erklärung „Internationale Finanzmärkte – Gerechtigkeit braucht Regeln“ befasst und gefordert, den Ordnungsrahmen der internationalen Finanzmärkte zu verbessern.

23  Vgl. dazu European Commission Agriculture and Rural Development: EU Agriculture and the WTO. Doha Development Agenda Cancún – September 2003.

24  Schädlingsbekämpfung lässt sich beispielsweise durch die Aussaat von Mischkulturen ebenso gut erreichen wie durch die Anwendung umweltgefährdender Substanzen. Die Forschung auch auf diesem Gebiet sollte dringend vorangetrieben werden.

25  Es ist zu berücksichtigen, dass bisher keine allgemein anerkannte Definition für Armut vorliegt. Legt man etwa den Armutsbegriff der CEPAL (Comission Economica Para America Latina y el Caribe) zugrunde, so stellen die Armen etwa in Lateinamerika keine „Randschicht“ dar, sondern machen mit mehr als 40 Prozent fast die Hälfte der Bevölkerung aus. „Angesichts dieser Größenverhältnisse ist es fragwürdig, wenn man von den Armen als den marginados (denjenigen, die sich am Rand der Gesellschaft befinden, spricht“ (Krumwiede, heinrich-W.: Armut in Lateinamerika als soziales und politisches Problem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15. September 2003, 14 f.).

26  Vgl. dazu Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe: Elfter Bericht zur Entwicklungspolitik 2001, 6 f. und 171 f.

27  Im Jahr 2001 nahm die Bedeutung des ökologischen Landbaus in Deutschland zu. Die Zahl der ökologisch wirtschaftenden Betreibe stieg im Vergleich zum Vorjahr um 15,4 % auf 14.702 an. Diese Betriebe bewirtschaften 634.998 ha Landfläche nach en EU-weiten Regelungen des ökologischen Landbaus (vgl. Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2003, Nr. 75 und Übersicht 15).

28  Natürliche Evolution und Selektion brauchen Zeiträume von Millionen von Jahren, um nicht einzelne Lebewesen, sondern Lebensgemeinschaften entstehen zu lassen, deren symbiotisches Aufeinander-Angewiesen-Sein ein sensibles Gleichgewicht natürlicher Kräfte der gesamten Biosphäre beinhaltet (vgl. die Entstehung von Blüte und Insekt – etwa zur gleichen Zeit der Evolutionsabschnitte – , die als Bestäubungshilfe bzw. als Nahrungsquelle miteinander zusammenspielen).

29  Zukunftsstiftung Landwirtschaft: Save our Seeds (Faltblatt 2003).

30  Das haben verschiedene Studien der EU-Kommission, des Öko–Instituts Freiburg und des Forschungsinstituts für biologischen Landbau errechnet.

31  Vgl. dazu etwa Vogt, Markus und Sellmann, Matthias: Handeln für die Zukunft der Schöpfung. Bausteine für die Bildungsarbeit, Hamm 1999.

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