Mit Behinderung leben: Familiennetze stärken
Erklärung des Hauptausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
1. Mit Behinderung leben - Teilhabe und Fürsorge
Die Frage nach der Bewältigung eines Lebens mit Behinderung wird heute zwiespältig, ja widersprüchlich beantwortet. Auf der einen Seite vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Politik für behinderte Menschen: Im Mittelpunkt stehen nicht länger Fürsorge und Versorgung von behinderten Menschen, sondern ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Beseitigung der Hindernisse, die Chancengleichheit entgegenwirken. Gleichzeitig verstärken neue Entwicklungen gerade im Bereich der Biomedizin Vorstellungen vom "perfekten" Menschen, die - gewollt oder ungewollt - behindertes Leben als "Minusvariante" des normalen, voll funktionsfähigen menschlichen Lebens erscheinen lassen. Menschen mit Behinderungen sehen sich ebenso wie Eltern, die sich für ein behindertes Kind entscheiden, unter einem Rechtfertigungsdruck, der der angestrebten gesellschaftlichen Integration zuwiderläuft und Mauern sozialer Isolation schafft. Höchstinstanzliche Gerichtsurteile der letzten Jahre, die in Deutschland ebenso wie etwa in Frankreich unter dem Stichwort "Kind als Schaden" diskutiert werden, unterstr eichen diese Tendenz.
Mauern sozialer Isolation wirken sich auf die behinderten Menschen selbst, aber auch auf die ganze betroffene Familie aus. Gerade Familien sind jedoch für Fürsorge und Integration behinderter Menschen und damit für eine behindertengerechte Gesellschaft besonders wichtig. Selbstbestimmte Teilhabe gelingt behinderten Menschen zuerst in ihrer (und über ihre) Familie.
Viele Alltagsprobleme, die allen Familien vertraut sind, stellen sich Familien mit behinderten Angehörigen in besonderer Weise. Dies gilt sowohl für Familien, in denen ein Kind oder mehrere Kinder mit einer Behinderung leben, als auch für Familien mit einem behinderten Elternteil und für Familien, die die Betreuung eines älteren, pflegebedürftigen behinderten Angehörigen - Großvater oder Großmutter - übernommen haben. Leider wird familienpolitisch keineswegs genügend berücksichtigt, wie sehr die Familie durch die Behinderung eines Angehörigen gefordert und wie sehr das Leben aller Familienmitglieder dadurch verändert sein kann. Deren oft über lange Jahre währende erhebliche physische, psychische, soziale und finanzielle Belastungen werden weithin nicht genügend gesehen und gewürdigt.
Nicht nur die Bewertung des Lebens behinderter Menschen und ihrer Teilhabechancen, auch die Alltagswirklichkeit von Familien mit behinderten Angehörigen hat sich in den letzten Jahren gewandelt und ist vielfältiger geworden. Durch heilpädagogische wie medizinische Maßnahmen hat sich die Lebenserwartung vieler Behinderter [ 1)] zum Teil beträchtlich erhöht. Fünfzig Jahre nach Kriegsende leben wieder ältere Behinderte in größerer Zahl unter uns - im Unterschied zu anderen Ländern fehlte in Deutschland über lange Jahre diese Erfahrung beinahe ganz, weil die NS-Herrschaft eine Generation behinderter Menschen ausgerottet hatte.
Fortschritte in der Normalisierung des Lebensalltags von Behinderten haben dazu geführt, dass Behinderte Familien gründen können. Dennoch bleibt europaweit die Tatsache festzustellen, dass Menschen mit Behinderungen verglichen mit solchen ohne Handicap seltener verheiratet sind und statistisch eine größere Wahrscheinlichkeit festzustellen ist, dass sie unverheiratet bleiben. Die Ende 2001 erschienene Broschüre "Disability and social participation in Europe" (herausgegeben von der Europäischen Kommission) hat dies in der Erfassung wichtiger Schlüsselindikatoren belegt und gleichzeitig herausgearbeitet, dass Menschen mit Behinderungen weniger intensive Kontakte zu Freunden und Verwandten pflegen können: D ie Zahl der Menschen mit Behinderung, die ihre Verwandten nur weniger als ein- oder zweimal im Monat treffen, ist doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Die Entwicklung ist darüber hinaus durch die Zunahme chronisch psychisch Kranker geprägt, durch die sich die Zahl von Familien mit versteckt behinderten Angehörigen erhöht hat.
Mit unserer Stellungnahme wollen wir auf die Leistungen der Familien mit behinderten Angehörigen in ihrer ganzen Vielfalt [ 2)], aber auch auf ihre Belastungen aufmerksam machen und uns für verstärktes solidarisches Handeln gegenüber den Betroffenen einsetzen. "Die christliche Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten ... besteht aus der Pflicht der Starken, sich der Rechte der Schwachen anzunehmen," formulierte das Gemeinsame Wort der Kirchen für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (GW ). "Wenn chronisch Kranken und Behinderten kein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird, werden damit elementare Maßstäbe des Zusammenlebens der Gesellschaft in Frage gestellt" (GW 135).
Wir wollen dazu beitragen, die eingangs skizzierten Widersprüchlichkeiten aufzulösen. Wir wollen die rea le Bedürftigkeit der betroffenen Personen wahrnehmen - ohne falsche Bevormundung einerseits und ohne Verabsolutierung einer liberalen Vorstellung selbstbestimmter Lebensführung andererseits. Es ist unser Anliegen, die Familiennetze behinderter Menschen zu stärken und die Arbeit jener zu unterstützen, die sich auf Diözesan- und Gemeindeebene, in Verbänden, Institutionen und Helfer-, Selbsthilfe- und Nachbarschaftsgruppen als oder für Betroffene engagieren. Wir wollen ermutigen zu einer Ethik, die der Kultivierung von Fürsorgebeziehungen verpflichtet ist. Die Asymmetrie der Familien- und Unterstützungsbeziehungen darf dabei weder bagatellisiert noch hinter einer Fassade der Idea lisierung versteckt werden.
Zugleich wenden wir uns an die politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen, die Lebensbedingungen der Familien von Menschen mit Behinderungen durch gezielte wirtschaftliche und soziale Hilfen weiter zu verbessern. Dabei bleiben die Bemühungen um einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland mit Blick auf (mobilitäts-)behinderte Menschen oder auf Familien mit behinderten Angehörigen weiter Herausforderung an die Gestaltung der Einheit. Ihnen galt 1991 unsere besondere Sorge, als das ZdK sich mit der Erstfassung dieser Erklärung für "Familien mit behinderten Angehörigen" einsetzte und "Anforderungen an Kirche, Gesellschaft und Politik im geeinten Deutschland" formulierte. Heute aber schauen wir über Deutschland hinaus auf die Perspektiven behinderter Menschen in einem zusammenwachsenden Europa und fragen: "In welchem Ausmaß haben Menschen mit Behinderung in Europa Anteil an den wichtigen Lebensbereichen wie Ehe, Familie, Erziehung, Arbeit und sozialen Kontakten?" [ 3)] Wir richten dabei unser Augenmerk auf das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen, das für 2003 geplant ist und von dem wir deutliche Signale für ein „Europa der Lebensfreundlichkeit“ erwarten.
In Deutschland sind mit verschiedenen Reformen der letzten zehn Jahre, zuletzt mit dem Inkrafttreten des SGB IX (Neuntes Buch des Sozialgesetzbuchs) am 1. Juli 2001, etliche sozialpolitische Vorschläge und Konzepte Gesetz geworden, die das ZdK in seiner Erklärung 1991 vorgestellt und eingefordert hat. Das betrachten wir als Erfolg. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Ergänzung des Grundgesetzes von 1994, das nun in Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 das Diskriminierungsverbot formuliert:"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Jetzt kommt es darauf an, die neu formulierten Rechte in der Praxis durchzusetzen. Menschen müssen die Gesetze mit Leben füllen. Wir wollen diesen Prozess mitgestalten und begleitend prüfen, ob und wie sich Regelungen im Alltag bewähren. Neue Erkenntnisse sind nachhaltig für eine Fortentwicklung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für behinderte Menschen und ihre Familien zu nutzen.
2. Menschen mit Behinderungen leben in Beziehungen
Wenn wir von behinderten Menschen sprechen, meinen wir damit Menschen, die auf Grund körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigungen in der Teilhabe in wichtigen sozialen Beziehungsfeldern, insbesondere in den Bereichen Erziehung, Schulbildung, Berufsbildung, Erwerbstätigkeit, Kommunikation, Wohnen und Freizeitgestaltung, durch wesentliche Funktionsausfälle erheblich eingeschränkt sind und bei denen diese Einschränkungen oftmals neue Beeinträchtigungen und Behinderungen erzeugen [ 4)].
Menschen mit Behinderungen leben in Beziehungen, sie gehören zu einer Familie. Ihre Familien- und Beziehungsnetze sind für die Erhaltung der emotionalen, psychischen und geistigen Stabilität sowie für die soziale Einbindung der Betroffenen von herausragender Bedeutung. Die Frage, wie man ihren Interessen weitestgehend gerecht werden kann, lässt sich nur angemessen beantworten, wenn man die genuine Qualität tragfähiger Beziehungen mit berücksichtigt. Solche tragfähigen Beziehungen vor allem können maßgeblich dazu beitragen, dass behinderte Menschen (wieder) Vertrauen schöpfen und die Erfahrung machen können, dazu zu gehören, mitmachen zu dürfen und mitverantwortlich zu sein. Die Familie ist daher der eigentliche Träger der Frühförderung und der Vorsorge.
Dabei wird gerade in krisenhaften Situationen deutlich, von welch existentieller Bedeutung die Familie für den Menschen ist.
Wie sehr die Familie zur Integration der behinderten Angehörigen beitragen kann und wie stark sich die Behinderung eines Familienmitgliedes auf sie auswirkt, hängt von einer Vielzahl verschiedener Gegebenheiten ab. Zu nennen sind die Art, Dauer und Schwere der Behinderung, ihr Verlauf, ihre äußerliche Erkennbarkeit, die innere Situation der Familie bei Auftreten der Behinderung, die Stellung und Rolle des behinderten Mitgliedes in der Familie und ihre wirtschaftliche Situation. Entscheidend ist auch die Haltung des sozialen Umfeldes, sind die Reaktionen der Mitmenschen, die der Familie helfen oder ihre Situation erheblich erschweren können.
Die Familienmitglieder erleben die Geburt eines behinderten Kindes oder die Behinderung eines Angehörigen durch Unfall oder Erkrankung als ein schmerzliches Lebensereignis. In der Regel sind die Familienangehörigen verständlicherweise auf die Behinderung und ihre vielfältigen Folgen nicht vorbereitet und mit der neuen Situation oftmals durch sie auch überfordert. Die Familie steht nicht selten, gerade bei der Geburt eines behinderten Kindes, unter dem Druck der sozialen Erwartung, das Unglück sei doch zu verhindern gewesen. Soziale Ausgrenzung, Schuldzuweisungen und persönliche Schuldgefühle können so die Bewältigung der faktischen Anforderungen erschweren.
Die betroffenen Familien müssen sich spontan besonderen Anforderungen - in aller Regel für einen langen Zeitraum - stellen. Diese reichen von Einschränkungen der Beschäftigungsmöglichkeiten über Probleme in der Wohnsituation und Beeinträchtigungen in der Freizeit bis hin zu besonderen wirtschaftlichen Belastungen. Die Erziehung, Betreuung und Förderung von Geschwistern ist - bedingt durch den stark erhöhten Zeitaufwand für das behinderte Familienmitglied - vielfach nicht mehr in dem gewünschten Maß möglich. Besonders bedrückend wird die Lage dieser Familien dann, wenn weitere soziale Probleme hinzukommen (z.B. Arbeitslosigkeit, Schulden).
Von diesen vielfältigen Problemen sind Frauen besonders stark betroffen. Als Angehörige leisten sie oft einen großen Teil der Versorgung des behinderten Familienmitglieds, nicht selten in ihrem Lebensradius, ihrer Erwerbstätigkeit und beruflichen Weiterbildung erheblich beschränkt . Als behinderte Mütter mussten Frauen lange das Gefühl haben, schlicht "nicht vorgesehen" zu sein. Abgesehen von den gesellschaftlichen Vorurteilen, denen behinderte Frauen mit Kindern begegnen, werden sie auch durch gesetzliche Regelungen benachteiligt. Während erwerbstätige behinderte Menschen sogenannte Nachteilsausgleiche wie beispielsweise KfZ-Hilfen beanspruchen können, gibt es entsprechende Unterstützungen für behinderte Mütter nicht. Die Erfahrung, dass behinderten schwangeren Frauen oftmals zur Abtreibung geraten wird, anstatt mit ihnen zu überlegen, wie sie die Schwangerschaft gut durchstehen und ihre Mutterrolle erfüllen können, und die Tatsache, dass der Anteil der Frauen, die an Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation teilnehmen, seit Jahren bei dreißig Prozent verharrt, haben dazu beigetragen, dass mit dem im Jahr 2001 in Kraft getretenen SGB IX den besonderen Bedürfnissen und Problemen behinderter Frauen und Kinder Rechnung getragen werden soll (§ 1 SGB IX).
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat im April 2001 die ökonomische Situation von Familien mit behinderten Eltern und von Frauen mit Behinderung noch einmal sehr kritisch beleuchtet und darauf hingewiesen, dass sie häufiger arbeitslos und von Soz ialhilfe abhängig sind.
Bei pflegenden Angehörigen haben die Leistungen der Pflegeversicherung zu einer Verbesserung ihrer ökonomischen und sozialrechtlichen Stellung geführt. Allerdings zeigt sich gerade bei Familien mit behinderten Angehörigen, wie schwer es ist, in einer auf Erwerbsarbeit zentrierten Kultur [ 5)] nachhaltig strukturelle Gerechtigkeit für jene zu sichern, die in kleinräumigen sozialen Netzen unverzichtbare Voraussetzungen für Teilhabechancen behinderter und pflegedürftiger Menschen schaffen.
Eine Überforderung einzelner Familienmitglieder führt häufig zu einem Rückzug aus den Beziehungen im sozialen Umfeld - Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freunde - und auch zum Rückzug aus dem kirchlichen Leben. Diese Tendenz wird begünstigt oder verstärkt durch die Reaktionen von "Nichtbetroffenen", die eher Distanz als mittragende Nähe vermitteln und die nicht selten die Situation der Angehörigen im Vergleich zur Hilfsbedürftigkeit des behinderten Menschen unterbewerten. Kuren und Ferien für pflegende Angehörige sind daher kein Luxus, sondern häufig genug lebensnotwendige Atempausen.
Als besonders bedrückend empfinden behinderte Menschen und ihre Familien Vorurteile, die ihnen gegenüber immer noch vorhanden sind. Dieses Problem wird sich durch die Entwicklungen der Pränatal- und Präimplanta tionsdiagnostik (PND und PID) noch weiter verschärfen. So sehr eine gewissenhafte ärztliche Begleitung der Schwangerschaft zu begrüßen ist, die Möglichkeiten bietet, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und unverz üglich zu behandeln, so darf doch die Bedrohung behinderten Lebens nicht übersehen werden, die sich aus der immer umfangreicheren vorgeburtlichen Diagnostik ergibt. [ 6)] Die heutige Praxis ist nicht nur für viele noch nicht geborene Kinder verheerend, da sie betroffene Eltern einem Druck zur Abtreibung aussetzt; sie ist auch eine Gefahr für die unter uns lebenden Menschen mit Behinderungen, indem sie ihr Existenzrecht unausgesprochen in Frage stellt. Dies kann letztlich dazu führen, dass den Betroffenen und ihren Familien die notwendige Solidarität versagt bleibt. Wir können diesen Gefahren nur dann wirksam begegnen, wenn wir uns zur Würde eines jeden Menschen, auch eines behinderten Ungeborenen bekennen, und zur tätigen Solidarität mit den Betroffenen verpflichten.
Ehe und Familie sind keine "Krisenbewältigungsautomaten", sondern labile Systeme, die durch externe Schocks in ihrer Existenz gefährdet sein können. Nicht jede Beziehung ist zu jedem Zeitpunkt der Herausforderung eines Lebens mit einer Behinderung oder einem behinderten Menschen gewachsen.
Die Behinderung eines Familienmitgliedes bringt aber auch Chancen für die Familie. Gelingt es der Familie, die genannten Herausforderungen anzunehmen, kann diese lebensprägende Erfahrung zu einer neuen Quelle der Vitalität, Lebensfreude und Sinnstiftung für alle Familienmitglieder werden. Wenn die Bewältigung der Probleme zufriedenstellend gelingt , kann sich die Familie als „bergender Lebensraum“ bewähren, der durch andere Institutionen nicht in gleicher Weise ersetzbar ist. Ehepartner erfahren dann, dass sie und ihre Partnerschaft durch die Herausforderungen reifer werden, dass gegenseitiges Vertrauen und neue schöpferische Kräfte wachsen, durch die zukünftige Herausforderungen leichter bewältigt werden können.
Diese Erfahrungen werden jedoch nicht spontan, sondern erst in einem längeren Prozess im Umgang mit den Problemen gewonnen. Verwandte, Nachbarschaft, Gemeinde, professionelle Angehörigenarbeit, aber auch der Staat mit der Gestaltung der (sozialpolitischen) Rahmenbedingungen können mithelfen, solche Kräfte zu stärken.
3. Kirche als solidarisches Netz für behinderte Menschen und ihre Familien
Jesu Umgang mit Kranken und Behinderten unterschied sich radikal von der üblichen Praxis seiner Zeit. Er brach mit dem gewohnten Denken, das Krankheit, Behinderung und Leid als gerechte Strafe Gottes für begangene Schuld wertete und sozial ächtete. Er wusste, dass Krankheit, Behinderung und Leid oftmals Ausdruck durch die Ohnmacht eines Menschen sind und durch Stigmatisierung und Ausgrenzung der "Gesunden" verstärkt, wenn nicht sogar erst ausgelöst werden. Jesu Heilungen setzen darauf, auf Seiten der Kranken und ihrer Angehörigen das Selbstvertrauen und die Eigenkräfte, auf Seiten der Gesunden die Aufnahmebereitschaft und den Mut zur eigenen Beweglichkeit zu stärken. Deshalb setzten sich schon frühe Christengemeinden von ihrer Umwelt klar ab, als sie Kranke, Behinderte und Leidende sowie ihre Angehörigen durch feste organisatorische Formen der Gemeindediakonie in der Mitte ihrer Gemeinschaft integrierten.
Auch heute gibt es in einer Reihe von Kirchengemeinden Initiativen, die die Einbeziehung behinderter Menschen und ihrer Familien zum Ziel haben. Dennoch bleibt die Gesamtsituation - 25 Jahre nach der Veröffentlichung der "Empfehlung der Deutschen Bischofskonferenz zur Seelsorge an Behinderten" (1976) - unbefriedigend. Der dort formulierte Anspruch "Es gehört zu den ureigenen Aufgaben der Gemeinden, sich der Behinderten als Glieder der Kirche anzunehmen", ist in der Verwirklichung des Gemeindelebens nur bedingt umgesetzt. Bei Gottesdiensten, Festen, Feiern und in kirchlichen Gruppen und Gremien werden zu wenig Menschen mit Behinderungen bewusst, ja selbstverständlich ihren Möglichkeiten entsprechend einbezogen und aktiv beteiligt. Begegnungen und Kommunikation mit ihnen und ihren Angehörigen werden oft verstanden als eine Aufgabe, die von außen hinzukommt, und nicht als selbstverständliches Hineinnehmen in die Gemeinschaft der Glaubenden. Eine solche Distanzierung verstärkt sich durch den bereits erwähnten Rückzug dieser Familien. Unrealistische Erwartungen der Betroffenen können erschwerend hinzukommen, dürfen jedoch nicht als Entschuldigung für Nichtbeteiligung hingenommen werden. Dass das Prinzip "Seelsorge für alle" keineswegs überall überzeugend umgesetzt wird, ist offensichtlich.
Mit der neuen Arbeitsstelle „Pastoral für Menschen mit Behinderung“ der Deutschen Bischofskonferenz soll nun eine Neuorientierung in der Wahrnehmung wichtiger pastoraler Aufgabenfelder gelingen, um die Diözesen, Verbände, Organisationen und Einrichtungen in ihrem Engagement der Pastoral mit behinderten Menschen zu unterstützen.
Ausgehend von Erfahrungen im Umgang mit den Betroffenen und ihren Familien und den daraus resultierenden Anf ragen an die Pastoral, vollzieht sich ein Überdenken pastoraler Konzepte, besonders unter dem Blickpunkt praktischen caritativen Handelns. Wichtige Aufgabe ist die Qualifizierung von Multiplikatoren gemeindlicher Behindertenpastoral, denn nicht selten sehen sich heute die Verantwortlichen in der Gemeinde überfordert, bei all ihren Belastungen offen zu bleiben für die Aufgabe der Integration behinderter Menschen und der mitbetroffenen Familien. Sie brauchen - besonders au ch im Umgang mit schwerstbehinderten Menschen und deren Familien - engagierte und fachkompetente Unterstützung und Mitwirkung von Helfern und Gruppen in der Gemeinde und von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus spezifischen Einrichtungen. Diese Aufgaben in der Gemeinde können nur dann auch in der Kirche deutlicher gesehen und befähigter wahrgenommen werden, wenn in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Priester, Diakone und pastoralen Mitarbeiter Kenntnisse und Erfahrungen über die Lebenssituation von behinderten Menschen und deren Familien stärker vermittelt werden. In jeder Diözese müsste es selbstverständlich sein, dass es dort einen Beauftragten in der Seelsorge gibt, der auf die Probleme behinderter Menschen in den Pfarrgemeinden aufmerksam macht und geeignete Hilfen anbietet. Sinnvoll wäre auch die Möglichkeit regelmäßiger Kontakte der angesprochenen Berufsgruppen mit Fachleuten der Behindertenhilfe (z. B. Praktika).
Damit sich Kirche als soldiarisches Netz für Menschen mit Behinderung bewährt, sind die katholischen Verbände - Jugend-, Frauen- und Erwachsenen verbände - ebenso gefordert wie die kirchlichen Gruppen, Chör e, Büchereiteams, AGENDA 21-Gruppen ... Jeder kann Orte einer neuen Kultur des solidarischen Miteinanders gesunder und behinderter Menschen schaffen. Kleine und große kirchliche Ereignisse und Feste müssen so ausgerichtet werden, dass behinderte Menschen sie als Orte der Begegnung erleben können. Der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin wird sich im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen an diesem Anspruch messen lassen.
4. Erwartungen der behinderten Menschen und ihrer Familien an pastorale, sozial-caritative Dienste der Kirche
Menschen mit Behinderungen und ihre Familien erwarten gerade von der Kirche ein entschiedenes Eintreten für die Rechte und die unveräußerliche Würde jedes Menschen sowie für die besonderen Belange von Familien. Sie erwarten dies nicht nur in Verlautbarungen, sondern auch bei deren konkreter Umsetzung im alltäglichen Leben der Gemeinde.
Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen brauchen die Gewissheit, in ihrer Kirche Verständnis und Mitgetragensein zu finden.
Eltern fühlen sich oft überfordert und allein gelassen, wenn sie vor der Entscheidung stehen, ein noch nicht geborenes, möglicherweise behindertes Kind anzunehmen oder abzulehnen. Betroffene Eltern bedürfen um so mehr der Hilfe, je mehr sie in unserer Gesellschaft einer Einstellung begegnen, die dazu neigt, behinderte Kinder vor deren Geburt als vermeidbares Übel zu betrachten.
Neben professionellen psychosozialen Beratungsangeboten, die zur Begleitung von Paaren vor und nach der Geburt eines Kindes und insbesondere im Kontext pränataldiagnostischer Untersuchungen dringend ausgebaut werden müssen, bleibt es Aufgabe der Gemeindepastoral, subsidiäre Hilfen in Krisensituationen anzubieten und Familiennetze auszubauen. Eltern suchen Lebenshilfe aus dem Glauben und erfahrbare Anteilnahme, gerade auch wenn z.B. infolge der permanenten Anforderungen durch besonders schwere Behinderungen und deren Folgen der Zusammenhalt der Familie gefährdet ist.
Behinderte erwarten Offenheit für sich und ihre Angehörigen in der Gottesdienstgemeinde. Dazu zählt die selbstverständliche Einbeziehung auch der geistig behinderten Kinder und Jugendlichen in die Gemeindefeier beispielsweise der Erstkommunion und Firmung.
Dies beginnt bei der Schaffung von behindertengerechten Zugängen zu den Kirchen, Begegnungsräumen und Bildungseinrichtungen und setzt sich fort in der aktiven Beteiligungsmöglichkeit der Betroffenen am Gemeindeleben sowie an der Arbeit in Gruppen, Verbänden und Gremien.
In diesem Sinn ist es wünschenswert, das tägliche "hautnahe" Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Kindern zu fördern. Das gemeinsame Aufwachsen von früher Kindheit an fördert den unbefangenen Umgang miteinander und längerfristig die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Achtung der Menschenwürde in unserer Gesellschaft. Der Ausbau integrativer katholischer Kindergärten muss daher entschieden weiter vorangetrieben werden. Dem Wunsch der Eltern von behinderten und nichtbehinderten Kindern, eine integrative Kindergarten- und Kinderhortgruppe einzurichten, sollte nach Möglichkeit entsprochen werden. Dabei sind ausgezeichnete Modellprojekte mit Vorbildfunktion zu beachten.
Besondere Bedeutung für ein gelingendes Leben der Heranwachsenden kommt der Schule als Partner der Familie zu: Die Förderung der behinderten Kinder und Jugendlichen und ihrer Integration ist eine komplexe Aufgabe, für die es keine einfache Lösung gibt. Ebenso wie sich Sonderschulen, nicht zuletzt in kirchlicher Trägerschaft, wiederholt als Vor reiter einer integrativen Pädagogik erwiesen haben, die die Teilhabechancen ihrer behinderten Schüler und Schülerinnen nachhaltig sichern können, so gibt es auch ausgezeichnete Konzepte integrativer Schulen, die sich vielerorts bewährt haben. Weder dürfen aus Angst vor Ausgrenzung gezielte Fördermöglichkeiten übersehen, noch dürfen Chancen einer entgrenzenden Begegnung leichtfertig verspielt werden.
Für viele Eltern verbindet sich die Suche nach einer geeigneten dauernden Beheimatung ihrer behinderten Kinder auch mit der Frage der pastoralen Betreuung in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Dur ch die in den letzten Jahren erfolgte Regionalisierung von Wohnheimen und Wohngemeinschaften, vor allem für geistig behinderte sowie psychisch kranke und behinderte Menschen, fällt die institutionalisierte Seelsorge in diesen Einrichtungen fast ganz aus. Hier muss nach neuen Formen der Pastoral für Menschen mit Behinderung gesucht werden. Sie sind angewiesen auf die pastorale Betreuung durch die Gemeinde. Dies gilt auch für die behinderten katholischen Christen in nichtkirchlichen Institutionen. In enger Zusammenarbeit zwischen Ortsgemeinden, Einrichtungen und den zuständigen Behindertenseelsorgern sind innovative Wege zu suchen.
Für Menschen mit Gehörlosigkeit bzw. Blindheit ist in langjähriger kirchlicher Tradition eine Zielgruppenseelsorge entwickelt wor den, die sich darum bemüht, die besonderen Bedürfnisse und Anliegen dieser Gruppen zu berücksichtigen. Dies geschieht in guter Kooperation von Selbsthilfegruppen und zuständigen pastoralen Mitarbeitern. In ähnlicher Weise gilt dies auch für andere Selbsthilfegruppen, insbesondere für die Fraternität der Körperbehinderten und Langzeitkranken in der Bundesrepublik. Diese Zielgruppenseelsorge sollte weiter verbessert werden, aber mehr in der Weise, dass "normale" Gemeinden befähigt werden, behinderte Menschen aufzunehmen und zu integrieren.
Familien mit behinderten Angehörigen stehen vor vielen ungewöhnlichen und schweren Aufgaben im Alltagsleben. Hilfen durch Nachbarschaft und ehrenamtliche Gruppen können hier wirksame Entlastung anbieten. Gelebte Solidarität wird dort erfahrbar, wo stundenweise Betreuung der behinderten oder auch der nichtbehinderten Kinder übernommen wird, wo Freizeitangebote (vor allem am Wochenende) für jugendliche Behinderte existieren oder wo stundenweise pflegende Angehörige schwerstbehinderter Menschen entlastet werden. Verlässliche Angebote dieser Art leisten entscheidende Beiträge dazu, dass Menschen mit schweren Behinderungen möglichst lange in ihrer Familie leben und wohnen können.
Allen behinderten Menschen sollte ein möglichst langes Verbleiben in der Familie ermöglicht werden. Vielfach ergeben sich - wie auch bei nicht behinderten Menschen - jedoch Situationen, in denen die rechtzeitige Ablösung eines Kindes von den Eltern im beiderseitigen Interesse liegt. Auch dies kann eine schwierige Situation darstellen, bei der Seelsorge und sozial-caritativer Dienst besonders gefordert sind.
In katholischen Familienbildungsstätten und Familienbildungswerken gibt es vielfältige Angebote für Familien mit behinderten Angehörigen. Auch diese haben oft modellhaften Charakter und müssten flächendeckend ausgebaut werden.
Erwähnenswert ist darüber hinaus die Entscheidung verschiedener katholischer Verbände der Behindertenarbeit vom November 2001, ihre fachliche Hilfe zu bündeln. Der neue Fachverband "Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie" (CBP) wird dazu beitragen, viele der skizzierten Erwartungen umzusetzen und für Forderungen behinderter Menschen und ihrer Familien noch wirkungsvoller als bisher einzutreten.
5. Forderungen an die Politik - verbesserte Rahmenbedingungen für behinderte Menschen und ihre Familien
Christinnen und Christen stehen vor der politischen Aufgabe, Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten. Es gilt, den Anspruch der behinderten Menschen auf ein gesichertes Dasein, das ihnen ein sinnerfülltes Leben ermöglicht, in der konkreten Praxis stets neu einzulösen.
Das soziale Leistungsrecht zugunsten behinderter Menschen, das in den 80er Jahren glücklicherweise erheblich ausgebaut werden konnte, ist keine „soziale Hängematte“. Auf der Grundlage etwa des bereits zitierten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung vom April 2001 und der europäischen Schlüsselindikatoren der Eurostat (Statistisches Amt der Europäischen Union) ist festzustellen, dass die wirtschaftliche Situation vieler Familien mit behinderten Angehörigen weiter unbefriedigend ist und Fortschritte daher dringend notwendig sind. Zentrales Problem bei der Einkommenssituation der betroffenen Familien ist die Tatsache, dass sie im Vergleich zu Familien ohne behinderte Angehörige in der Regel höhere Aufwendungen haben, denen oft behinderungsbedingte geringere Familieneinkommen gegenüberstehen.
Familien leisten viele außergewöhnliche Lebenshilfen für ihre behinderten Angehörigen. Die Forderung nach stärkerem solidarischen Einstehen von Gesellschaft und Staat für Familien mit behinderten Angehörigen bedeutet also keineswegs ein Abschieben der Verantwortung von der Familie auf staatliche oder gesellschaftliche Institutionen. Es bedeutet vielmehr im Sinne von Solidarität und Subsidiarität, die Anforderungen an solche Familien in tragbaren Grenzen zu halten und es ihnen zu erleichtern, ihrer Verantwortung für die behinderten Angehörigen gerecht zu werden.
Unsere Sorge muss vor allem den Familien gelten, in denen die Behinderung einen erheblichen Zeit- und Kostenaufwand für die Pflege des behinderten Angehörigen erfordert. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken fordert daher nachdrücklich, die Regelungen der Pflegeversicherung so zu verändern, dass sie den Bedürfnissen von Familien mit pflegebedürftigen Kindern endlich angemessen Rechnung tragen. Wer ein schwerbehindertes Kind in der Familie pflegt, muss dafür leistungsgerechte Rentenansprüche erwerben. Über einen verrichtungsbezogenen Pflegebegriff ist es kaum möglich, die Pflege- und Betreuungsleistungen des pflegenden Angehörigen eines schwerstpflegebedürftigen Kindes adäquat anzuerkennen, da der allgemeine Betreuungsaufwand unberücksichtigt bleibt.
Eine bessere soziale Absicherung dieser Familien ist auch zum Schutz ungeborener Kinder dringend notwendig: Wenn in einer Familie mit einem behinderten Angehörigen ein Kind erwartet wird, kann es leichter angenommen werden, wenn die allgemeinen Lebensumstände "stimmen" und die Familie auf konkrete Hilfen vertrauen kann. Entsprechend wichtig ist es, die Arbeit der Schwangerschaftsberatungsstellen in Bezug auf Hilfen für behinderte Menschen nachhaltig zu qualifizieren. Hinzu kommt die Notwendigkeit, ein breites Angebot psychosozialer Beratung im Zusammenhang der Pränataldiagnostik zu gewährleisten.
Die Praxis vorgeburtlicher Diagnostik führt heute dazu, dass ungeborene Kinder schon beim Verdacht auf bestimmte Behinderung abgetrieben werden. Zwar sieht das geltende Recht (§218 StGB) eine embryopathische Indikation nicht vor, doch hat die Praxis der Indikationsstellung unter den faktischen Bedingungen ärztlicher Haftung dazu geführt, dass das Vorliegen eines belastenden Befundes im Rahmen einer pränataldiagnostischen Untersuchung als solches bereits als Rechtfertigungsgrund für eine Abtreibung angesehen wird. Die Initiative aus Reihen des Bundestages vom Juli 2001 "Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen für Eltern und Kinder", die vom Bundesgesetzgeber Klarstellungen, Beratungsangebote und Reformen einfordert, sollte mit breiter Mehrheit entschieden vorangetrieben werden.
Wichtiger Meilenstein in der Politik für Menschen mit Behinderungen war die Verabschiedung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) mit dem lange aufgeschobenen und auch vom ZdK in seiner Erklärung "Familien mit behinderten Angehörigen" 1991 nachdrücklich eingeforderten Ziel, die vielfältigen Hilfen für Menschen mit Behinderung zusammenzufassen. So kann die Gefahr gemindert werden, dass betroffene Familien vorhandene Hilfen nicht wahrnehmen, weil sie sich im Dschungel der Regelungen und Zuständigkeiten nicht zurechtfinden. Eine Zuständigkeitsregelung soll verhindern, dass Leistungsberechtigte von einem Rehabilitationsträger zum anderen geschickt werden. Umfassende Beratung sollen die gemeinsamen Servicestellen der Rehabilitationsträger bieten.
Die Umsetzung des SGB IX erweist sich allerdings gerade in diesem Punkt weiterhin als schwierig. Von einer flächendeckenden Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Servicestellen sind wir weit entfernt. Es mangelt an gemeinsamen Empfehlungen für die Zusammenarbeit. Keinesfalls dürfen Abstimmungs- und Umstrukturierungsprobleme dazu führen, dass anstelle der angestrebten Vereinfachung die Verunsicherung der betroffenen Menschen zunimmt. Hier ist das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gefordert, für Klarheit zu sorgen. Die Rehabilitationsträger müssen of fensiv die gesetzlich geschaffenen Möglichkeiten zum Wohle der behinderten Menschen umsetzen.
Zu den Fragen, die das SGB IX nicht widerspruchsfrei beantworten konnte, zählt die Frage nach der Zuständigkeit für Leistungen der Früherkennung und Frühförderung. Einige Bundesländer gehen davon aus, dass heilpädagogische Leistungen nur noch von den Krankenkassen bezahlt werden müssen, während die Krankenkassen und die Bundesregierung weiterhin von den Sozialhilfeträgern (also den Ländern) den bisherigen Beitrag zu den Kosten erwarten. Vorschnell werden Eltern verunsichert und erhalten Bescheide, nach denen sie die Leistungen der Früherkennung und Frühförderung bei einem anderen Rehabilitationsträger beantragen müssen. Anstatt Zuständigkeiten zu klären und damit Sicherheit für betroffene Menschen zu schaffen, sind neue Unsicher heiten entstanden.
Im SGB IX ist allerdings eine Reihe von Regelungen enthalten, die behinderten Müttern die Teilhabe an Leistungen der Rehabilitationsträger deutlich erleichtern. Von den Rehabilitationsträgern wird Haushaltshilfe geleistet, wenn den Leistungsempfängern wegen der Ausführung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist. Ebenfalls können Betreuungskosten eines Kindes übernommen werden, wenn sie durch die Ausführung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben unvermeidbar entstehen. Der Gesetzgeber hat damit zu erkennen gegeben, dass er die Probleme behinderter Mütter endlich gesehen hat. Die gefundene Regelung ist sicher noch nicht vollständig bedarfsgerecht, aber ein großer Schritt in die richt ige Richtung.
Auch in der Gesundheitsversorgung bestehen noch einige Lücken und Mängel, so vor allem bei der Vorsorge und Früherkennung sowie bei der Frühförderung und ambulanten Betreuung behinderter Menschen. Der Zugang zur Psychotherapie muss für alle Menschen, die auf diese Therapieform angewiesen sind, erleichtert werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass notwendige psychotherapeutische Behandlungen von der Krankenversicherung oder anderen Leistungsträgern so lange finanziert werden, bis sich der erreichbare Erfolg eingestellt hat.
Für viele finanzielle Probleme der Angehörigen behinderter Menschen, die mit dem SGB IX nicht gelöst worden sind, könnte ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung die adäquate Antwort bieten: Allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sind die Mängel, die sich aus der Zuordnung der Eingliederungshilfe zum Bundessozialhilfegesetz ergeben, seit Jahren bekannt. Der Gesetzgeber hat sich schon mit Einführung des Schwerbehindertengesetzes im Jahre 1974 ganz eindeutig für eine Abkehr vom Kausalitätsprinzip und eine Hinwendung zum Finalitätsgrundsatz entschieden. Nicht die Ursache, sondern allein das Ausmaß der Behinderung soll die Grundlage für Eingliederungs- und Rehabilitationsmaßnahmen sein. Im Sozialleistungsrecht für behinderte Menschen ist dieser Leitgedanke bis heute nicht verwirklicht: Wenn ein Kind aufgrund eines Impfschadens oder eines Unfalls im Kindergarten eine schwere geistige Behinderung davonträgt, erhält es einkommens- und vermögensunabhängige Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz bzw. nach Maßgabe der Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung. Liegt dagegen eine geistige Behinderung von Geburt an vor, kommen nur Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz in Betracht, und diese Leistungen sind - jedenfalls dem Grunde nach auch nach Einführung des SGB IX - einkommens- und vermögensabhängig.
In einem nächsten Schritt muss der Gesetzgeber nun das Schwerbehinderten- und Rehabilitationsrecht von strukturellen Mängeln befreien und die Eingliederungshilfe für Behinderte endlich vom Nachranggrundsatz der Sozialhilfe ablösen, als (zumindest) gleichrangige Rechtsgrundlage im SGB IX verankern und klare Abgrenzungskriterien für die einzelnen Leistungsbereiche vorgeben.
Unverzichtbar wichtig ist auch, das im Grundgesetz formulierte Benachteiligungsverbot nun zügig in Gleichstellungsgesetzen zu konkretisieren. Der schrittweise Ausbau einer barrierefreien Infrastruktur in den Kommunen kann allerdings nur gelingen, wenn den Kommunen auch die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die Kostenberge, die den Kommunen als schwächsten Gliedern in der Hierarchie vom Gesetzgeber aufgeladen werden, stellen für die Zukunft eine behinder tengerechten Politik eine ernste Gefahr dar.
Alle deutschen Reformen und Maßnahmen sind schließlich im Lichte der europäischen Einigung zu sehen. Es wird unter finanziell ungünstigen Voraussetzungen der konzertierten Anstrengung vieler bedürfen, um zu verhindern, dass Angleichungen nicht mit Leistungsniveauabsenkungen verbunden sein werden.
6. Familie und Behinderung - Beschäftigungspolitische Aspekte
Es kann nicht übersehen werden, dass die wirtschaftlichen Benachteiligungen von Familien mit einem schwerbehinderten Familienmitglied auch mit Benachteiligungen schwerbehinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängen. Im Vergleich z u nicht behinderten sind schwerbehinderte Arbeitnehmer durch geringere Mobilität, durch geringere Aufstiegsmöglichkeiten und durch ein höheres Risiko der (Langzeit-)A rbeitslosigkeit benachteiligt. Das gilt immer noch in besonderem Maß für Menschen mit Behinderungen in den neuen Bundesländern.
Betroffene Familien sehen sich auch vor besondere Anforderungen gestellt, wenn es um die Berufswahl und die berufliche Zukunft von behinderten Jugendlichen geht. In engem Kontakt mit den Beratungsstellen der Arbeitsämter versuchen Eltern, ihren behinderten Kindern eine Berufsausbildung zu ermöglichen, die ihnen eine möglichst dauerhafte I ntegration in das Berufsleben sichert. In der Tat leisten die Arbeitsämter als Träger der Rehabilitation mit ihren Maßnahmen von der Berufsberatun g bis hin zu speziellen Förderprogrammen wichtige Hilfen, auch für die betroffenen Familien. Trotzdem stehen viele von ihnen vor dem Problem, dass der behinderte Jugendliche keinen Ausbildungsplatz am Wohnort oder wohnortnah erhält. In diesem Fall stellt das Arbeitsamt in aller Regel eine Berufsausbildung in Berufsbildungswerken sicher. Das bedeutet aber für einen großen Teil der betroffenen Jugendlichen, dass sie fernab von der gewohnten Umgebung untergebracht sind und damit erheblichen Einschränkungen in ihren Beziehungen zu Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundeskreis unterliegen.
Angesichts der fortbestehenden Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt ist die Praxis der Einstellung und Beschäftigung von Schwerbehinderten weiter auf der Tagesordnung. Durch die befristeten Regelungen des § 71 SGB IX muss sie sich im Verlauf des Jahres 2002 in besonderer Weise bewähren. Das ZdK begrüßt ausdrücklich alle Initiativen, die dem im Gesetz formulierten Ziel dienen, die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen bis zum Oktober 2002 um mindestens 25 Prozent unter die gleiche Zahl des Monats Oktober 1999 zu senken. Es ist nicht zu akzeptieren, dass immer n och viele öffentliche und auch kirchliche Arbeitgeber ihr Pf lichtplatzsoll nicht erfüllen.
Wir fordern die Verantwortungsträger in Politik, Verwaltung und Wirtschaft (Tarifpartner, Arbeitgeber, Arbeitnehmervertretungen) auf, ihre Bemühungen um die Eingliederung Behinderter in das Berufs- und Arbeitsleben gerade in Zeiten konjunktureller Schwierigkeiten und hoher Arbeitslosigkeit zu intensivieren.
Dabei darf die Verpflichtung der Arbeitgeber, bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen für die Erfüllung der Pflichtquote Frauen besonders zu berücksichtigen, nicht nur auf dem Papier stehen. Zu erwarten ist, dass es besonders für schwerbehinderte Frauen von großem Nutzen sein wird, dass die Arbeitgeber zur Förderung der Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen verpflichtet sind. Die im SGB IX geschaffene Verpflichtung geschlechtsspezifischer Berichterstattung wird die Überprüfung des angezielten Abbaus doppelter Benachteiligung behinderter Mütter auf dem Arbeitsmarkt erleichtern.
Ein wichtiges Ziel bleibt auch die Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen, die durch z.T. langjährige Pflege schwerbehinderter Angehöriger jahrelang aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Wiedereingliederungshilfen und berufliche Bildungsangebote sind auszubauen, die Regelungen der Arbeitslosenversicherung zu überprüfen.
Gerade auch die Kirche als einer der größten Arbeitgeber muss prüfen, wo sie ihren Beitrag für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien verstärken kann (z. B. in den Gemeinden, örtlichen, regionalen und diözesanen Geschäftsstellen, Kirchenämtern, Bildungseinrichtungen, Verbänden).
Soweit die Eingliederung Behinderter und gesundheitlich Beeinträchtigter in die Erwerbstätigkeit nicht möglich ist, ist eine Verbesserung der heutigen Regelungen ihrer finanziellen Absicherung erforderlich.
Die Vollendung des Binnenmarktes in der Europäischen Union hat bei Menschen mit Behinderungen, ihren Familien, Selbsthilfeeinrichtungen und Verbänden die Sorge ausgelöst, im Rahmen bzw. als Konsequenz dieses Prozesses könnten sich gerade auch im Bereich des arbeitsrechtlichen Schutzes für die Betroffenen Verschlechterungen ergeben.
7. Unser solidarisches Engagement für Menschen mit Behinderung und ihre Familien
Menschen mit Behinderungen - insbesondere jene, die vom Schicksal der Behinderung von Geburt oder dem Kindesalter an betroffen sind - erf ahren meist in besonderer Weise Hilfe, Verständnis und liebevolle Zuwendung ihrer Eltern, die auch bewusst manchen Verzicht in ihrem eigenen Leben auf sich nehmen. Betroffene Eltern denken aber mit Sorge an die Zeit, in der sie selbst nicht mehr leben und ein schwerbehinderter Angehöriger auf sich gestellt ist. Hier sind Gesellschaft und Staat aufgerufen, für auf sich allein gestellte, behinderte Menschen angemessene Lebensbedingungen zu schaffen, die ihnen nachhaltig Teilhabemöglichkeiten sichern.
Neben gesetzlichen Rahmenbedingungen ist hier immer auch gelebte Nächstenliebe gefordert. Sie darf nicht nur jene Menschen leiten, die sich familiär oder beruflich für behinderte Menschen einsetzen. Unverzichtbar ist vielmehr auch das ehrenamtliche Engagement möglichst vieler Menschen. Bereitschaft zum Helfen ließe sich häufiger als heute in aktives Handeln umsetzen, wenn geeignete Institutionen mehr dazu beitragen könnten, dass Bürgerinnen und Bürger, die helfen wollen, mit Menschen zusammengeführt werden, die Hilfe, Beistand und Zuwendung brauchen. Der institutionelle Ideenreichtum, der im zurückliegenden Jahr des Ehrenamts deutlich wurde, darf nicht ungenutzt bleiben. Viele Ideen wachsen im ökumenischen Miteinander. Ein Motor dafür kann die "Woche für das Leben" bleiben, eine Initiative der katholischen und evangelischen Kirche, die sich in ihrer über zehnjähr igen Geschichte wiederholt Fragen von Behinderung und Leid zugewandt hat.
Im freiwilligen Engagement liegen Chancen für mehr Sinnerfüllung im Leben jedes einzelnen Menschen, nicht nur des Behinderten, und für eine menschenwürdige Gesellschaft insgesamt. Jedes unmittelbare alltägliche Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen ist eine Bereicherung für beide Seiten. Es ist keine Verharmlosung von Behinderung und Leid, wenn man auf den oftmals überraschenden Reichtum an Lebenskompetenz und Begegnungsintensität behinderter Menschen mit ihrer Alltagswelt, ihren Familien und Nachbarschaften aufmerksam macht.
Beschluss des Hauptausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 25. Januar 2002.
1) Das ZdK spricht in seinen Texten in der Regel von „Menschen mit Behinderungen“, da sich der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch nun allerdings für den Begriff der „behinderten Menschen“ entschieden hat und verschiedene Selbsthilfeorganisationen ausdrücklich von „Behinderte“ sprechen, werden die drei Begriffe in der Erklärung synonym verwandt.
2) Obwohl es dieser Erklärung also keineswegs nur um die Situation von Familien mit behinderten Kindern geht, kann der Text doch nicht dem Anspruch genügen, alle Fragen gelingenden Lebens mit Behinderung gleichberechtigt anzusprechen. Der große Komplex der durch die demographische Entwicklung sich ergebenden Handlungsnotwendigkeiten gerade für ältere Menschen mit Behinderung (z .B. Altersdemenz) bleibt im Grunde ausgespart.
3) Disability and social participation in Europe (herausgegeben von der Europäischen Kommission und Eurostat, Luxemburg 2001, Manuskript: Emmanuelle Cambois), S. 5
4) Diese Definition stützt sich auf die Klassifikation ICIDH-2 der WHO von 1999.Sie impliziert ausdrücklich kein Werturteil und ist offen für die Beobachtung, dass Beeinträchtigungen in einem Bereich (Blindheit) nicht selten mit besonderen Fähigkeiten in anderen Bereichen (im Beispiel: Gehör) korrespondieren.
5) Die Erwerbsarbeitzentrierung schlägt sich besonders deutlich nieder im Leistungsverständnis unserer Gesellschaft und in der Ausgestaltung der Systeme sozialer Sicherung.
6) Vgl. „Entwicklungen in der Biomedizin und ihre ethische Bewertung“- Beschluss der Vollversammlung des ZdK vom 4./5.Mai 2001 und Diskussionsanstoß des Kulturpolitischen Arbeitskreises des ZdK vom 1.März 2001, Bonn-Bad Godesberg Mai 2001, bes. S. 5