Menschenbild und Gesellschaftsgestaltung - Orientierungen der katholischen Soziallehre
Rede von Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins im Rahmen des Europäischen Laienforums in Erfurt vom 28.06.-03.07.2002 (ZdK)
Unsere modernen Gesellschaften in Europa vermitteln ein zwiespältiges Lebensgefühl: Auf der einen Seite bieten sie für sehr viele Menschen Lebensmöglichkeiten, wie es sie nie zuvor in der Geschichte gegeben hat: wirtschaftlichen Wohlstand und eine gute soziale Grundausstattung, ein hohes Maß an Grundrechtssicherung, Demokratie und Mitbestimmung, weltweite Mobilität, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite beobachten wir eine tiefer werdende Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Armen – nicht nur im weltweiten Maßstab, sondern auch in unseren eigenen Gesellschaften; wir erleben die Infragestellung sozialer Standards, die in unseren Gesellschaften im Verlauf des 20. Jahrhunderts etabliert worden sind. Wir beobachten in jüngster Zeit eine wachsende Bereitschaft, grundlegende Freiheitsrechte zugunsten von tatsächlichen oder vermeintlichen Sicherheitsinteressen anzutasten; und wir nehmen teil an einem Prozess der allgemeinen Verunsicherung: Ethnische, religiöse, weltanschauliche Pluralisierung wird nicht nur als Gewinn, sondern oft sogar vorrangig als Bedrohung eigener Sicherheit, eigener Identität erlebt und mit Ablehnung des Fremden, nicht selten auch mit Gewaltbereitschaft beantwortet.
In vier Thesen möchte ich einen Problem- und Fragehorizont beschreiben, in dem anschließend über Menschenbild und Menschenwürde sowie über die Orientierungskraft der katholischen Soziallehre nachzudenken ist.
Drängende gesellschaftliche Herausforderungen. Thesen zur Einführung
Es ist also zunächst in vier Thesen von gesellschaftlichen Krisenszenarien zu reden:
1. Die vielfältige Bedrohung des Friedens und die offenkundigen Kriegsszenarien in vielen Weltregionen gehören heute zu den tiefsten Quellen der Sorge und der Verunsicherung von Menschen und ganzen Gesellschaften überall auf der Welt. Auch wir in Deutschland und Europa bleiben nicht unberührt von den Erschütterungen im Nahen Osten, in Afghanistan, in der Kaschmir-Region, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen. Die Sorge um einen gerechten Frieden in der Welt muss deshalb einen zentralen Impuls des Nachdenkens und des politischen Handelns bilden: Sie zwingt uns, die dramatischen Ungleichheiten der Lebenschancen und die sich verschärfenden Ungerechtigkeiten wahrzunehmen. Die Kluft zwischen (absoluter) Armut und immensem Reichtum wächst. Darin liegt ein fortwährender elementarer Verstoß gegen die Menschenwürde der Armen und eine Quelle von Unfrieden und Gewalt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und weltweiten Verteilungskämpfen um Land, um lebenswichtige Güter, um wirtschaftliche und politische Macht. Daraus ergibt sich die Frage, welche Idee von gelingendem menschlichen Leben und Frieden unser Handeln orientiert.
2. In vielen westeuropäischen Ländern scheint sich zur Zeit eine Krise der demokratischen Kultur abzuzeichnen. Sie äußert sich u.a. in einer deutlichen Drift nach rechts. Diese Entwicklung hat wahrscheinlich mit der schon angesprochenen allgemeinen Verunsicherung und Angst vor dem vielgestaltigen Fremden zu tun, das als Bedrohung empfunden wird. Dahinter wird aber ein tiefgreifendes Problem der Erziehung und Bildung sichtbar: Sicherheit lässt sich in einer offenen Gesellschaft nicht dauerhaft durch Abschottung nach außen, auch nicht durch Polizeimaßnahmen gewinnen; sehr notwendig ist die Ausbildung und Förderung stabiler kultureller, weltanschaulicher und religiöser Identitäten; sie bilden eine unerlässliche Grundlage zum Miteinanderleben, zu Begegnungsfähigkeit und Integration in einer offenen, pluralen Gesellschaft. Die Frage nach dem Ideal des menschlichen Zusammenlebens, nach der Idee gerechter Gesellschaft steht im Raum.
3. Eine andere Quelle der Verunsicherung für viele liegt im Rückbau sozialstaatlicher Standards in vielen hochentwickelten Gesellschaften. Wirtschaftliche Interessen und der Anspruch, die Eigenverantwortung der einzelnen zu stärken, werden dafür geltend gemacht. Natürlich ist es sehr wichtig, die einzelnen als verantwortliche Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Ein Problem entsteht aber dann, wenn durch den Verlust sozialer Stabilität die Wahrnehmung von Verantwortung eben nicht unterstützt, sondern behindert wird. Dies ist ein Grund dafür, dass sich die Schere zwischen Wohlhabenden und Armen auch in unseren Gesellschaften vergrößert. Dieser Problemkreis verweist uns auf die Frage, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bestimmt werden soll.
4. Ein vierter Problemkreis bezieht sich auf die wachsende Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der Wertschätzung, die dem menschlichen Leben entgegengebracht werden: Wir erleben eine immense und rasante Steigerung der medizinisch-technischen Möglichkeiten, menschliches Leben zu perfektionieren. Das gilt nicht nur für die Chancen zur Behandlung und Heilung von Krankheiten, sondern auch für die Früherkennung von Behinderung und Krankheit schon im vorgeburtlichen Stadium. Diese Steigerung der Möglichkeiten hat aber eine gefährliche Kehrseite: Die Überzeugung, dass der Wert des menschlichen Lebens nicht von Gesundheit, Krankheit oder Behinderung abhängt, wird nicht allgemein geteilt. Der Druck auf Eltern, nur gesunden Kindern das Leben zu schenken, steigt. Ebenso wächst der Druck auf alte Menschen, aus dem Leben zu gehen, wenn sie einem bestimmten Maßstab der gesellschaftlichen Nützlichkeit und „Normalität" nicht mehr genügen können. Oft verbirgt sich dieser Druck in einem scheinbar sehr humanen Gewand, im Ruf nach dem Recht auf den eigenen Tod. In diesen Tendenzen zeigt sich eine schleichende Infragestellung des Lebensrechtes am Anfang und am Ende, eine Gefährdung des elementarsten Menschenrechts, und letztlich ein Bruch mit einer tragenden Grundlage der christlich geprägten europäischen Kultur. Die Frage, die sich aufdrängt, ist die nach dem Menschenbild und nach dem Grund menschlicher Würde.
Diese Frage soll uns im folgenden Abschnitt beschäftigen:
Das „christliche Menschenbild" als Deutungsangebot und Orientierungshilfe
Zu den grundlegenden Orientierungen jeder Moral gehört ein Bild vom Menschen als Subjekt moralischen Handelns und Träger moralischer Verantwortung. Christen berufen sich deshalb immer wieder auf das „christliche Menschenbild". Aber die Formel selbst sagt noch wenig über das Besondere dieses Menschenbildes. Deshalb muss genauer gefragt werden, welche Orientierungspunkte denn in diesem Bild gefunden werden können. Dabei handelt es sich um Anhaltspunkte, nicht um einen abrufbaren Katalog fixierter Inhalte.
Ein Menschenbild ist – ähnlich wie ein gemaltes Portrait – kein „naturgetreues Abbild". Es enthält auch nicht eine „ein für alle Mal" eindeutige Wesensaussage. Vielmehr ist es ein Deutungsangebot. Es ist von bestimmten Mustern der Weltwahrnehmung, von religiösen oder philosophischen Überzeugungen und von geschichtlichen Erfahrungen geprägt. Deshalb gibt es nicht das christliche Menschenbild schlechthin; aber es gibt vielfältige Versuche, im Licht christlicher Grunderfahrungen und –überzeugungen zu verstehen, was Menschsein und menschliche Würde ausmacht. So wird ein Horizont eröffnet, vor dem menschliches Leben in Gesellschaft zu entwerfen ist und vor dem gesellschaftliche Entwicklungen kritisch befragt werden können. Dabei helfen einige grundlegende Koordinaten, die sich vom biblisch-christlichen Gottesglauben und der in der Bibel reflektierten Welterfahrung her erschließen. Sie prägen christliche Bilder vom Menschen. Ich möchte sie in fünf Spannungsbögen beschreiben, zwischen deren Polen sich menschliches Leben zu verstehen sucht. Diese Spannungen zu halten, ohne sie nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen, erweist sich als Kriterium der Orientierung am christlichen Menschenbild.
1. Zwischen Verdanktheit und Autonomie
Was Menschsein bedeutet, erschließt sich im biblisch-christlichen Verstehenshorizont aus der Beziehung zum schöpferischen Gott: Als Geschöpf ist der Mensch nicht einfach ins Dasein „geworfen", sondern in der ganzen Vielschichtigkeit seiner Existenz gehalten und getragen von einem Urheber, der sein Geschöpf wohl-wollend begleitet. Damit ist ein Vor-Zeichen für alle weiteren Deutungsmomente gesetzt. Eine solche verdankte Existenzweise ermächtigt zu Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit; sie stellt den Menschen vor die Herausforderung, seine Welt aktiv und verantwortlich zu gestalten, sein Leben in die Hand zu nehmen und es im Sinne seiner Fähigkeiten und in Beziehung zu Anderen zu führen.
2. Zwischen Individualität und sozialer Verwiesenheit
Jedes menschliche Leben ist nach christlicher Überzeugung einmalig und unverwechselbar. Zugleich ist es aber auf menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft hingeordnet und angewiesen. Diese Spannung gehört zu den strukturierenden Grundmomenten des christlich gedeuteten Personbegriffs. Der Person-Begriff ist für die katholische Soziallehre ein zentrales Instrument, um das christliche Menschenbild zu beschreiben: Es besteht auf der Gleichursprünglichkeit und der bleibenden Spannungseinheit von Individualität und sozialer Verwiesenheit. Damit wendet es sich kritisch gegen Deutungsangebote, die menschliche Existenz entweder auf Kosten der Beziehungshaftigkeit individualistisch verengen oder auf Kosten seiner Individualität und Eigenständigkeit kollektivistisch verkürzen. Für die Auslegung der klassischen Sozialprinzipien der Subsidiarität und der Solidarität sowie für ihre wechselseitige Zuordnung hat das Konsequenzen. Einseitige Verhältnisbestimmungen sind von hier aus im Ansatz zu kritisieren. Das gilt ebenso für das Prinzip der Solidarität, das soziale Gerechtigkeit einklagt, wie für das Subsidiaritätsprinzips, das vor allem der Freiheitssicherung dient.
3. Zwischen Beziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit
Im Verständnis der Sozialität menschlicher Existenz selbst erschließt sich eine weitere Spannung: Menschen sind fähig zu zwischenmenschlicher Beziehung und zum gemeinsamen Aufbau von Gesellschaft, sie sind aber ebenso darauf angewiesen, mitmenschliche und gesellschaftliche Unterstützung zu erfahren. Beides hängt eng damit zusammen, dass der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Körper ist. Das ist Grenze, aber auch Chance des Menschen. Es greift zu kurz, Sozialität allein als eine Bedürftigkeit, als Ausgleich einer menschlichen Unvollkommenheit oder Schwäche zu verstehen. Eine solche Sichtweise würde die soziale Angewiesenheit zwar Kindern, Kranken und Behinderten, Alten und Schwachen zugestehen, aber das Ideal und die Zielsetzung menschlicher Entwicklung und Erziehung wäre dann „Autonomie", verstanden als Unabhängigkeit von anderen.
Wer von der Botschaft ausgeht, dass Gott Mensch – Fleisch – geworden ist, wird aber nicht bei einer solchen defizitorientierten (und individualistischen) Auslegung bleiben. Neben die Angewiesenheit auf andere, die jeder Mensch von Geburt an erfährt, tritt die ebenso grundlegende Erfahrung der Fähigkeit zu mitmenschlicher Beziehung, die es zu kultivieren gilt. Dies ist eine zentrale Konsequenz aus der Spannung gleichursprünglicher Individualität und Sozialität. Sie beinhaltet eine bedeutsame Wertoption für die Interpretation des Sozialprinzips der Solidarität. Für Debatten um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und die ethische Bewertung des Sozialstaatsprinzips liegt darin eine wichtige Orientierungshilfe.
4. Zwischen verantwortlicher Freiheit und Schuldanfälligkeit
In den drei bisher skizzierten Spannungsbögen erschließt sich die Polarität von vernünftiger und verantwortlicher Freiheit und Schuldanfälligkeit, von Schuldfähigkeit und Fehlbarkeit. Auch sie prägt menschliches Leben. Die Ermächtigung zur Freiheit eröffnet den Raum zum Handeln und Gestalten von Welt; sie fordert heraus zur Verantwortung, zum dialogischen, reflektierten Entscheiden der eigenen Lebenswege und gesellschaftlicher Prozesse. All dies steht aber zugleich in der Ambivalenz möglichen Scheiterns. Menschliche Motive und Absichten sind nicht immer rein, sie sind anfällig für negative Einflüsse und korrumpierbar. Ein christliches Verständnis des Menschen ist realistisch: Es geht davon aus, dass diese Anfälligkeit im irdischen Leben nicht überwindbar ist – das ist ein Sinngehalt der theologischen Rede von der Erbsünde. Gerade in gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen von großer Tragweite – wie z.B. im Bereich der Biotechnologie – ist es hilfreich, diese Einsicht zu bedenken, denn sie kann zur Vorsicht und zur Wahl der weniger risikoreichen Wege ermutigen.
5. Zwischen Selbstüberschreitung und Sterblichkeit
Jedes menschliche Leben geht auf den Tod zu. Ein christliches Verständnis setzt die Erfahrung von Endlichkeit und Sterblichkeit in ein Spannungsverhältnis mit der Fähigkeit zur Transzendenz und der Hoffnung auf Erlösung. Die Fähigkeit, Distanz zu sich selbst zu nehmen, die Sinnfrage zu stellen und sich nicht im jeweiligen Tagesgeschäft buchstäblich zu erschöpfen, steht immer schon im Zeichen der Todesperspektive eines jeden menschlichen Lebens. Christlicher Glaube kann aber an die erste Grundspannung von Verdanktheit und Eigenständigkeit menschlichen Lebens anknüpfen: Der Glaube an einen guten Schöpfer-Gott erübrigt nicht die Frage nach dem „Wozu" von Leiderfahrung und Todesverfallenheit; diese Frage findet im Sinnhorizont biblischer Gotteserfahrung und ihrer christlichen Deutungen keine einfache Antwort. Sie wird vielmehr klagend offen gehalten in der Hoffnung auf den Gott, der sich selbst mit der menschlichen Leidens- und Todeserfahrung gemein gemacht hat. Gott kommt nicht als Vertröster ins Spiel. Vielmehr muss in seinem Namen buchstäblich alles Mögliche für die Überwindung leidverursachender Ungerechtigkeit getan werden, aber zugleich muss jeder leidende Mensch in seiner unveräußerlichen Menschenwürde unbedingt geschützt und geachtet werden.
Fazit: Menschenwürde als orientierende Idee
Durch diese Spannungsbögen hindurch scheint auf, was der abstrakte Begriff „Menschenwürde" in einem christlichen Deutungshorizont meint. In ihm bündeln sich wie in einem Brennglas Perspektiven zum Verstehen: Menschsein ist verdankte, zu sich selbst befreite und zu verantwortlichem Handeln ermächtigte, aber endliche und gefährdete Existenz; weil sie verdankt und in ihrer Anfälligkeit für das Böse von Gott dennoch angenommen ist, entzieht sie sich der letzten Verfügbarkeit durch den Menschen selbst. Deshalb ist die Würde des Menschen unantastbar.
Aber: Kann ein solches Deutungsangebot menschlicher Existenz zur moralischen Verständigung in der pluralen Gesellschaft beitragen? Das christliche Menschenbild ist ja von starken Voraussetzungen geprägt, die längst nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaften teilen; Gehalte wie die Bestimmung des Menschen als Geschöpf erschließen sich erst im Horizont des biblischen Gottesglaubens. Sie verstehen sich keineswegs „von selbst". Gleichwohl bieten sich auch für Menschen, die dem christlichen Bekenntnis fernstehen, Anknüpfungspunkte: Denn auch im christlichen Menschenbild werden allgemeine und grundlegende menschliche Erfahrungen (z.B. Beziehungsfähigkeit und –verwiesenheit, Schuldanfälligkeit, Sterblichkeit) deutend aufgenommen. Gegen Verkürzungen des Verständnisses vom Menschen und seiner Würde werden sie als fundamental behauptet. Dafür gibt es auch ohne eine religiöse Rückbindung gute Argumente. Z.B. kann man argumentieren: Das Lebensrecht Leidender, Kranker, Behinderter darf nicht in Frage gestellt werden, denn aller Erfahrung nach gehören diese Dimensionen des Lebens so elementar zum Menschen, dass jeder damit rechnen muss, selbst einmal in eine entsprechende Lage zu kommen; wer möchte nicht gerade in einer Situation der Schwäche und der Bedrohtheit seines Lebens die Garantie der Gesellschaft dafür haben, dass sein Leben auch dann, ja erst recht dann unbedingt geschützt wird? Vernünftige Argumente für einen Schutz des menschlichen Lebens sind also durchaus zugänglich, und sie können mit einer christlichen Sichtweise verknüpft werden.
Das christliche Deutungsangebot geht aber einen Schritt weiter, und darin liegt seine Provokation: Das absolut Unverrechenbare menschlicher Existenz, anders gesagt: die unverfügbare und unantastbare menschliche Würde, wird verankert in einer Wirklichkeit, die den Menschen grundsätzlich übersteigt und deshalb seiner Verfügbarkeit entzogen ist. Er ist nicht die letzte, sondern „nur" die vorletzte Instanz. Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde ist auch in modernen Rechtsordnungen als Konsensbasis behauptet worden; Entwicklungen wie die zu Beginn skizzierten lassen aber die Brüchigkeit und Verletzlichkeit dieses Konsenses allzu deutlich werden. Vor diesem Hintergrund gewinnen Ansätze wie die Argumentation mit dem christlichen Verständnis des Menschen eine vielleicht unzeitgemäß erscheinende, aber gleichwohl hochaktuelle, ja eine prophetische Bedeutung: Sie können helfen, Standards der Humanität zu sichern. Allerdings reichen rhetorische Beschwörungen dazu nicht aus; alles Reden muss durch eine entsprechende Praxis ratifiziert werden!
Das Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen einer Verständigung über gesellschaftliche Werte unter Pluralitätsbedingungen und einer weltanschaulich-religiös starken Position, wie sie die Berufung auf das „christliche Menschenbild" repräsentiert, kann also nicht geleugnet werden. Dennoch hat sie eine Chance, insofern sie ihre Vernünftigkeit ausweisen kann. Das gelingt freilich nicht allein durch theoretische Beweisführung. Es kommt vielmehr darauf an, dass die im Menschenbild verankerten Wertprioritäten im gesellschaftlich-sozialen Handeln der Christen zum Tragen kommen: Entscheidend ist, ob aus der Orientierung am „christlichen Menschenbild" eine Praxis (kirchlicher, gesellschaftlicher, politischer Akteure) erwächst, die sich als lebensdienlich für alle Menschen erweist. Dann wird auch die religiös voraussetzungsreiche Argumentation als ernst zu nehmende Option, ja als notwendige Provokation Anerkennung finden, deren Fehlen einen Verlust an Humanität in der modernen Gesellschaft bedeuten müsste.3. Sozialethische Perspektiven zur Gesellschaftsgestaltung
Die Berufung auf das „christliche Menschenbild" setzt also durchaus bestimmte politisch relevante Orientierungen frei – allerdings bietet sie nicht von sich aus Lösungen konkreter Probleme. Darum muss auch auf dieser Grundlage noch gerungen und gestritten werden. Dabei fungiert das Menschenbild mit seinen Spannungsbögen als Prüfkriterium möglicher Lösungsansätze und als Korrektiv, von dem her bestimmte Handlungsoptionen als unvereinbar ausgeschlossen werden müssen; es ist regulative Idee, nicht Handlungsnorm. Aufgabe der Christinnen und Christen und ihrer Kirchen ist es, diese regulative Idee so in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen, dass ihre Orientierungskraft für aktuelle Debatten wahrgenommen werden kann. Dazu bietet die katholische Soziallehre wertvolle Hilfen.
Anhand der Thesen, mit denen ich im ersten Teil des Vortrags ein Szenario gegenwärtiger gesellschaftlich-politischer Herausforderung skizziert habe, hatten wir vier grundlegende Fragen gewonnen:
1. Die Frage, welche Idee von gelingendem menschlichen Leben und von Frieden unser Handeln orientiert.
2. Die Frage nach der Idee einer gerechten Gesellschaft.
3. Die Frage, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bestimmt werden soll.
4. Die Frage nach dem Menschenbild und nach dem Grund menschlicher Würde.
Im zweiten Teil des Vortrags habe ich versucht, auf der Grundlage biblischer und christlich-sozialethischer Orientierungen eine Antwort auf die letzte Frage zu entwerfen. Dies gibt uns jetzt die Möglichkeit, auch für die ersten drei Fragen Antwortperspektiven zu skizzieren.
Zum Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft:
Im Licht des christlichen Verständnisses vom Menschen und seiner Würde hat sich die Gleichursprünglichkeit von Individualität und sozialer Gebundenheit erschlossen. Diese Auffassung hat eine kritische Bedeutung gegenüber gesellschaftlichen Konzeptionen und politischen Strategien. Dies gilt in zweifacher Hinsicht:
Ein unausgewogenes Verhältnis zwischen Individualität und Sozialität kann einseitig individualistische und liberalistische Politikkonzepten begünstigen und eine minimalistische Deutung der Solidarität ausschließlich als „Hilfe für die Schwachen" fördern. In der Konsequenz ergibt sich eine weitgehende Zurückführung sozialstaatlicher Verpflichtungen und eine absehbare Vertiefung der Kluft zwischen arm und reich. Eine solche Strategie ist mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar. Auf der anderen Seite kann eine Überbetonung der Sozialität zu einer Geringachtung der persönlichen Freiheit und Verantwortungsfähigkeit führen, die Menschen entmündigen und das Subsidiaritätsprinzip unterlaufen. Das ist die Gefahr eines ausufernden Wohlfahrtsstaats, der paternalistisch für die Bürgerinnen und Bürger sorgt und damit zugleich tief in die Freiheitsräume der einzelnen eingreift. Die Fähigkeiten der einzelnen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, vorausschauend vorzusorgen und ihr Leben zu entwerfen, werden unter solchen Voraussetzungen verkümmern. Damit verkümmert aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich für das Ganze der Gesellschaft zu engagieren und die gemeinsame Zukunft als Aufgabe eines jeden wahrzunehmen.
Gegenüber diesen beiden Gefahren betont die katholische Soziallehre: Nicht nur ist Solidarität im Licht der Subsidiarität zu interpretieren, sondern gegen das „unausrottbare Missverständnis [...], die Gemeinschaft dürfe nur dort, wo die Kräfte des einzelnen versagen, behelfsmäßig oder ersatzweise eingreifen", ist darauf zu bestehen, dass „längst vorher [...] die Gemeinschaft Vorleistungen erbringen [muß], durch die sie überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass der einzelne (oder die engere Gemeinschaft) bestehen und irgend etwas unternehmen kann." Dies ist eine sehr bedeutsame Orientierung sowohl für die Zukunft sozialstaatlicher Modelle in unseren Gesellschaften als auch im Bereich der Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit.
Zur Idee einer gerechten Gesellschaft
Die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft findet im Rahmen der katholischen Soziallehre in der Idee der sozialen Gerechtigkeit ihren Ausdruck. Zentral ist der Zusammenhang von gerechter ökonomischer Verteilung und gesellschaftlich-politischer Beteiligung. Daraus ergibt sich als ein Kriterium für eine Politik sozialer Gerechtigkeit, dass Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ein konstruktives Zuordnungsverhältnis gebracht werden müssen. In den meisten Gesellschaften herrscht eine erhebliche Ungleichverteilung der materiellen Ressourcen. Dies macht deutlich, dass es immer noch notwendig ist, auf die Verteilungsgerechtigkeit als einer unaufgebbaren normativen Forderung sozialer Gerechtigkeit hinzuweisen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Einkommensverteilung, sondern auch auf die noch viel weniger ausgeglichene Vermögensverteilung.
Zugleich muss aber auch Beteiligungsgerechtigkeit als eigenständiger Aspekt im Modell sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen werden. Dieser Gedanke bringt zum Ausdruck, „dass die Menschen verpflichtet sind, sich aktiv und produktiv am Leben der Gesellschaft zu beteiligen, und dass es der Gesellschaft obliegt, ihnen die Möglichkeit einer solchen Beteiligung zu schaffen." So hat es der Wirtschaftshirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe formuliert, in dem der Aspekt der Beteiligungsgerechtigkeit besonders deutlich herausgearbeitet worden ist. Das bedeutet: die Forderung der Beteiligungsgerechtigkeit betont die notwendige Wechselbeziehung zwischen der Verantwortung der einzelnen, an der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse und Entscheidungen mitzuwirken, und der Verantwortung des Gemeinwesens, solche Teilnahme in Freiheit zu ermöglichen.
Weiterhin gehört es zur Bestimmung von sozialer Gerechtigkeit und ihrer Reichweite als Prinzip der Gesellschaftsgestaltung, die Rechte und Chancen der nachfolgenden Generationen zu berücksichtigen. Die Rechte und Interessen derer, die in der Zukunft von Entscheidungen betroffen sein werden, welche in der Gegenwart gefällt werden, müssen im aktuellen politischen Prozess anwaltlich vertreten werden. Es wird immer „zu fragen sein, inwieweit die Betroffenen mit am Verhandlungstisch sitzen. Die strukturellen Machtverhältnisse äußern sich nämlich in Beteiligungsrechten".
Soziale Gerechtigkeit zielt auf die Verwirklichung des Gemeinwohls. Das Gemeinwohl verlangt die bestmögliche Verwirklichung jener gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die es allen Gesellschaftsgliedern erlauben, ihre personale Selbstentfaltung gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu verfolgen. Damit stellt sich schließlich als weiteres Kriterium für ein angemessenes Verständnis sozialer Gerechtigkeit die Frage der Adressaten: Gemeinwohlverantwortung ist unbestritten die zentrale Aufgabe des Staates, der daraus nach dem Verständnis christlicher Sozialethik erst seine Legitimationsbasis bezieht. Ebenso ist aber darauf zu insistieren, dass der Anspruch sozialer Gerechtigkeit eben keineswegs ausschließlich den Staat herausfordert, sondern in je eigener Weise zugleich die freien gesellschaftlichen Kräfte wie die einzelnen Bürgerinnen und Bürger des Gemeinwesens in die Pflicht nimmt.
Zur Idee von gelingendem menschlichen Leben und Frieden
Zu einem gelingenden menschlichen Leben gehören also die Möglichkeiten, Grundbedürfnisse zu befriedigen und die menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Das sind Forderungen der Gerechtigkeit. Werden diese Forderungen dauerhaft und schwerwiegend verletzt, so wird die Menschenwürde der Betroffenen missachtet und es tut sich eine Quelle von Unfrieden und Gewalt auf: Wenn die Armen nicht bekommen, was ihnen gerechterweise zusteht an Gütern und an Beteiligungsrechten, werden sie es sich notfalls mit Gewalt holen. Diese Überlegung zeigt: Die Gefährdung des Friedens ist kein Naturereignis, sondern hat immer etwas mit von Menschen geschaffenen Unrechtssituationen zu tun. Unfrieden fängt nicht erst da an, wo Krieg ausbricht. Umgekehrt gilt auch: Frieden ist nicht schon da, wenn die Waffen schweigen. Ein „gerechter Friede" als Zielperspektive, die die katholische Soziallehre gerade in jüngster Zeit sehr deutlich ausformuliert hat, verlangt wesentlich mehr:
Friede zwischen Völkern, zwischen Gruppen und Ethnien kann dauerhaft nicht (allein) mit militärischen Mitteln geschaffen und gesichert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Quellen ausgetrocknet werden, aus denen sich ein Potential der Gewaltbereitschaft nährt. Not und Elend, extreme wirtschaftliche und politische Ungleichheiten, chronische Verletzung bzw. Missachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte von einzelnen, Gruppen und ganzen Völkern, die Zerstörung von Selbstwertgefühl und Identität – alle Situationen und Handlungsweisen, die Menschen tiefgreifend und dauerhaft ihrer elementaren Lebensrechte und der Entfaltung ihrer grundlegenden menschlichen Fähigkeiten berauben – sind selbst Formen der Gewalt und Quellen des Unfriedens, die bekämpft werden müssen, wenn es ein friedliches Zusammenleben und eine lebensfreundliche Zukunft geben soll. Die Sozialverkündigung der Kirche und die christliche Sozialethik betonen deshalb immer wieder, dass Entwicklungspolitik, Bemühungen um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und um eine rechtliche und politische Weltordnung an dem Vorrang der menschlichen Person, an der Achtung der Würde eines jeden einzelnen Menschen, orientieren müssen. Deshalb müssen langfristige Strategien zur Armutsbekämpfung, zur Förderung eigenständiger Entwicklung, zur Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, zur Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte, zur interkulturellen und interreligiösen Verständigung politische Priorität haben. Außerdem muss der Aufbau einer internationalen Gerichtsbarkeit entschieden vorangetrieben werden – als ein Instrument zur Förderung von „Rechtsstaatlichkeit" im weltweiten Maßstab.
Gerade weil die Vorstellungen der Menschen von einem guten Leben verschieden sind, müssen materielle und ideelle Bedingungen für alle gesichert werden, an den Gütern der Erde und an den Aufgaben der Weltgestaltung teilzuhaben. Nur so werden Voraussetzungen geschaffen, damit die Menschen friedlich miteinander leben und Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen erreichen können. Achtung der Freiheit und Forderungen der Gerechtigkeit müssen für jeden Menschen so eingelöst werden, dass wechselseitige Anerkennung als Grundforderung der Menschenwürde keine bloße Formel bleibt. Nur wenn das gelingt, gibt es eine Chance auf Frieden innerhalb einer Gesellschaft und weltweit. Nur dann ist verwirklicht, was zu den Kernsätzen der katholischen Soziallehre gehört, dass nämlich der Mensch Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und sein muss, wie es die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert hat.
Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins