Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Professor Dr. Hans-Jürgen Papier)
Rede von Professor Dr. Hans-Jürgen Papier im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
1. Die drei Dimensionen des Schutzes von Ehe und Familie
"Ehe und Familie" werden bekanntlich durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützt. Unter allen Grundrechten unserer Verfassung ist diese Norm wohl die komplexeste. Das liegt weniger an seinem Umfang von immerhin fünf Absätzen als daran, dass seine Regelungen auf sehr unterschiedliche Art und Weise — die Rechtslehre spricht hier von "Grundrechtsdimensionen" — dem Staat, insbesondere dem Gesetzgeber, Vorgaben für seinen Umgang mit Ehe und Familie machen.
Erstens beinhaltet Art. 6 ein so genanntes klassisches Abwehrgrundrecht. Dieses gewährt jedem Einzelnen die Freiheit, eine Ehe einzugehen und Familie zu gründen und verteidigt diese gegen staatliche Eingriffe. Zum Beispiel würde eine gesetzliche Regelung, die Eheschließungen grundsätzlich einem staatlichem Genehmigungsvorbehalt unterwürfe, oder die Eheschließungen etwa zwischen Angehörigen verschiedener Religionen schlicht verböte, mit dieser abwehrrechtlichen Funktion des Grundrechts kollidieren.
Zweitens umfasst Art. 6 eine Institutsgarantie. Diese schon unter Geltung der Weimarer Verfassung entwickelte Rechtsfigur ist deshalb für den Bereich der Ehe und Familie so wichtig, weil einerseits die Verfassungsnorm dem Gesetzgeber Maßstäbe für seinen Umgang mit Ehe und Familie machen soll, andererseits die Beziehungen zwischen Eheleuten sowie zwischen Eltern und Kindern schon immer rechtlich geregelt waren. Die Wahrnehmung insbesondere des Grundrechts auf Eheschließung hängt mit anderen Worten davon ab, dass der Staat ein Ehe- und Familienrecht zur Verfügung stellt.
Darum ist es dem Gesetzgeber kraft Art. 6 des Grundgesetzes untersagt, die entsprechenden Passagen im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Ehegesetz schlechterdings aufzuheben — obwohl diese selbst nur einfaches Recht sind. Auf der anderen Seite kann dem Staat nicht jede Reform des Eherechts verwehrt sein, denn das hieße, dessen Stand von 1949 in den Rang von Verfassungsrecht zu heben und damit zu zementieren. Dies konnte schon deshalb vom Grundgesetz nicht gewollt sein, weil es die Unvereinbarkeit des damaligen Eherechts mit dem Grundgesetz hinsichtlich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sehr wohl erkannt hatte.
Entscheidend bei der Anwendung von Art. 6 in seiner Funktion als Institutsgarantie ist es also, einen Mittelweg zu finden, der dem Gesetzgeber einerseits die Fortschreibung des Familienrechts und seine Anpassung an geänderte tatsächliche Verhältnisse erlaubt, ihn aber andererseits davon abhält, durch Änderung des einfachen Rechts das Institut der Ehe auszuhöhlen und nur noch eine leere Hülle — etwa den Namen "Ehe" — übrig zu lassen. Geschützt sind also — positiv gewendet — "der Kern der das Familienrecht bildenden Vorschriften insbesondere des bürgerlichen Rechts" und "die bestimmenden Merkmale des Bildes von (Ehe und) Familie, das der Verfassung zugrunde liegt" (vgl. BVerfGE 76, 1<40>; 80, 81 <92>). Freilich wird mit dieser Formel das Problem, den verfassungsfesten Wesensgehalt des Familienrechts zu bestimmen, nur bezeichnet und noch nicht wirklich gelöst. Diese Entscheidung muß letztlich am Einzelfall der zu überprüfenden Regelung erfolgen, wobei sich das Bundesverfassungsgericht bislang mit der Feststellung eines Verstoßes gegen die Institutsgarantie eher zurückgehalten hat. Danach gehört es zu den vom Gesetzgeber zu wahrenden Strukturprinzipien, dass die Ehe als "Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer umfassenden, grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft" (BVerfGE 62, 323 <330> m.w.N.) geschlossen wird. Dem so garantierten Institut entspricht etwa das Grundkonzept der erst 1958 eingeführten Zugewinngemeinschaft (BVerfGE 71, 364 <386>). Auch die Wahl eines gemeinsamen Familiennamens gehört nicht zum Kernbestand des Ehe- und Familienrechts mit der Folge, dass der einfache Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehindert gewesen wäre, von dieser Forderung abzusehen (BVerfGE 78, 38 <49>).
Neben Freiheitsrecht und Institutsgarantie beinhaltet der Schutz von Ehe und Familie — drittens — eine sogenannte "Grundsatznorm", das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts. Dieser etwas schillernde Begriff der "Wertentscheidung" umfasst einerseits die staatliche Aufgabe, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern und vor Beeinträchtigung durch andere Kräfte zu schützen. Andererseits darf der Staat selber Ehe und Familie nicht schädigen oder beeinträchtigen (BVerfGE 6, 55 <76>; 87, 1 <35>, st. Rspr.). In diesem Zusammenhang wird Art. 6 auch ein besonderer Gleichheitssatz entnommen. Er verbietet nämlich in sämtlichen Rechtsgebieten die Benachteiligung von Ehegatten gegenüber Ledigen, von Eltern gegenüber Kinderlosen sowie von ehelichen gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften (zum ganzen BVerfGE 99, 216 <232>).
In jeder der drei Schutzdimensionen — Freiheitsgrundrecht, Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm — werden Ehe und Familie geschützt. Dass sich dies keineswegs von selbst versteht, zeigt ein Blick in die jüngst unter großer öffentlicher Beachtung proklamierte Grundrechte-Charta der Europäischen Union: In Bezug auf Ehe und Familie widmet die Charta den freiheitsrechtlichen Aspekten einerseits und dem "rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz" andererseits zwei getrennte Artikel, was für sich genommen freilich keinen Unterschied darstellt, sondern nur der Mehrdimensionalität von Art. 6 des Grundgesetzes entspricht. Umso deutlicher fällt aber auf, dass sich der besondere staatliche Schutz – anders als die Freiheit – nach dieser Charta nur noch auf die Familie und nicht mehr auf die Ehe bezieht.
2. Familien- contra Eheförderung im Steuerrecht?
Wenn in der aktuellen politischen Diskussion gefordert wird, vor allem den Familien, aber nicht so sehr den kinderlosen Ehepaaren staatliche Förderung zukommen zu lassen, bezieht sich das meist auf das so genannte „Ehegattensplitting", das nach den – gerade derzeit wieder geäußerten – Ansichten entweder abgeschafft, oder gegebenenfalls für sogenannte Besserverdienende erheblich eingeschränkt werden soll. Dabei wird möglicherweise übersehen, dass das Ehegattensplitting seine Wurzeln in einer Benachteiligung von Ehegatten hatte. Die im Einkommensteuergesetz von 1951 vorgesehene Zusammenveranlagung von Ehegatten ohne Anwendung des Splitting-Verfahrens führte aufgrund der steileren progressiven Staffelung des Steuertarifs zu einer erheblichen Mehrbelastung zusammenveranlagter Ehegatten gegenüber Steuerpflichtigen, die nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung veranlagt wurden. Daher hielt der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Regelung für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG und erklärte sie 1957 für nichtig (BVerfGE 6, 55 ff.). Der Steuergesetzgeber führte hierauf in ausdrücklich erklärter Familienförderungsabsicht 1958 das Ehegattensplitting ein, das bis heute besteht. Der „Splitting-Vorteil" sollte nach der Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs auch „eine besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter" sein.
In seinem Urteil aus dem Jahr 1982 erachtete das Bundesverfassungsgericht diesen Zweck ausdrücklich als mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar (BVerfGE 61, 319 <346>). Die besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter ist nach dieser Entscheidung „auch Ausdruck der Gleichwertigkeit der Arbeit von Mann und Frau, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Haus- oder Berufsarbeit handelt". Gerade das Ehegattensplitting ermögliche den Ehegatten in Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 1 GG die freie Entscheidung, ob einer allein ein möglichst hohes Familieneinkommen erwirtschaften und sich deshalb in seinem Beruf vollständig engagieren soll, während der andere Partner den Haushalt führt, oder ob beide Partner sowohl im Haushalt als auch im Beruf tätig sein wollen und entsprechend ihre Berufstätigkeit beschränken.
Aufgrund der mittlerweile eingetretenen Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Bereich von Ehe und Familie wurde und wird der familienpolitische Sinn des Ehegattensplittings angezweifelt. Insbesondere die Tatsache, daß etwa ein Drittel aller Ehen kinderlos bleibt, führe dazu, daß das Ehegattensplitting in seiner Bedeutung als Anerkennung von Eltern- und Mutterschaft schwinde und sich in eine reine Ehesubvention wandle, die besonders hoch ist, wenn ein alleinverdienender Ehepartner mit hohem Einkommen einen nicht verdienenden kinderlosen Ehepartner mitfinanziere. Als Alternative wird eine Erhöhung des Schutzes der Familie entsprechend ihren besonderen Aufgaben vorgeschlagen, die durch die Einführung eines „Familiensplittings" realisiert werden soll. Dadurch soll insbesondere der auch den kinderlosen Ehen zukommende Splittingvorteil verhindert werden. In der jüngeren Vergangenheit angestrebte Änderungen des Ehegattensplittings zielten allerdings nicht in diese verfassungspolitische Richtung, sondern sollten den Splittingvorteil "besserverdienender" Ehegatten - unabhängig von Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern - auf einen Höchstbetrag begrenzen.
Die Frage, ob solche Höchstbegrenzungen des Splittingvorteils mit den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1982 formulierten Vorgaben vereinbar wären, sich also noch im Rahmen der dem Gesetzgeber im Bereich des Ehegattensplittings zukommenden Gestaltungsbefugnis bewegen würden, muss hier offengelassen werden. Hingewiesen sei lediglich auf einen Aspekt, der in diesem Zusammenhang zumindest bedenkenswert erscheint:
Gerade durch den formalisierten Eheschluß wird eine umfassende rechtliche Gemeinschaft mit zahlreichen gegenseitigen Rechten und Pflichten begründet. In wirtschaftlicher Hinsicht ist insbesondere die gegenseitige Unterhaltsverpflichtung von Bedeutung (§§ 1360 ff. BGB), deren Höhe von der Leistungsfähigkeit und dem ehelichen Lebensbedarf bestimmt wird. Bei einem hohen Einkommen bestehen auch entsprechend hohe Unterhaltsansprüche. Das geltende Ehegattensplitting knüpft nicht nur am Regelfall des ehelichen Güterrechts und des Versorgungsausgleichs an, sondern auch am aufgrund der Ehe begründeten gesetzlichen Unterhaltsverhältnis (vgl. BVerfGE 61, 319 <345 f.>). Ob bei im Prinzip unbeschränkt hohen Unterhaltsverpflichtungen die Einführung einer Höchstgrenze des Splittingvorteils ohne eine Verbesserung bzw. Einführung der Abzugsfähigkeit von Unterhaltsleistungen im Rahmen einer bestehenden Ehe noch im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnis liegt, erscheint unter verfassungsrechtlichen Aspekten erörterungsbedürftig.
Demgegenüber steht die Bedeutung, die Art. 6 des Grundgesetzes für die steuerliche Behandlung von Familien mit Kindern besitzt, sowohl in verfassungsrechtlicher wie in politischer Hinsicht außer Streit: Unter Rückgriff auf den in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen speziellen Gleichheitssatz hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst den Ausgleich sozialer Benachteiligungen der Familien im Steuerrecht eingefordert: Es verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn einer Familie mit Kindern anders als einem kinderlosen Ehepaar nicht das Existenzminimum – sämtlicher Familienmitglieder – steuerfrei belassen bleibt (BVerfGE 82, 60 ff.; 82, 198 ff.; 87, 153 ff.). Notwendiger Bestandteil des steuerfreien familiären Existenzminimums ist auch der Bedarf für die Kinderbetreuung, und zwar ohne dass danach unterschieden werden dürfte, ob diese Betreuung von den Eltern persönlich oder von anderen Personen oder Einrichtungen wahrgenommen wird. Denn der Staat muss nach Art. 6 GG die von den Eltern getroffenen Entscheidung für die Art der Kinderbetreuung anerkennen und darf weder den Verzicht auf Erwerbstätigkeit zugunsten von Kinderbetreuung noch das Nebeneinander von Beruf und Familie steuerrechtlich benachteiligen (BVerfGE 99, 216 <234>).
3. Auswirkungen von Art. 6 GG auf das Sozialrecht
Die vorgenannten Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 1992 auf das Rentenversicherungsrecht übertragen (BVerfGE 87, 1 ff.): Auch in diesem Rechtsgebiet bestehen anderweitig nicht vollständig kompensierte Nachteile für Familien mit Kindern. Das wird besonders deutlich bei einem wirtschaftlichen Vergleich eines kinderlosen Doppelverdiener-Ehepaares mit einer Mehrkindfamilie, bei der ein Ehepartner sich für die Kindererziehung aus der Berufstätigkeit zurückgezogen hat. Während schon in der Lebensphase der Erwerbstätigkeit die Familie gegenüber dem Ehepaar finanzielle Nachteile hat, verschärft sich die Situation im Alter noch weiter: Nur die Kinder des einen Ehepaares leisten Rentenversicherungsbeiträge, mit denen die laufenden Renten finanziert werden; gerade deren Eltern erhalten wesentlich weniger Rente als die kinderlosen Eheleute, denen zwei Renten zur Verfügung stehen. Letztlich liegt hier eine Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte vor, weil der Gesetzgeber (ursprünglich) nicht zwischen einem Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit aus Gründen der Kindererziehung, die für die Rentenversicherung bestandssichernde Bedeutung hat, und einer solchen aus anderen Motiven differenziert hat.
Diese Familienbenachteiligung wurde schon durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) von 1985 und das Kindererziehungsleistungs-Gesetz (KLG) von 1987 abgemildert, indem nicht nur die Erwerbstätigkeit und Beitragsleistung rentenrechtlich relevant sind, sondern auch Kindererziehungszeiten sozialleistungssteigernd und sogar -begründend wirkten. Allerdings führten diese Leistungen auch zusammen mit anderen staatlichen Gewährungen (insbes. des Familienlastenausgleichs) nicht zu einem völligen Ausgleich der rentenrechtlichen Nachteile. Das Bundesverfassungsgericht hatte gleichwohl im Jahre 1992 daraus nicht die Verfassungswidrigkeit der Regelungen gefolgert, sondern lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers ausgesprochen, „die Benachteiligung in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen", und dem Gesetzgeber hierfür einen weiten zeitlichen und gestalterischen Spielraum zugewiesen, wobei insbesondere die genannten Gesetze als erste Schritte in die richtige Richtung gebilligt wurden.
In einem der vier am 3. April 2001 verkündeten Pflegeversicherungs-Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 103, 242 ff.) sind die aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Maßstäbe und Anforderungen – unmittelbar für das Sozialversicherungssystem Pflegeversicherung – teils modifiziert und teils verschärft worden. Viele sehen einen verfassungsrechtlichen Paradigmenwechsel. Die Aussagen dieses Urteils lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems.
- Versicherten ohne Kinder erwächst im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten. Dieser Vorteil kinderloser Beitragspflichtiger wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Teil der heutigen Kinder, deren Eltern derzeit versichert sind, in Zukunft vielleicht überhaupt nicht oder nur vorübergehend versicherungspflichtige Beitragszahler sein werden.
- Die Benachteiligung der beitragspflichtigen Versicherten mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern kann der Gesetzgeber so lange vernachlässigen, wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Erziehungsleistungen erbringt. Diese Voraussetzung ist in Deutschland jedoch schon seit längerer Zeit nicht mehr gegeben.
- Die gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen führt nach alledem zu einem erkennbaren Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag, den Kindererziehende in die Versicherung einbringen, und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Hierin liegt eine Benachteiligung von erziehenden Versicherten, die im Beitragsrecht auszugleichen ist.
Der Gesetzgeber besitzt einen großen Spielraum des bei der Ausgestaltung eines Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs.1 GG entsprechenden Beitragsrechts. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber lediglich dazu, beitragspflichtige Versicherte mit einem oder mehreren Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der Bemessung der Beiträge relativ zu entlasten. Das Bundesverfassungsgericht betont aber auch, dass der von Grundgesetz gebotene Ausgleich zwischen erziehenden und nichterziehenden Mitgliedern nicht durch unterschiedliche Leistungen im Falle des Eintritts des Versicherungsfalles bewerkstelligt werden könne, sondern auf der Beitragsseite zu erfolgen habe.
Im Zusammenhang mit der – großzügig bemessenen – Übergangszeit, die dem Gesetzgeber zur Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben eingeräumt wurde (31.12.2004), findet sich dann der viel beachtete Satz, dass die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein werde.
Nicht zuletzt dieser eine Satz hat eine Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst, die vielleicht schon vor Jahren hätte geführt werden müssen, liegen doch die Fakten unbestreitbar seit langem auf dem Tisch. Ich will mich – Sie werden dafür sicherlich Verständnis haben – eigener subjektiver Bewertungen der Auswirkungen der vorerwähnten Entscheidung auf das Rentenversicherungsrecht enthalten. Zweifelsohne ist - untechnisch gesprochen - ein Normprüfungsauftrag an den Gesetzgeber ergangen, soweit es um die Sozialversicherungssysteme außerhalb der unmittelbar tangierten Pflegeversicherung geht. Dem Gesetzgeber ist damit vom Bundesverfassungsgericht eine Rolle zugewiesen worden, die ihm von Verfassungs wegen auch wirklich zusteht, nämlich die eines "Erstinterpreten" der Verfassung.
Auf der anderen Seite wird den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG für das Sozialversicherungsrecht ein höheres Maß an rechtlicher Verbindlichkeit und Stringenz eingeräumt, als dies vielleicht bislang der Fall war. Die genannten verfassungsrechtlichen Verbürgungen werden also nicht mehr nur als ein in die Zukunft weisender und in zeitlicher Hinsicht mehr oder weniger offener Auftrag zu schrittweiser Anpassung verstanden, wobei über einzelne Schritte des Gesetzgebers das gnädige Urteil des "Auf dem richtigen Wege befindlich" ausgebreitet wird. Vielmehr gilt im Fall der Pflegeversicherung mit Ablauf der dem Gesetzgeber eingeräumten Frist zur Korrektur der festgestellten Grundrechtsinkonformität die Rechtsfolge der Normunanwendbarkeit. Darüber, ob das Sozialversicherungsrecht auch in anderen Fällen (außerhalb der Pflegeversicherung) mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar ist, hat - wie gesagt - zunächst der Gesetzgeber selbst unter Heranziehung der im Pflegeversicherungs-Urteil herausgestellten allgemeinen Maßstäbe zu befinden.
Es gab Stimmen, die aufgrund der letztgenannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Gefahr aufkommen sahen, der Staat könne sich zum Promotor oder Kurator von Dingen aufschwingen, die ihn nichts angingen; das Gebären und das Aufziehen von Kindern könnten den Allgemeininteressen dienstbar oder gar untergeordnet werden. Es geht indes um nicht mehr, aber auch um nicht weniger als die Forderung nach Herstellung der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheit, die im Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG eine besondere Wirkkraft entfaltet und die dort korrigierend eingreifen muß, wo gerade die formale Gleichbehandlung zu materialer und deshalb verfassungsrechtlich beanstandungswürdiger Ungleichheit führt.
4. Die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG bei der Anwendung des Familienrechts
Ist man sich für das Steuer- und Sozialrecht des maßgeblichen Einflusses des Art. 6 GG hinreichend bewusst, könnten darüber seine Auswirkungen auf das noch direkter betroffene Familienrecht fast aus dem Blick geraten. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass das Familienrecht – zum Glück – weniger häufig geändert wird. Auch macht etwa im Unterhaltsrecht das Gesetz keine konkreten Zahlenvorgaben, so dass dem Familienrichter ein größerer Entscheidungsrahmen bleibt, innerhalb dessen er auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen hat. Umso mehr Aufmerksamkeit verdienen daher zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen die Anwendung des Unterhaltsrechts durch die Gerichte korrigiert wurde:
Das Urteil vom 6. Februar 2001 (BVerfGE 103, 89 ff.) betrifft die Wirksamkeit von Eheverträgen, mit denen Unterhaltsansprüche abbedungen bzw. aufgeteilt werden sollen. Im Ausgangsfall hatte die damals 26-jährige schwangere Frau ein starkes Interesse daran, noch vor Geburt ihres Kindes dessen Vater zu heiraten. Da dieser eine Ehe vor allem wegen der nachehelicher Unterhaltsverpflichtungen ablehnte, verzichteten beide per Ehevertrag auf jegliche Unterhaltsansprüche. Außerdem übernahm der Mann für den Fall der Scheidung einen Kindesunterhalt von monatlich 150,-- DM. Die Frau verpflichtete sich, den Mann von allen weitergehenden Unterhaltsansprüchen des Kindes freizustellen. Während der sodann geschlossenen Ehe verdiente die Frau deutlich weniger als ihr Mann. Nach Scheidung der Ehe betreute die Mutter das Kind. Dieses verklagte den Vater auf Unterhalt, der wiederum für den über 150 DM pro Monat hinaus gehenden Betrag die Mutter aus dem Ehevertrag in Regress nahm. In letzter Instanz hatte das Oberlandesgericht den Ehevertrag als wirksam beurteilt.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem besagten Urteil sowohl den Anspruch der Mutter "auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft" (Art. 6 Abs. 4 GG) als auch das Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung (Art. 6 Abs. 2 GG) als verletzt angesehen. Ausgangspunkt ist der auch schon früher festgestellte Grundsatz, dass Art. 6 GG in Zusammenschau mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu würdigen ist. "Verfassungsrechtlich geschützt ist deshalb eine Ehe, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen" (BVerfGE 37, 217 <249 ff.>; 103, 89 <101>). Der Staat hat infolgedessen der Freiheit der Ehegatten zum Abschluss von Eheverträgen dort Grenzen zu setzen, wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft ist, sondern eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegelt. Das Zivilgericht hätte Anlass zu einer genaueren Überprüfung des Vertrages insbesondere wegen der besonderen Schwächung der Verhandlungsposition der Frau sehen müssen, die sich vor die Alternative gestellt sah, allein für das Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder um den Preis eines belastenden Ehevertrages den Kindesvater in die Verantwortung einzubeziehen.
Auch die "Verteilung" des Kindesunterhalts zu Lasten der das Kind betreuenden Mutter hätte genauer überprüft werden müssen. Das bislang für die Wirksamkeit solcher Klauseln vorgebrachte Argument, die Freistellung habe rechtlich keine Auswirkungen auf den Unterhaltsanspruch des Kindes, lässt außer Acht, dass dadurch tatsächlich das Einkommen des (hier) betreuenden Elternteils und damit auch der für die Kind zur Verfügung stehende Betrag gemindert wurden. In dieser Konstellation wäre eine genauere Überprüfung angezeigt gewesen, ob der Vertrag wegen Verletzung der Kindeswohlinteressen als nichtig anzusehen war.
Insgesamt lässt sich dem Urteil die Tendenz entnehmen, ehevertragliche Unterhaltsvereinbarungen nicht mehr unkritisch hinzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich in ihnen die stärkerer Verhandlungsposition des einen Ehepartners zulasten anderer Beteiligter verfestigt hat.
Die zweite Entscheidung, auf die ich eingehen möchte, stammt vom 5. Februar diesen Jahres und betrifft eine lange Zeit umstrittene Rechtsprechung zum (gesetzlichen) nachehelichen Unterhalt:
Besteht zwischen geschiedenen Ehegatten ein Unterhaltsanspruch, so sind für dessen Berechnung die ehelichen Lebensverhältnisse maßgeblich. Grundsätzlich steht jedem Ehegatten rund die Hälfte des Einkommens zu, welches die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat. Meinungsverschiedenheiten herrschten über die Frage, wie das Einkommen des Unterhaltsberechtigten zu berücksichtigen ist, wenn dieser erst nach der Scheidung eine Berufstätigkeit (wieder) aufgenommen oder etwa eine Teilzeitarbeit aufgestockt hatte. Die vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffenen Urteile gingen davon aus, dass derartiges Einkommen die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat und deshalb bei der Errechnung des Familieneinkommens nicht zu berücksichtigen ist. Vielmehr wurde es allein auf den nach dem Familieneinkommen errechneten Unterhaltsanspruch bedarfsmindernd angerechnet.
Schon im Juni 2001 hatte der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung allerdings aufgegeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun festgestellt, dass die alte Rechtsprechung gegen Art. 6 GG i.V.m. dem Gleichberechtigungsgrundsatz verstößt. Ausgangspunkt ist auch hier der Schutz der Ehe als Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner. Dem Recht der Ehepartner, frei über die Aufteilung der Erwerbs- und Familienarbeit untereinander zu entscheiden, entspricht es, auch die Leistungen, die sie im Rahmen dieser Entscheidung erbringen, als gleichwertig anzusehen (vgl. BVerfGE 37, 217 <251>; 47, 1 <24>; 53, 257 <296>; 66, 84 <94>; 79, 106 <126>). Haushaltsführung und Kinderbetreuung haben für das gemeinsame Leben der Ehepartner keinen geringeren Wert als Einkünfte, die dem Haushalt zur Verfügung stehen. Gleichermaßen prägen sie die ehelichen Lebensverhältnisse und tragen zum Unterhalt der Familie bei.
Das verkennt die angegriffene Rechtsprechung, weil sie den schon während der Ehezeit erwerbstätigen Ehegatten bevorzugt: Dieser wird durch die Arbeitsaufnahme des anderen einseitig hinsichtlich seiner Unterhaltsverpflichtung entlastet, indem ihm ein höherer Anteil seines Einkommens belassen wird als der, der ihm während der Ehe zur Verfügung gestanden hat. Der Wert der geleisteten Familienarbeit wird dagegen zu Lasten dessen, der sie in der Ehe erbracht hat, missachtet.
Für die Frage, wie die Gleichwertigkeit von geleisteter Familienarbeit und ehelichen Einkünften bei der nachehelichen Unterhaltsbemessung zur Geltung zu bringen sind, hat das Bundesverfassungsgericht auf die – bereits geänderte – Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwiesen, wonach die neue Berufstätigkeit des vorher nicht erwerbstätigen Ehegatten als "Surrogat" der bisher geleisteten Haushaltsführung und Kinderbetreuung anzusehen ist. Hiergegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden. Insgesamt zeigt auch dieses Urteil die große Bedeutung, die innerhalb des Eherechts dem Gleichberechtigungsgedanken und – damit verbunden – der freien Entscheidung der Eheleute über die interne Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zukommt.
Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Behandlung von Ehe und Familie werden damit – sowohl was ihrer Bewertung gegenüber anderen Lebensformen als auch was ihre interne Struktur betrifft – zunehmend zu einem Spezialgebiet des Gleichheitsgrundrechts. Dass Art. 6 GG in dieser Hinsicht wahrscheinlich mehr Wirkung entfaltet als über die Institutsgarantie, sollte kein Anlass für Bedenken sein, zeigt es doch auch, dass der Staat auf die freie Entscheidung seiner Bürger für Familie baut. Entscheidend und daher zu fordern bleibt materielle Gerechtigkeit für Ehe und Familie.
Professor Dr. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts