Die Katholische Kirche und der Holocaust

Stellungnahme des ZdK-Präsidenten zum Buch von Daniel Goldhagen von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort.

Zur grundsätzlichen Klarheit ist es notwendig, zunächst ein kurzes Wort zu drei Themen zu sagen, die in Goldhagens Buch eine große Rolle spielen. Erstens zum Antijudaismus. Das ist jene sich über Jahrhunderte hinziehende kirchliche Tendenz, die Gesamtheit der Juden wegen der maßgeblichen Verantwortung ihrer führenden Repräsentanten an der Hinrichtung Jesu für alle Zeiten als Gottesmörder zu betrachten und entsprechend zu behandeln. Die Christen seien in der heilsgeschichtlichen Beziehung zu Gott als Volk des Neuen Bundes an Stelle der Juden als Volk des Alten Bundes getreten. Diese Auffassung war im Mittelalter und bis zur Neuzeit hin Begründung oder Vorwand für eine Vielzahl von Diskriminierungen und Verfolgungen. Zwar hatte sich die Katholische Kirche seit dem Aufkommen des rassistischen Antisemitismus wiederholt und eindeutig von jeglichem Rassismus distanziert. Die Verbrechen des Holocaust oder – wie der angemessenere Begriff lautet – der Shoa haben die Kirche jedoch zu der Einsicht geführt, dass eine prinzipielle Abgrenzung nicht ausreicht, sondern dass es notwendig ist, mit jeder Art von kirchlichem Antijudaismus zu brechen sowie Mitschuld und Versagen in der Vergangenheit zu bekennen. Dieser Prozess ist noch keineswegs beendet. Daran hat sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken aktiv beteiligt und wird das auch weiterhin tun.

Zweitens zu Pius XII. Trotz großen Respekts vor diesem Papst und seiner unzweideutigen Haltung gegen jeglichen Rassismus und gegen beide totalitäre Ideologien werden auch von Katholiken seine Schwächen keineswegs übersehen. Aus einer stark dem 19. Jahrhundert verhafteten Vorstellung heraus verkannte er die Bedeutung der Gesellschaft, insbesondere einer freiheitlichen Gesellschaft, und setzte primär auf offizielle Beziehungen zwischen kirchlichen und staatlichen Autoritäten. Deshalb überbewertete Pius XII. diplomatische Methoden und rechtliche Instrumente wie ein Konkordat und hoffte auf die Wirkung einer differenzierten und maßvollen Sprache gegenüber ruchlosen Mächten in einer Zeit, in der die klare und prophetische Stimme des Glaubens gegen maßlose Verbrechen notwendig gewesen wäre. Freilich ist dies hinterher leicht gesagt. Vor allem aber ist angesichts der geschichtlichen Tatsachen die Behauptung völlig realitätsfern, dass dadurch die Shoa oder der Krieg mit all den furchtbaren Verbrechen hätte verhindert werden können. Dennoch bleibt unverständlich und inakzeptabel, dass Pius XII. katholische Priester, die als slowakische Staatsfunktionäre unmittelbare politische Verantwortung für die Deportation und die Ermordung von Juden hatten, nicht exkommuniziert hat und dass er der mörderischen Verfolgung von Juden und Serben in Kroatien unter der staatlichen Verantwortung von Katholiken nicht entschiedener entgegengetreten ist. Wahr bleibt dennoch, dass die Katholische Kirche auch in diesen Ländern der Judenverfolgung widersprochen hat.

Drittens waren in der Zeit der Shoa die Kirchen und ihre Glieder, wie sie seitdem wiederholt bekannt haben, zu sehr auf ihren eigenen Schutz bedacht und zu wenig auf den Einsatz für die anderen Bedrohten und Verfolgten, insbesondere für die Juden. Dennoch bleibt wahr, dass, soweit Juden überhaupt geholfen wurde, diese Hilfe überwiegend aus den Kirchen und von Christen kam. Diese Themen sind seit langem Gegenstand innerkirchlicher Klärungsprozesse ebenso wie des seit Jahren intensiv geführten christlich-jüdischen Dialogs. Ihre Anliegen haben jedoch nichts, rein gar nichts, mit dem Ziel des hier vorgestellten Buches zu tun.

Was ist das für ein Buch? Nach Goldhagens eigener Bekundung (13, 42) ist es keine geschichtswissenschaftliche Untersuchung – diesen Anspruch könnte es bei der Art des Umgangs mit Quellen und Belegen auch schwerlich erheben – sondern es nennt sich eine „Untersuchung über Schuld und Sühne". Tatsächlich ist es Anklageplädoyer und Urteilsspruch zugleich, wobei der Ankläger nach dem Vorbild des amerikanischen Parteienprozesses die negativen Punkte herausstreicht und die positiven Punkte bestreitet oder abwertet. Als Textgenre gesehen ist das Buch ein agitatorisches Pamphlet.

Grundlage des Vorgehens ist ein völlig undifferenzierter Begriff des Antisemitismus, der letztlich jedes judenkritische Wort einbezieht und, entgegen der wissenschaftlichen Forschung, eine historische Differenzierung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus prinzipiell ablehnt (54, 94). Statt dessen operiert Goldhagen mit dem Begriff des eliminatorischen Antisemitismus, unter dem er jede Art von Maßnahmen gegen Juden zusammenfasst, also z. B. auch die römische Ablehnung der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert im Zeichen des Widerstandes gegen die Moderne. Bei Goldhagen wird daraus eine Mittäterschaft bei der Shoa konstruiert. Gewiss hat die Tradition des Antijudaismus den rassistischen Antisemitismus praktisch erleichtert oder sogar befördert. Zu einer zutreffenden geschichtlichen Bewertung gehören aber auch die zentralen kirchlichen Dokumente und päpstlichen Ansprachen aus der Zeit vor und nach der Shoa, die Goldhagen verschweigt oder entstellt. Schon 1928 hat das damalige Heilige Offizium unter dem Vorsitz von Pius XI. den Antisemitismus ausdrücklich verurteilt. Kein Wort darüber bei Goldhagen. 1937 erscheint die Enzyklika „Mit brennender Sorge" mit der zentralen Aussage „Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat ... vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge." Nach Goldhagen (110) ist diese Enzyklika antisemitisch. Im Jahre 1938 rief die Päpstliche Studienkongregation alle katholischen Universitäten und Fakultäten zur Bekämpfung der rassistischen Irrlehren auf. Nichts davon bei Goldhagen. Im gleichen Jahr verurteilte Papst Pius XI. in einer Ansprache den „Antisemitismus ... (als) ... abstoßende Bewegung, an der wir Christen keinen Anteil haben können". Und fügte hinzu: „Wir sind im geistlichen Sinne Semiten." Man vergleiche dazu Goldhagen (146), der Pius XI., den Goebbels „einen Judenpapst" nannte, als Antisemiten bezeichnet. Als Hitler vielen noch auf dem Höhepunkt seiner Macht schien, betonte Pius XII. in seiner Weihnachtsansprache von 1942 die Verantwortung der Christen für jene Nichtchristen, die ohne persönliche Schuld und nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder ihrer Abstammung „dem Tode geweiht oder fortschreitender Verelendung preisgegeben sind". Man mag dies im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert eine schwächliche Erklärung nennen. Damals waren sich jedoch die englischsprachige Presse und das Reichsicherheitshauptamt darin einig, dass dies eindeutig gegen Hitler-Deutschland und die Judenverfolgung gerichtet war. Wie zu erwarten, gilt Pius XII. der besondere Angriff des Autors. Dass dieser Antisemit sei, nimmt er schon deshalb an, weil Pacelli Katholik ist (66). Auch dass er ein Freund der Deutschen war, macht ihn verdächtig (60). Als eigentliches Beweisstück wird aber als angebliche Neuheit ein Brief Pacellis aus dessen Zeit als Nuntius in München, genauer gesagt, während der kommunistischen Phase der dortigen Räterepublik präsentiert. Tatsächlich handelt sich ganz offensichtlich um einen Bericht seines Nuntiaturrates Schioppa über dessen rüde Behandlung durch die neuen Machthaber. Pacelli hat diesen Bericht dann sehr wahrscheinlich nur unterzeichnet. Eine vergröbernde Übersetzung aus dem Italienischen nutzt Goldhagen dazu, Pacelli auf eine Stufe mit Julius Streicher zu stellen (64), der bekanntlich in widerlicher Weise gleichermaßen „gegen Juden und Pfaffen" hetzte. Hätte sich Goldhagen mit dem Nuntiaturbericht als Zeitdokument auseinandergesetzt, dann wüsste er, dass die Beschreibung im Original durchaus dem nahe kommt, was Ernst Niekisch und Ernst Toller, führende Personen der (1.) anarchistisch-linkssozialistischen Phase der Münchner Räterepublik über ihre Nachfolger schreiben. Viel wichtiger wäre es, sich eingehend und ernsthaft mit dem Argument auseinander zu setzen, ein entschiedenes Auftreten von Papst Pius XII. für die Juden hätten diesen nicht genutzt, sondern geschadet. Auch wer den Standpunkt vertritt, der Papst hätte ungeachtet der Realität aus zwingenden ethischen Gründen anders handeln müssen als er es getan hat, muss dieses Argument ernst nehmen. Es gibt bekanntlich das Beispiel der niederländischen Bischöfe. Diese hatten schon 1936 den Anhängern des Nationalsozialismus mit Exkommunikation gedroht. Am 26. Juli 1942 protestierten sie in einem Hirtenbrief gegen die Deportation aller (!) Juden und gegen die Verschleppung der Zwangsarbeiter, obwohl ihnen zugesagt worden war, falls der Hirtenbrief nicht verlesen würde, die katholisch getauften Juden zurückzustellen. Diese wurden nun am 27. Juli ebenfalls deportiert und zwei Wochen später in Auschwitz vergast. Und wie geht Goldhagen mit dieser gut belegten, aber nicht in seine Konstruktion hineinpassenden Tatsache um. Er bestreitet sie einfach. (69) Denn sie gefährdet seine Kernthese: Die Kirche hätte die Ermordung der Juden verhindern können. Und da sie die Shoa nicht verhindert hat, - so seine Logik - wollte sie diese auch nicht verhindern (44, 126). Leider ist dies kein Einzelbeispiel für den Umgang Goldhagens mit der geschichtlichen Wahrheit. Und ich bedaure sehr, dies hier nicht im Einzelnen darstellen zu können. Was immer von der Kirche oder von Christen für Juden getan wurde, sind nur Einzelfälle, die sein Gesamtbild nicht beeinträchtigen können, und überdies wird deren Handeln als unzulänglich dargestellt und ihre Beweggründe in den Schmutz gezogen. Selbst über den wegen seines Einsatzes für die Juden im KZ umgekommenen Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg redet er in herabsetzender Weise. Aber Goldhagen geht es ja auch nicht um die Wahrheit, sondern er fordert allen Ernstes, dass die Katholische Kirche, der, wie er ausdrücklich sagt (78-80) sein Hauptangriff gilt, auf ihre Glaubensbotschaft verzichtet und nicht mehr länger verkündet, was ihr nach ihrer festen Überzeugung als Wahrheit aufgetragen ist. (314 u.a.). So verlangt er, 450 Verse der Evangelien oder der Apostelgeschichte zu streichen, mit der absurden Begründung, wörtlich: „Antisemitismus – die Behauptung, die Juden hätten Jesus getötet oder seien Schuld an seinem Tod – ist verleumderisch." Oder S. 329 „Je stärker Christen sich am christlichen Glauben, Katholiken sich am Katholizismus orientieren, je stärker der Katholizismus ihr Weltbild prägt, desto eher neigen sie dazu, feindselige Gefühle gegenüber Juden zu empfinden oder sich von Juden bedroht zu fühlen." Goldhagen will nicht weniger, als dass die Kirche die Geschichte der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und seinen Tod umschreibt und sich damit selbst aufgibt. Denn, so Goldhagens zweite Kernthese, wer immer etwas zum Nachteil der Juden gesagt hat, ist schuld an der Shoa.

Der Maßlosigkeit der Forderungen Goldhagens entspricht die Maßlosigkeit seiner Sprache und seiner Vorgehensweise. Er setzt sich mit keiner Quelle und mit keinem Beleg sachlich auseinander. Er reißt Texte auseinander, um ihren Sinn umzudrehen. Seine Redeweise ist ständig beschuldigend und verdächtigend. Seine Fragen enthalten bereits seine Antworten. Er scheut selbst vor den ungeheuerlichsten Unterstellungen nicht zurück. Wie in der Agitation üblich, greift er das gleiche Thema ständig wieder auf und steigert dabei seine Vorwürfe. Dieses Buch ist zutiefst unredlich und daher nicht einmal als Streitschrift akzeptabel. Daher ist es weder ein Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog, noch ein ernstzunehmender Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung.




(Gehalten im Renaissance-Theater, Berlin, bei einer Veranstaltung des Siedler Verlages am Sonntag, dem 13. Oktober 2002)

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des ZdK

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