Der Rio + 10-Prozess muss ein Johannesburg + 10-Prozess werden

Rede von Christa Nickels, Sprecherin des Sachbereichs, im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort.

1. Bilanz Johannesburg

Die Debatte über nachhaltige Entwicklung begann bereits vor 30 Jahren. In Stockholm fand 1972 die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen statt. Der Bericht des Club of Rome beschrieb zum ersten Mal die Grenzen des Wachstums. Obwohl umweltpolitische Fragen seitdem an Bedeutung gewonnen haben, bestimmen die Themen Umwelt und Entwicklung aber erst seit der Veröffentlichung des Berichts der Brundtland-Kommission 1987 die internationale Agenda. Seitdem wird unter nachhaltiger Entwicklung eine Entwicklung verstanden, die "den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen".
Zehn Jahre nach Rio ist das Wissen um die Notwendigkeit einer Umkehr in unserem Umgang mit natürlichen Ressourcen und den Lebensgrundlagen der Menschheit in der Gesellschaft breit verankert. Die ökologischen Visionen sind Allgemeingut geworden und wurden durch die Flutkatastrophe kurz vor dem Beginn des Weltgipfels nochmals mit Nachdruck ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht. Vielerorts haben sich in den letzten Jahren lokale Aktionen im Rahmen der Agenda 21 etabliert; gerade auch in vielen Kirchengemeinden. Unter dem Motto "Global denken, lokal handeln" setzen sie Nachhaltigkeit in ihrer Lebensumwelt um. Auf Bundesebene ist im April 2002 endlich - fast zehn Jahre nach Rio - eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen worden.
Insofern waren die Erwartungen an den Nachhaltigkeits-Gipfel groß, und es gibt auch einige bemerkenswerte Ergebnisse. So wurde endlich ein konkretes Zeitziel zur sanitären Grundversorgung sowie zur Trinkwasserversorgung vereinbart: Bis zum Jahr 2015 soll weltweit der Anteil der Menschen, die keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung haben, halbiert werden – wie auch der Anteil der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wichtig ist auch, dass vereinbart wurde, den Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2010 deutlich zu reduzieren und bis 2020 die gesundheits- und umweltschädlichen Auswirkungen der Produktion und des Einsatzes von Chemikalien zu minimieren. Allerdings konnte sich Deutschland mit seiner Forderung nach einem Abbau der Agrarsubventionen nicht durchsetzen. Das ist umso bedauerlicher, als der freie Marktzugang die Entwicklungschancen der ärmsten Länder dieser Erde in einem Maße erhöhen würde, das dasjenige der Entwicklungshilfe bei weitem übersteigt.
Leider haben die USA sich in Johannesburg immer wieder als globale Bremser betätigt; vor allem, was die Festlegung verbindlicher Zeitpläne und –ziele anging. So ist auch der Vorstoß der EU, ein konkretes Ziel und einen festen Zeitrahmen für die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien weltweit festzulegen, am Widerstand der USA und der OPEC-Staaten gescheitert. Umso wichtiger ist es daher, jetzt im Nachgang des Gipfels Nachhaltigkeits-Allianzen auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zu schmieden.
Ansätze dazu gibt es: So begrüße ich ausdrücklich die Initiative der EU, gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten im Rahmen der Selbstverpflichtung den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen, sowie die Ankündigung Deutschlands, eine internationale Konferenz zum Thema zu veranstalten und in den nächsten fünf Jahren 500 Millionen Euro für die Nutzung erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern zur Verfügung zu stellen. Auch der Einsatz für einen “Verhaltenskodex zum Recht auf Nahrung” treibt die Armutsbekämpfung und Entwicklung weltweit ein Stück voran.
Entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung ist eine gerechte Globalisierung. In den 90er Jahren hat jedoch eine einseitig geführte Globalisierungsdebatte das politische Geschehen immer mehr dominiert und den Diskurs um Nachhaltigkeit überlagert. Umweltschutz galt bis Johannesburg als Wettbewerbshindernis und Nord-Süd-Ausgleich als Thema für Idealisten. In Johannesburg ist es aber gelungen, die beiden Debatten miteinander zu verknüpfen. Die drei Säulen der Nachhaltigkeit - ökologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung - sollen in einer globalen Nachhaltigkeitsstrategie ausbalanciert werden. Das ist der eigentliche Erfolg von Johannesburg. Die EU und Deutschland müssen innerhalb ihrer eigenen Grenzen ebenso wie weltweit eine Vorreiterrolle in einer nachhaltigen Entwicklung einnehmen, die zugleich einer gerechten Globalisierung dient. Eine Schlüsselrolle wird dabei die Landwirtschaftspolitik spielen.

2. Landwirtschaft als Schlüsselfaktor für eine weltweit nachhaltige Entwicklung

Der Produktions- und Lebensstil der reichen Länder des Nordens ist nicht übertragbar auf andere Länder der Erde, ohne das globale Ökosystem massiv in Gefahr zu bringen. Wir haben uns zu sehr an eine Lebensweise gewöhnt, die zu Lasten der Natur und häufig genug auch zu unseren eigenen Lasten geht. Gerechte Globalisierung bedeutet daher zweierlei: Wir müssen zum einen in den reichen Ländern die Umkehr zur Nachhaltigkeit einleiten und unseren Lebensstil ändern und gleichzeitig dafür sorgen, dass der Süden umweltschädliche und lebensbedrohliche Fehler des Nordens nicht wiederholt. Denn unser konsumorientierter Lebensstil ist weder nachhaltig noch globalisierbar. Diese Einsicht war eine der spektakulärsten Eingeständnisse des Nordens bereits in Rio; nach Johannesburg muss endlich eine koordinierte Gesamtstrategie folgen.

Der Landwirtschaft kommt eine zentrale Rolle bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung zu. Sie ist als Urproduktion direkt an die natürlichen Bedingungen Klima und Boden gebunden. Aufgrund der engen Beziehung zwischen der Landwirtschaft und den natürlichen Ressourcen Boden und Wasser trägt die Art und Weise der Landbewirtschaftung wesentlich dazu bei ab, ob die natürlichen Ressourcen Boden und Wasser nachhaltig genutzt werden oder nicht. Nachhaltig betriebene Landwirtschaft ist auch der Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und Armut. Darüber hinaus kann sie Vorbildcharakter für alle übrigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse haben.
Für eine zukunftsfähige Entwicklung ist sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaft ein Schlüsselfaktor bei der Armutsbekämpfung, beim Tierschutz sowie beim Boden- und Wasserschutz. So sind etwa 70 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs auf die Landwirtschaft zurückzuführen. Die Krise, in der sich die Landwirtschaft seit Jahren befindet, muss endlich als Chance zu einer nachhaltig umgestalteten Landwirtschaft weltweit genutzt werden. Dazu gehört, dass der Weltbevölkerung der Zugang zu landwirtschaftlichen Produkten zu angemessenen Preisen möglich ist, dass den in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten eine angemessene wirtschaftliche und soziale Absicherung gewährt wird und eine umweltschonende Ressourcenbewirtschaftung die Ernährungssicherung zukünftiger Generationen ermöglicht. Allein im Agrarbereich werden weltweit bisher siebenfach höhere Subventionen vergeben, als Mittel für die gesamte Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt werden. Die entwickelten Länder überschwemmen die Märkte in den Entwicklungsländern mit ihrer durch Exportsubventionen geförderten Überproduktion an Nahrungsmitteln. Damit nehmen sie den Bauern in den Entwicklungsländern nicht nur den Anreiz zur eigenen Nahrungsmittelproduktion, sondern drücken auch den Weltmarktpreis und erzwingen so wiederum staatliche Subventionen für die Landwirte hierzulande. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden. Ziel muss eine multifunktionale Landwirtschaft sein, die zusätzlich zur Nahrungsmittelerzeugung neue Einkommensquellen für unsere Landwirte erschließt. Wir haben in unserer Arbeitsgruppe "Rio+10 - Bilanz und Ausblick" Leitthesen entwickelt, die die Schlüsselrolle der Landwirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung begründen und Folgerungen für unser gesellschaftspolitisches Handeln ziehen. Ich freue mich, dass wir im Verlauf dieser Vollversammlung Gelegenheit haben, über diese Leitthesen zu diskutieren. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund dafür, warum wir Ihnen vorschlagen, uns gerade auf die Landwirtschaft zu konzentrieren: Gerade hier können Zivilgesellschaft und Kirchen als Verbraucher zu mächtigen Akteuren werden. Wenn wir anders einkaufen, anders kochen, anders konsumieren, verändern wir den Lebensstil hierzulande und steuern durch unser Kaufverhalten die Entwicklung unserer Landwirtschaft, ohne den Bauern dabei die Existenzgrundlage zu nehmen. Im Gegenteil: die aus globaler Sicht so nötige Agrarwende kann auch Bauern hierzulande nachhaltig ihre Existenzgrundlage
sichern.

3. Für einen Johannesburg + 10-Prozess

Auch die Christinnen und Christen sind jetzt gefordert: So dürfen es unsere beiden großen christlichen Kirchen mit ihren rund 30 000 Gemeinden und als zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland nicht bei klugen Analysen und bloßen Forderungen bewenden lassen. Sie sollten alle ihre Ressourcen und ihr Personal nutzen, um selbst zum Reformmotor und zum Beispiel für einen “Johannesburg + 10”-Prozess zu werden, und diese Umkehr so organisieren, dass sie gesamtgesellschaftlich relevant wird. Auch auf EU-Ebene sind die Kirchen gefordert. Die katholische Kirche ist nicht umsonst Weltkirche. Alle Katholikinnen und Katholiken müssen instand versetzt und befähigt werden, ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung zu leisten.

Christa Nickels, Sprecherin des Sachbereichs

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