40 Jahre Zweites Vaticanum

Statement von Heinz Wilhelm Brockmann, Vizepräsident des ZdK, vor dem Hauptausschuss des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

50 Jahre, so hat Hubert Jedin gesagt, braucht ein Konzil, um sich in der Kirche durchzusetzen. 50 Jahre sind ein Durchschnittswert, der sich auf frühere Erfahrungen der Kirche mit ihren Konzilien stützt. Teil dieser Erfahrung ist aber auch, dass es nach einem Konzil regelmäßig erheblichen Widerstand in der Kirche gegen seine Beschlüsse und seinen Geist gab, dass immer auch eine Gegenbegegung einsetzt, die die Beschlüsse und Wirkungen eines Konzils rückgängig zu machen versucht.

Das war bei den ersten christologischen Konzilien nicht anders als etwas nach Trient oder dem Ersten Vaticanum. Nach dem ersten Konzil von Nicäa, das den Arianismus überwinden wollte, setzte der Streit um die richtige Formel des Glaubens erst richtig ein. Und die Mittel der Auseinandersetzung waren damals nicht anders als heute: Intrigen am Kaiserhof, gezielte Strategien zur Besetzung von Bischofssitzen, damals sogar offene Prügeleien um die christologische Formel auf den Märkten der großen Städte. Erst 60 Jahre später, als ein neues Konzil die Formel von Nicäa bekräftigte, trat ganz allmählich Frieden ein.

Wenn wir zur Zeit in einer Gegebewegung gegen das Zweite Vaticanum stecken, so ist das nach geschichtlicher Erfahrung nichts Ungewöhnliches. Und es ist auch nicht ungewöhnlich, dass diese Gegenbewegung auch von der Spitze der Kirche kommt, dass von dort rückgängig gemacht werden soll, was das Konzil beschlossen hat. Doch bisher hat die Kirche nach solchen Zwischenzeiten immer zurückgefunden zum Geist eines großen und prägenden Konzils. Diese historische Erfahrung muss uns in Bezug auf das Zweite Vaticanum nicht beruhigen, sie kann uns aber vor Resignation bewahren.

Das Zweite Vaticanum war, und darin besteht Einigkeit in der Kirche, ein sensationelles geistliches Großereignis der Kirchengeschichte. Franz Xaver Kaufmann hat es aus soziologischer Sicht als ein „äußerst unwahrscheinliches Phänomen" bezeichnet, „dass ausgerechnet die in ihrer eigenen Traditionalität anscheinend erstarrende katholische Kirche in einem dreijährigen, den Episkopat und die Theologen der ganzen Welt in Anspruch nehmenden Kommunikationsprozess zu einer grundlegenden Reformulierung ihres eigenen Selbstverständnisses gelangte".

Das Konzil hat die Kirche, die Theologie und das Verhältnis der Kirche zu anderen Konfessionen, Religionen sowie zu der ganzen sie umgebenden Welt grundlegend verändert. Darüber hinaus hat es große Wirkungen in den folgenden Jahren entfaltet. Nur einige Beispiele: Der Prozess der Veränderung hat die Kirche ganz Lateinamerikas erfasst und sie in Medellin 1968 und dann in Puebla 1979 zu einer grundlegend neuen Ausrichtung ihres pastoralen Engagements veranlaßt. Die Synoden in Deutschland waren Früchte des Konzils. Schließlich sind bedeutende theologische Neuansätze, in Südamerika, in Asien und in Afrika ohne das Konzil nicht denkbar.

Doch auch die Gegenbewegung gegen das Konzil ist deutlich feststellbar. Obwohl Papst Paul VI gerade diese Reformen des Konzils im innerkirchlichen Bereich engagiert umzusetzen versucht hat, haben eine Reform der Kurie und die Etablierung einer Bischofssynode, die Einfluss besitzt, nicht gegriffen. Fragen, die das Konzil auf Druck des Papstes nicht behandeln durfte, etwa das Thema Empfängnisverhütung und der Zölibat der Priester, sind vom Papst selbst auf enttäuschend traditionelle Weise entschieden worden. Der große Wurf der Liturgiereform wurde scheibchenweise verkürzt. Die Freiheit der Theologie wird durch Rom mit Gesinnungsschnüffelei bei der Erteilung des nihil obstat ersetzt, was in Deutschland schon staats-kirchen-rechtliche Regelungen arg strapaziert. Die Kollegialität der Bischöfe wird durch Zentralisation immer wieder unterlaufen, nicht zuletzt durch das neue Kirchenrecht. Die Stellung der Laien in der Kirche ist weit weg von jeder „wahren Gleichheit", die das Konzil wollte, sondern systematisch wieder hinentwickelt zu Bellarmins Formel „unter Leitung der rechtmäßigen Hirten". Der Ökumenische Dialog wird systematisch belastet, so dass der Schwung und Geist von Augustin Bea inzwischen wie ein Traum aus längst vergangenen Zeiten anmutet. Die Liste ist leicht verlängerbar.

Es rächte sich, dass das Konzil immer wieder bereit war, Kompromisse mit einer kleinen Minderheit von rund 300 bis 500 der 2700 Konzilsväter zu suchen. Darum gibt es, und das ist in allen innerkirchlichen Konflikten besonders bitter, keine absolut eindeutigen Konzilsbeschlüsse, die so klar wären, dass solches und anderes Handeln in Rom und anderswo eindeutig als Verstoß gegen bestimmte Konzilsbeschlüsse nachweisbar wären. Der Zweideutigkeiten sind eben zu viele, oder wie Max Sekler schon 1980 typisch katholisch festgestellt hat: In den Konzilstexten herrscht ein „kontradiktorischer Pluralismus".

Dennoch. Die genannten und anderen deutlich restaurativen Entwicklungen der Kirche können nicht als mit der Gesamtheit der Konzilsbeschlüsse vereinbar deklariert werden. Zwar ist richtig, dass viele Textstellen sehr verschieden ausgelegt werden können. Aber es ist auch richtig, dass es einen eindeutigen Geist des Konzils gibt, eine klare Richtung der Beschlüsse, dass aus Vorgeschichte, Ablauf des Konzils, dem Streit und der Zürückweisung bestimmter Vorlagen und Texte und nicht zuletzt aus den Reden der beiden Päpste des Konzils ein eindeutiger Wille der übergroßen Mehrheit des Konzils zusammen mit dem Papst feststellbar ist, der die klare und einzige Auslegungsregel sein muss. Unter dieser Perspektive scheint mir, gibt es einige ganz wichtige und klare Richtungsangaben von bleibendem großen Wert:

1. Die katholische Kirche ist von jetzt an wirklich eine Weltkirche. Eurozentrische und nordamerikanische Denkweisen sind nur ein Teil in ihr. Dieses Gewicht der Weltkirche gibt anderen Kontinenten, deren Menschen und Theologien, deren Gesellschaften und Nöten gleiches Gewicht. Schon das verlangt eine subsidiäre Organisationsform der Kirche, regionale Kirchenleitungen mit Selbständigem Gewicht, Eigenständigkeit und kollegiale Strukturen, wie das Konzil es wollte. Wenn Rom dies derzeit mit letzter Kraft verhindert, auch um den Preis der Demütigung ganzer Bischofskonferenzen und theologischen Schulen, dann dürfte dieser praktizierte kirchliche Zentralismus sich damit vor allem endgültig selbst beschädigen.

2. Das Selbstverständnis der Kirche als gemeinsames Volk Gottes, aus dem eine „wahre Gleichheit" von Priestern und Laien und das Verständnis der Leitungämter als Dienstämter folgt, die Vorstellung, dass die Kirche auf dem gemeinsamen Priestertum und dem gemeinsamen prophetischen Amt aller Getauften aufgebaut ist und darum die Kirche nicht zwischen Lehrende und Hörende aufgeteilt werden kann, das ist der Grundgedanke der Kirchenkonstitution. Dies kann man nicht zurücknehmen, nur behindern. Sich dieser Grundlagen zu erinnern, ist die einzige Chance, einen fruchtlosen reinen Machtkampf zwischen den immer weniger werdenden Priestern und den Laien zu vermeiden, der sich derzeit um fast alle wichtigen Fragen in der Kirche andeutet.

3. Dass die Kirche grundsätzlich Zeichen der Einheit der Menschen mit Gott ist, dass dies einen ständigen Dialog mit der Welt verlangt, in der sie lebt, und dass in diesem Dialog die Kirche von der Welt aufnimmt, nicht als societas perfecta von ihr getrennt und gegen sie gestellt ist, sondern Partner aller Freuden, Ängste und Hoffnungen der Menschen, das ist heute den Christen selbstverständlich. Hieraus wird über kurz oder länger auch die Konsequenz folgen, die das Konzil nicht ausdrücklich formuliert hat: Die Kirche lernt aus allen Zeiten, in denen sie lebt, und sie kann sich nicht auf Dauer weigern, vom Jahrhundert der Demokratie zu lernen, dass die Formen der Entscheidungsfindung auch bei ihr am besten auf demokratischem Wege und durch die gleichberechtigte Mitwirkung aller erfolgt.

Dieses Kirchenbild verlangt auch die Bereitschaft zu selbstlosem Dienst an den Menschen, die uns brauchen. Wie selbstlos wir zu sein bereit sind, können wir z. B. erproben, wenn es darum geht, heutigen Menschen zu helfen, die große Erschütterungen ihres Lebens, Trauer oder Freunde nicht ausdrücken und bewältigen können und tastend auch nach religiösen Formen dabei suchen, nach Räumen in Kirchen, nach Symbolen und Sprache. Wenn wir bereit sind, ihnen mit allen unseren Erfahrungen und auch unserem Besitz zu helfen, ganz ohne die Bedingung, dass wir dabei Geschäfte machen, unsere Kirchen wieder füllen und unsere Gemeinden verjüngen, dann und nur dann folgen wir diesem Geist des Konzils.

4. Im Verhältnis zur säkularen Welt und zu ihren Menschen hat das Konzil grundsätzlich auf jede Form vom Machtausübung in Sachen Religion verzichtet. Es hat von der Würde des irrigen Gewissens gesprochen und davon, dass die Freiheit des Gewissens nicht eingeschränkt werden darf im Namen einer Wahrheit oder dessen, was man für das Gute hält. Das war damals eine Revolution in der Theologie, für die weiterhin einzutreten uns gut ansteht, wenn wir mit den orthodoxen Kirchen sprechen oder manchen Vertretern des Islam. Aber auch in unserer Kirche muss etwa die Freiheit einer Frau gelten, über die Zukunft des Kindes in ihrem Leib letztlich selbst zu entscheiden.

Dies sind natürlich nur einige, subjektiv ausgewählte Punkte eines, wie ich meine irreversiblen Fortschritts, den wir dem Konzil verdanken. Das Konzil hat nicht nur historischen Schutt weggeräumt und eine schlimme Erstarrung der Kirche beseitigt, es hat auch insgesamt klar und visionär der Kirche einen Weg in die moderne Zeit gewiesen, die m.E. nicht mehr revidierbar ist. Es hat aber vor allem das Bild einer Kirche gezeichnet, die von grundsätzlicher Offenheit für ihre Zeit, von Dialogbereitschaft und dem Willen geprägt ist, sich immer neuen Sorgen und Anfragen der Menschen zu stellen, deren ständige Reformbereitschaft also zu ihrem Wesen gehört. Wenn wir heute ganz andere Fragen diskutieren als das Konzil es tat, dann ist damit das Konzil nicht überholt, es muss nur in seinem Geist weiterentwickelt werden.

Heinz Wilhelm Brockmann, Vizepräsident des ZdK

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