Statement zur Initiative "Beteiligung schafft Gerechtigkeit"
von Bischof Homeyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Bevor ich zu meinen Ausführungen zur Initiative „Beteiligung schafft Gerechtigkeit" komme, möchte ich diese in eine Perspektive stellen: „Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein wie bisher" – so hat man immer wieder gehört. Die Realität dieses Wortes breitet sich derzeit mit großer Durchschlagkraft aus. Es durchdringt Mentalitäten und politische Selbstverständlichkeiten – denken Sie an das neue Verhältnis zwischen USA und Russland (es gibt Kommentatoren, die behaupten, dass erst mit den Ereignissen des 11. Septembers und der Reaktion Russlands an der Seite Amerikas die bipolare Welt des 20. Jahrhunderts ein wirkliches Ende gefunden habe) oder an das (hoffentlich) neue Verhältnis zwischen den USA und der UNO.
Der 11. September befragt allerdings auch die ethischen Gehalte der Globalisierung und eine europäische Identität in diesem Prozess und setzt die Grundlagen unserer kulturellen Verständigung neu auf die Agenda. Jürgen Habermas hat in seiner Frankfurter Friedenspreis-Rede die Notwendigkeit des kulturellen Dialogs zwischen Glauben und Wissen, Religion und Moderne mit aller wünschenswerten Deutlichkeit eingefordert. Sowohl auf globaler Ebene – denken Sie an die in Katar abgesprochene neue WTO-Runde, in der erstmals die wirkliche Chance besteht, dass auch die armen Länder ihre Interessen in der internationalen Arbeitsteilung deutlicher zur Geltung bringen können – als auch auf europäischer und nationaler Ebene geht es allerdings nicht nur um Fragen kultureller Verständigung, sondern ebenso auch um sozialethische Justierung. Das Thema sind nicht nur kognitive Dissonanzen, sondern eben auch normative Brüche. Das bringt uns als Kirche auch in die Pflicht, unsere anwaltschaftliche Mitverantwortung für unser Ordnungsmodell „Soziale Marktwirtschaft" sozialethisch zu formulieren und politisch zu formieren: Mit Bezug auf die nationale Ebene, aber auch in der Perspektive Europas und der einen Welt.
Die gesellschaftlichen Erwartungen sind, so glaube ich nach einer Reihe von Gesprächen, nach dem 11. September an ein solches Projekt wie „Beteiligung schafft Gerechtigkeit" deutlich gestiegen.
Die nähere sozialpolitische Gefechtslage ist nicht sehr ermutigend: Die Rentenreform war nicht durchschlagend, die Gesundheits- und Bildungsreform sind erst überhaupt nicht angegangen worden und auf dem Arbeitsmarkt folgt nach vielen strukturverengenden Entscheidungen und einer zugegebenermaßen weltwirtschaftlich problematischen Konjunkturlage eine neu zugespitzte Lage – vor allem für die Problemgruppen. Vor allem ist ordnungspolitisch-normativ nicht recht klar, wohin die Reise gehen soll. Schon heute ist spürbar, dass ein kleinschrittiger Pragmatismus der vergangenen Jahre auch vor dem Hintergrund der sozialökonomischen, aber auch soziokulturellen Herausforderungslagen den tatsächlichen Herausforderungen nicht genügen kann.
Vielmehr gibt es nun ein Gespür dafür, dass politische Verantwortung neu in einen Horizont humaner Grundüberzeugungen gestellt werden muss. Hierzu bedarf es einer Vergewisserung und Verständigung der uns tragenden ethischen Normen, letztlich natürlich des in diesen Grundüberzeugungen wirksamen Menschenbildes.
Es geht dabei auch um eine kritische Befragung der allzu optimistischen Sicht der Globalisierung und kulturell um die Überprüfung der geradezu himmelstürmenden Sicht der Moderne auf sich selbst. Der 11. September hat noch einmal die moderne (hegelianische) Gleichsetzung Prozess = Progress auf dramatische und tragische Weise widerlegt. Angesichts der Opfer verbietet es sich von einer List der Vernunft zu sprechen.
Vielmehr kommen jetzt die neu ins Spiel, denen in hohem Maße ein Sensorium für die Verletzlichkeit des Menschen zugetraut wird: die Kirchen hierzulande, die Religionen weltweit! Jene Glaubensüberzeugungen also, deren Rede von „dem Menschen" sich konstitutiv am Anderen, am Verlierer, am Zukurzgekommenen ausweisen und bewähren muss: An denen, denen Individualität durch strukturell verstellte Beteiligungschancen zur anthropologischen Worthülse geworden ist; an denen, denen Sozialität durch den Riss von Insidern und Outsidern nichts mehr anbietet. Unser Menschenbild, also die Unantastbarkeit menschlicher Würde universaler Geschöpflichkeit, muss von den Verlierern her neu buchstabiert werden.
Noch einmal: Damit sind die Kirchen aufgerufen. Und dabei handelt es sich keineswegs nur um irgendein Mitdebattieren nach dem 11. September in den Feuilletons, sondern es handelt sich um den Kern unserer Spiritualität: Die Gesellschaft muss sich auf Christen in ihrer anwaltschaftlichen und einmischenden Sozialethik und Praxis verlassen dürfen. Sofern wir glauben, stehen wir in der Pflicht gegenüber der Gesellschaft, durchaus auch in der Pflicht zur Kritik übrigens.
Daran meine ich erinnern zu sollen, um die Initiative in die richtige Grundachse des Verstehens zu bringen. Ziehen wir uns nicht zurück auf einen allzu binnenorientierten Blick, verkrusten wir nicht aus dieser Binnenhermeneutik in partikulare Interessenlagen. Wir stehen — mit unserem Glauben — gegenüber der Gesellschaft im Wort! Und wir lösen als Kirchen dieses Wort auch darin ein, dass wir der Trennung von Experten- und Alltagswissen oder der Spaltungen in Partikularinteressen entschieden widersprechen. Wir stehen gegenüber der Gesellschaft im Wort — und deshalb gehen wir in die Initiative „Beteiligung schafft Gerechtigkeit". Wir stehen im Wort — und deshalb wollen wir eine bedeutende Initiative der Ökumene, unsere öffentlich verantwortete christliche Sozialethik fortsetzen.
Nun aber zu der Initiative selbst:
- Lassen Sie mich noch einmal kurz den Ausgangspunkt unserer Initiative benennen: Nach der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland im Februar 1997 hat es neben Lob auch Nachfragen gegeben. Der Text sei weitgehend unverbindlich und unbestimmt. Zudem sei die prozesspolitische Übersetzung grundlegender sozialethischer und ordnungspolitischer Optionen, die Umsetzung in die gesellschaftliche Realität, die Übersetzung in Anreizsysteme, die Frage, was eine Gesellschaft in Solidarität und Gerechtigkeit konkret heiße, nicht wirklich geleistet.
In den Gesprächen mit politischen Parteien, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren wurde immer wieder von uns eingefordert, gewissermaßen das Kapitel 5 des Gemeinsamen Wortes vor dem Hintergrund des 3. und 4. Kapitels weiterzuführen und damit Rechenschaft abzulegen, was wir denn konkret – mit Blick auf spezifische und die Gesellschaft sehr bedrängende Problemlagen wie zum Beispiel die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Herausforderungen an die soziale Sicherung als auch die Frage der Bildung als zentrale soziale Frage des 21. Jahrhunderts – unter einer Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit konkret verstehen. Mir hat diese Kritik immer etwas weh getan – da sie aber nicht ganz von der Hand zu weisen war, waren diese Anfragen aber auch Ausgangspunkt weiterer Bemühungen unsererseits.
Ganz im Sinne dieser Konkretisierung haben wir als Kommission VI dann das von einer Expertengruppe erarbeitete Memorandum „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit" vorgelegt. Dieses ist in einer breiten Öffentlichkeit auf große Resonanz und fachliche Zustimmung gestoßen. Innerkirchlich jedoch hat es viel Kritik gegeben, die wesentlich darauf hinauslief, dass dieses Papier allein von Seiten der Bischofskonferenz veröffentlicht wurde und nicht erneut, wie im Prozess des Gemeinsamen Wortes, in einer breiteren kirchlichen Öffentlichkeit diskutiert wurde. Als Reaktion auf diese Kritik und die nach wie vor bestehenden, teilweise aber auch dringender vorgetragenen Erwartungen der Öffentlichkeit an die Kirche haben wir die gemeinsame Initiative „Beteiligung schafft Gerechtigkeit" ins Leben gerufen. Wir waren uns dabei sehr wohl bewusst, dass es nicht einfach sein würde, gleichzeitig eine breite innerkirchliche Beteiligung durch eine komplizierte Trägerstruktur und eine Positionsfindung auf der Höhe der Zeit, die die gesellschaftlichen Debatten wirklich voranbringen kann, zu bewerkstelligen. Mein Ziel war immer, von katholischer Seite noch einmal eine Art "Schreiber-Plan" - Sie erinnern sich an den großen Wurf des Generationenvertrages im Rentensystem - vorzulegen, der auf drängende Fragen zu den Themen Arbeitsmarkt, Bildung und Soziale Sicherung eingebettet in ein christliches Menschen- und Gesellschaftsbild, Orientierung und Antworten gibt. Ich gebe dieses Ziel nicht auf!
Ein wichtiges Arbeitsinstrument hierfür war die Einsetzung der drei Arbeitsgruppen, in die alle Träger: das ZdK, die katholischen Sozialverbände und unsere Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz Vertreter entsandt haben. Darüber hinaus waren als Gäste auch Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland an den Beratungen der Arbeitsgruppen beteiligt. Dies könnte auch ein wichtiger Schritt hin zu einer ökumenischen Erweiterung der Initiative sein, die unser Ziel ist.
- In den vergangenen Monaten haben nun diese Arbeitsgruppen „Zukunft von Bildung und Qualifizierung", „Zukunft der Arbeit" und „Zukunft der sozialen Sicherung" eine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Sie haben die drei Diskussionspapiere „Lebenslanges Lernen unter der Perspektive von Beteiligungsgerechtigkeit", „Langfristige Arbeitslosigkeit verringern – Fachkräfte vermehren" sowie „Lebensentwürfe, Lebensrealitäten – zukunftsfähige soziale Sicherung" verfasst, die eindrucksvoll aktuelle Herausforderungen beschreiben, Fragen an die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft formulieren und erste Lösungsansätze zur Diskussion stellen.
Die Papiere sind eine gute Basis, meine Vorstellungen gehen aber – vor dem Hintergrund des Ziels, eine Art "Schreiber-Plan" zu entwerfen - weiter.
Die wohl weitreichendsten Lösungsideen hat die Arbeitsgruppe „Zukunft von Bildung und Qualifizierung" vorgelegt. Ich bin gespannt auf die Auseinandersetzungen zu diesem Papier, was auf eine mehr marktmäßige Organisation von Bildung und Befähigung setzt – bei gleichzeitiger Stärkung des Potenzials Geringqualifizierter. Zu diesem Thema lautet meines Erachtens die zentrale Feststellung, dass Qualifikation nicht mit Bildung gleichgesetzt werden kann. Um aus Information Wissen zu machen, um die richtigen Fragen stellen zu können, braucht man Maßstäbe, gewissermaßen einen Kompass durch die Wissensgesellschaft. Hier müssen wir vor allem die Geringqualifizierten im Blick haben. Die Befähigung zum lebenslangen Lernen ist sicherlich die wichtigste Zukunftsinvestition. Die Kernfrage lautet heute nicht mehr primär: wie hole ich einige Großkonzerne ins Land, damit sie dort Produktionsstätten hinstellen und Arbeitsplätze schaffen können, sondern: Wie baue ich ein Bildungssystem (ich rede von Bildungssystem, nicht von Systemen der Qualifikation) auf, das jeden einzelnen Bürger für die „Wissensgesellschaft" und deren Chancen, aber auch Anforderungen optimal und breit vorbereitet. Die Chancen der Geringqualifizierten sind hier gewissermaßen das Gerechtigkeitskriterium. Die Arbeitsgruppe „Lebenslanges Lernen" hat hier bemerkenswerte Antworten gegeben.
Zum Thema Arbeit erlaube ich mir hier nur einen Gedanken: Für Geringqualifizierte muss es in einer wohlhabenden und „hoch entwickelten" Gesellschaft die Möglichkeit geben, durch Arbeit Einkommen zu erwerben. Da die Teilhabechancen in vielen Lebensbereichen faktisch an die Erwerbsarbeit geknüpft sind, ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, die Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und nicht nur die Menschen ohne Teilhabe zu alimentieren. Die Beschäftigung für Geringqualifizierte gäbe es auch, wenn sie nicht systematisch vom Markt verdrängt worden wäre. Einfache Tätigkeiten sind durch Steuern und Abgaben so hoch belastet, dass sie für potentielle Arbeitgeber und Sozialhilfebezieher gleichermaßen uninteressant sind. Das Zusammenbringen der Probleme Geringqualifizierung einerseits und dem gleichzeitig zunehmendem Fachkräftemangel andererseits gibt dem Papier der Arbeitsgruppe Profil. Interessant ist in diesem Zusammenhang die in dem Diskussionspapier zum Arbeitsmarkt ausformulierte Idee der genossenschaftlichen Unternehmensform für Geringqualifizierte.
Bei der sozialen Sicherung wird man wohl erkennen müssen, dass der schnelle Wandel und die biographischen Umbrüche soziale Sicherung notwendiger machen denn je, aber dass eine andere Form sozialer Sicherung mit geänderten Zielgruppen notwendig ist. Soziale Sicherung muss mehr darauf abzielen, Umbruchsituationen anstelle von Lebenslagen abzusichern: Soziale Sicherung muss den Einzelnen befähigen, Umbruchsituationen besser managen zu können und sie aktiv zu nutzen.
Diese Kernfragestellung wird zwar in der Überschrift „Lebensentwürfe, Lebensrealitäten – zukunftsfähige soziale Sicherung" und in der Einführung des Textes zum Ausdruck gebracht, scheint mir insgesamt in dem vorgelegten Papier aber noch nicht recht durchdekliniert zu sein.
Sicher sind diese Papiere nicht irgendwelche Expertisen, sondern haben insofern einen spezifischen Stellenwert, als dass es hier erstmals einer Kommission der Bischofskonferenz, dem Zentralkomitee und den katholischen Sozialverbänden – von der KAB über den BDKJ, der kfd bis zum BKU – gelungen ist, gemeinsam Diskussionspapiere zu formulieren. Aber noch einmal: Sie können, gemessen an dem Ziel, kirchliche Elemente für eine zukunftsfähige Gesellschaft zu „buchstabieren", nur ein erster Anfang sein. Ihre Ideen müssen nun diskutiert und weiterentwickelt werden. Wenn wir als Kirche wirklich etwa im Sinne des von mir schon oft erwähnten "Schreiber-Planes" eine zukunftsweisende Konzeption für unsere Gesellschaft entwickeln wollen, dann haben wir noch ein gutes Stück Weg vor uns. Lassen Sie mich für diesen anstehenden Weg eine Orientierung versuchen.
- Schaut man sich die gesellschaftliche Komposition insgesamt an, so ist auf der grundsätzlichen Ebene ein wirklich diffiziles Problem zu sehen, das andere dominiert:
In unserer Gesellschaft werden Interessen von diffus reagierenden Gruppen vernachlässigt; es werden die Interessen bevorzugt, deren Erfüllung beziehungsweise Nichterfüllung eine berechenbare Wählerreaktion erwarten lassen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Chancen der Durchsetzung spezifischer Belange beziehungsweise partikularer Interessen oft größer sind als die Chancen auf Durchsetzung der Interessen großer Gruppen (Familieninteressen, Arbeitslose,....). Das heißt, es gibt die Tendenz, dass in der Regel in westlichen Demokratien die speziellen Interessen einer kleinen Anzahl von Bürgern (Ärzte, Fluglotsen, Landwirte, Metallarbeitnehmer...) besser organisiert sind und durchgesetzt werden als die eher allgemeinen Interessen breiter Bevölkerungskreise (Verbraucher, Eltern, Frauen, Arbeitslose etc.). Eine grundsätzliche Konsequenz ist so sichtbar: erstens der Vorrang partikularer, typischerweise meist kleingruppenbezogener Interessen vor einer gesamthaften Betrachtung. Zweitens der Vorrang „vereinbarter" Bewertung sozialer Belange vor der empirischen Ermittlung ihrer Wirkung, Notwendigkeit und Dringlichkeit. Drittens die Tendenz, Verträge zu Lasten unbeteiligter Dritter zu schließen (zum Beispiel zu Lasten der nächsten Generation in der Rentenfrage, zu Lasten des ungeborenen Lebens, zu Lasten von Familien mit mehreren Kindern, zu Lasten chronisch Kranker...). Viertens und immer wieder: der Vorrang Bestehenden vor dem Künftigen, der Besitzstände vor den Notwendigkeiten, der Interessen von heute vor den Interessen von übermorgen.
Eine Zielrichtung unserer kirchlichen, sozialethisch imprägnierten gesellschaftspolitischen Bemühungen wäre, diese isolierte Wahrnehmung partikularer Interessen beispielsweise bei der Konstruktion der Systeme sozialer Sicherung (Benachteiligung der Familien in der Rente) sowie mustergültig auf dem Arbeitsmarkt zu durchbrechen und die Wahrnehmung, Darstellung und Bewertung in umfassende Zusammenhänge zu stellen. Das heißt konkret: wir müssen den Blick auf nicht oder nur schwer organisierbare Belange, Interessen, lenken, die nicht die Aufmerksamkeit des politischen Systems finden. Dieses wird vor allem deswegen immer drängender, weil die sogenannte Globalisierung und auch die Sektorenverschiebung von der Industrie- hin zur Wissens- und Informationsgesellschaft die Krise der Sozialstaatlichkeit sicherlich nicht ausgelöst hat. Deren Funktions- und Strukturprobleme sind weit älter als die Liberalisierung der Kapitalmärkte. Mit den neuen sozialökonomischen Entwicklungen allerdings geht eine neue „Hierarchie" sozialer Probleme einher. Die Frage, was eigentlich in einer Wissensgesellschaft „sozial" ist, wie Armut und Reichtum in einer Wissensgesellschaft aussehen usw. ist neu zu bedenken. Da allerdings sich die Relevanz von sozialen Problemgruppen verschiebt (weg vom männlichen, gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter mit Vollzeitstelle hin zu Geringqualifizierten, Arbeitslosen, kinderreichen Familien), ist das Durchbrechen der Dominanz partikularer Interessen um so drängender.
Für unsere Initiative bedeutet dies: wir müssen die „richtigen" Fragen stellen, die relevanten Problemlagen identifizieren und zumindest einige exemplarische Antwortversuche formulieren – ich appelliere an den Mut aller Beteiligten dieser Initiative, den gesellschaftlichen Diskussionsprozess wirklich zu wollen. Mit den Arbeitsgruppenpapieren haben wir auch eine teilweise gute Basis.
Diese Papiere, die eben keine Konsenspapiere sein sollen und dürfen, sondern Diskussionspapiere sein müssen, können die Diskussion über die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft anregen. In diesem Sinne hat der Trägerkreis vor einigen Wochen beschlossen, eine erste Vergewisserungs- und Diskussionsphase innerhalb der Träger der Initiative, das heißt im Bereich des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der beteiligten Verbände und in der Kommission VI zu starten.
Inhalt dieser Phase der Vergewisserung, der Auseinandersetzung mit den Diskussionspapieren kann allerdings wohl nicht ein ängstliches Abgleichen von Positionen der jeweiligen Träger mit den Positionen, die in den Diskussionspapieren ausformuliert worden sind, sein – ich sage dies auch mit Blick auf die Kommission, der ich vorsitze. Der Weg würde in die Sackgasse führen, wenn die Diskussionspapiere, die von den Repräsentanten aller Beteiligten erarbeitet wurden, nun in allen Einzelheiten mit den jeweiligen Positionen der Träger abgestimmt und damit natürlich im Ergebnis neutralisiert würden. Dies hat der Trägerkreis auch ausdrücklich abgelehnt. Wohl aber ist es wichtig, dass alle Träger in einem ersten Diskussionsprozess die vorgelegten Papiere daraufhin prüfen, ob die Kernproblemlagen in den drei zentralen Reformbereichen erkannt und ob gewissermaßen die „richtigen" Thesen aufgestellt worden sind, um einen kontroversen, innovativen und mutigen Diskussionsprozess zu initiieren und zu führen. Das Prüfkriterium dieser „Richtigkeit" dieser Thesen ist aus meiner Perspektive wieder die Beteiligung und Gerechtigkeit für alle, vorrangig für die Armen und Schwachen, und zwar weltweit.
- Meine Bitte ist also, den Diskussionsprozess, den wir in der Gesellschaft so dringend benötigen und über den wir auch schon miteinander so lange reden, nun auch wirklich mutig beginnen zu lassen. Dieser Diskussionsprozess, der nun in einem ersten Schritt im Bereich der Träger stattfinden soll, muss dann auch möglichst bald öffentlich relevant werden und eine öffentliche Diskussion anstoßen. Deshalb müssen wir mutig das geplante Symposium zu den Fragestellungen der Initiative angehen, um interdisziplinär und über die Grenzen gesellschaftlicher Gruppen hinweg die in den Diskussionspapieren entfalteten Fragen nach der Zukunft von Bildung, Arbeit und sozialer Sicherung nachzudenken. Die öffentliche Diskussion, und das ist mir immer wieder wichtig, darf nicht nur die bundespolitische Ebene und die bundespolitischen Implikationen im Blick haben, sondern muss insbesondere auch auf der Ebene der Länder und der Diözesen getragen werden. Hier ist neben den diözesanen und gemeindlichen Strukturen vor allem die spezifische Potenz und Kompetenz der Verbände notwendig und gefragt. Ich bitte alle, vor allem hierüber noch einmal intensiv nachzudenken, wie wir diese Diskussion nicht nur für die regionale und lokale Ebene fruchtbar machen können, sondern – und dies zeigt sich auch in anderen Zusammenhängen: die lokale und regionale Ebene muss Prozesse tragen. Nur dann entfalten sie eine wirkliche Relevanz für die bundespolitische Ebene. Das ist ja schließlich die ermutigende Erfahrung mit dem Konsultationsprozess bei der Erstellung des Gemeinsamen Wortes gewesen. Wir sollten das Begonnene entschlossen fortsetzen.
Bischof Dr. Josef Homeyer