Beteiligung schafft Gerechtigkeit: Gerechtigkeit heute und morgen
von Renate Müller, Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Aus der gemeinsamen Initiative von ZdK, katholischen Verbänden und der Deutschen Bischofskonferenz
Das Projekt des Gemeinsamen Wortes der Kirchen, „für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" einzutreten, konnte - das war uns allen bei seinem Erscheinen 1997 bewusst - mit dem Wort nicht erledigt sein. Wer Zukunftserwartungen formuliert, bindet sich heute und morgen. Heute sind wir im Morgen schon angekommen; fast fünf Jahre sind vergangen, seit mit dem Wort die Kirchen für eine Erweiterung und Nutzung politischer Handlungsspielräume zugunsten der Armen votiert haben.
„Beteiligung schafft Gerechtigkeit", die Initiative von Bischofskonferenz, Zentralkomitee und zehn katholischen Verbänden, knüpft an dieser Stelle an und beantwortet schon im Titel die Frage, wie wir uns vorstellen, Gerechtigkeit und Solidarität in Zukunft zu gewährleisten. Beteiligung schafft Gerechtigkeit. Es geht um Teilhabe, Partizipation, Empowerment. „Der Initiative geht es darum, den durch den Konsultationsprozess markierten Aufbruch christlich-sozialen Engagements in Deutschland nachhaltig zu nutzen, um in einer säkularer werdenden Umwelt die Brücke zwischen sozialethischen und ordnungspolitischen Leitprinzipien einerseits und dem konkreten Handeln in Wirtschafts- und Sozialpolitik andererseits zu schlagen," so haben wir in der Projektskizze formuliert, die wir vor einem Jahr als Träger vorgelegt haben.
Inzwischen haben die Arbeitsgruppen zu den drei benannten Zukunftsfragen - Arbeit, Soziale Sicherung und Bildung - intensiv beraten. Der Kommission VI der Bischofskonferenz, dem Präsidium des ZdK und den Vorständen der beteiligten Verbände gehen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen für eine interne Kommentierung und Konsultierung in diesen Tagen zu - Bischof Homeyer hat das Verfahren skizziert, das der Trägerkreis Ende Oktober vereinbart hat. Ich bin - wie er - sicher, dass wir spannende Beratungsprozesse auslösen werden und ich möchte das an einem Beispiel ausführen, das mich besonders berührt hat.
Es geht um Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Zukunft der Sozialen Sicherung". Sehr überzeugend konfrontiert die Arbeitsgruppe „alte" und „neue" Lebensrisiken. Der Wandel der Lebensentwürfe und Lebensformen, die sich dem Diktat von Mobilität, Flexibilität und Globalität stellen müssen, führt zu neuen Lebensrisiken, die durch die alten Formen sozialer Sicherung nicht aufgefangen werden können, oder gar durch das Wegbrechen alter Formen sozialer Sicherung konstituiert werden. Prekäre Lebensphasen bergen das Risiko einer schwer aufhaltbaren Abwärtsspirale; die notwendige „aktive Gestaltung" von Brüchen in Biographien ist Herausforderung und Überforderung.
In diesen Zusammenhang gestellt gewinnt die von der Arbeitsgruppe erinnerte Aussage des Gemeinsamen Wortes neue Aktualität: „Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Häufig kommen bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe Verschuldung, chronische Erkrankung, psychische Probleme, langandauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und unzureichende Hilfen." Wer aus einem Familienverbund herausgerissen arbeitslos wird, für den kann der gebrochene Fuß der Anfang vom Ende sein. Wer hoch verschuldet die Wohnungskündigung erhält, wird selbst nicht immer in der Lage sein, die entsprechenden Hilfsangebote zu sehen... Psychische Probleme sind die Folge - wenn sie nicht schon die Ursache waren - und ziehen weitere Sackgassenentscheidungen nach sich, wie wir aus der Arbeit der Familien- und auch Schwangerschaftskonfliktberatung wissen. Das alte Lebensrisiko „Krankheit", das Menschen schon immer existentielle Not bereiten konnte, bekommt im Umfeld neuer Lebensrisiken ein neues Gesicht.
Kostendämpfung im Gesundheitswesen und Gesundheitsreformpolitik sind daher zu brennenden Fragen sozialer Sicherung geworden, deren Beantwortung fachliche und politische Kompetenz gleichermaßen erfordert. Alte und neue Solidaritätserfordernisse und anscheinend wachsende Entsolidarisierungstendenzen prallen hier zunehmend heftig aufeinander.
Die Arbeitsgruppe II der Initiative „Beteiligung schafft Gerechtigkeit" hat diese Entwicklungen aufgegriffen. „Gesundheitspolitik steht aktuell vor der Herausforderung, das alte Lebensrisiko Krankheit unter stark gewandelten medizinischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen absichern zu müssen. Der immer schnellere Fortschritt im Bereich der Medizin, der Pharmazie und der Medizintechnik hat zu einer gesteigerten Lebenserwartung und in vielen Fällen auch zu einer gesteigerten Lebensqualität geführt." Wir beobachten steigende Kosten und immer deutlicher werdende Finanzierungsproblemen im Gesundheitssystem, die im Zusammenspiel der zahlreichen beteiligten Interessengruppen gelegentlich bizarre Formen annehmen."Einfache Lösungen für dieses Problem kann es nicht geben, aber aus christlicher Sicht können Richtungen für die Lösungssuche aufgezeigt werden."
Die Arbeitsgruppe hat so den Auftrag formuliert. Ich bin gespannt, wie die wenigen Vorschläge, die sie konkret mit ihrer Grundaussage verbindet, in den Verbänden aufgegriffen werden. Ich bin sicher: Wir - Träger und Trägerverbände der Initiative - werden uns provozieren lassen! Denn: Wir sind längst sensibilisiert für die Fortschritte der Medizin im Konflikt zwischen Ökonomie und Ethik.
Wir erleben dabei immer wieder Versuche, den strukturell verursachten Konflikt schlicht „nach unten" weiterzureichen. Budgetierung der Kosten ohne Budgetierung der Leistungen - mit der Folge von unlösbaren und unwürdigen Konflikten auf der Mikro-Ebene Arzt/Patient.
Erst wenn der schwierige Abstimmungsprozess politisch gelungen ist, der darüber entscheidet, welche Leistungen jedermann und jederfrau jederzeit zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit zur Verfügung stehen sollen, kann darüber diskutiert werden, wie die darüber hinaus gehenden Dienstleistungen des Gesundheitswesens finanziert werden könnten. Die Empfehlung einer Zusatzversorgung für Schönheitsoperationen bei bestimmten Personen des öffentlichen Lebens ist eine Lappalie im Vergleich zu den real anstehenden Rationierungsentscheidungen: Soll, kann, darf oder muß der 85jährige schwer diabeteskranke Senior eine Woche lang das Intensivbett belegen, das für den Notfall der 35jährigen verkehrsunfallgeschädigten jungen Mutter nicht frei ist?
Dürfen Alter, Behinderung, Geschlecht, Familienstand, Rehabilitationsaussichten Rationierungskriterien sein?
Wo endet und wo beginnt die Solidarität, die das deutsche Gesundheitswesen einfordert und an die auch das Gemeinsame Wort eindrücklich erinnert hat, indem es vor Entsolidarisierungsprozessen warnte, die Einkommensschwache und Menschen in Lebensphasen der Armut in unvertretbarer Weise benachteiligen würden.
An vielen Stellen wird heute gefordert, die Schnittstelle „ambulant/stationär" neu zu prüfen und an dieser Schnittstelle zu einer sinnvollen Weiterentwicklung der Strukturen im Gesundheitswesen zu gelangen.
Ebenso wird ein Wechsel vom Sachleistungs- zum Kostendeckungsprinzip von verschiedener Seite vorgeschlagen.
Die Vielzahl der Akteure bringt es mit sich, dass hinter Argumenten auch eine Vielzahl von sehr konkreten Interessen versteckt werden.
Krankenhäuser bangen um ihren Fortbestand.
Patienten sorgen sich um ihre dem Stand der Medizin entsprechende Behandlung.
Krankenkassen, gerade gesetzliche, befürchten eine Verzerrung der Kosten-Leistungs-Verhältnisse, wobei die Entwicklung der AOKs zu Restkassen für besonders riskante Fälle schon Realität geworden ist.
Niedergelassene Fachärzte und niedergelassene Hausärzte tragen die Last der Budgetierung, die Verantwortung zwischen Patient und Pharmaindustrie.
Die Pharmaindustrie sucht nach Möglichkeiten, ökonomischen Gewinn und Forschungsfortschritt zum Wohle der Menschen zu vereinen...
Die Wartezimmer werden immer voller. Die Krankenkassenbeiträge steigen.
Mehr als 500 Milliarden Mark geben die Deutschen jährlich für ihre Gesundheit aus. Die zentrale Säule ist nach wie vor die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die für mehr als 70 Millionen Menschen die Gesundheitsversorgung sichert. Allein die Ausgaben für Arzneimittel stiegen im ersten Halbjahr 2001 um elf Prozent auf 21.6 Milliarden DM. Damit mußte erstmals mehr Geld für Medikamente ausgegeben werden als für die ärztliche Behandlung.
Weiterhin stützt sich die GKV auf die erwerbstätigen Arbeitnehmer. Der Wandel in der Arbeitswelt mit neuen Formen der Selbständigkeit, die wieder steigend hohe Arbeitslosigkeit sowie der hohe Anteil von Rentnern höhlen die Einnahmebasis der GKV aus und bezeichnen neue soziale Risiken. Die wichtigsten Gruppen aus dem Gesundheitswesen beraten derzeit am „Runden Tisch" und in zugehörigen Arbeitsgruppen über notwendige Reformschritte und mögliche Strukturveränderungen. Die Gespräche sind gekennzeichnet von hoher Fachkompetenz und heftigen besitzstandswahrenden Interessenkonflikten. Die politische Diskussion bemüht in ihrer Ausweglosigkeit einen Begriff, der sich schon in der Diskussion um die Rentenversicherung als halbwegs taugliches Schwert erwiesen hat und der nun hier seine Schuldigkeit noch einmal tun soll: Den Begriff der „versicherungsfremden" Leistungen. Tatsächlich und allen Ernstes wird dabei sogar die Finanzierung von Entbindungen im Krankenhaus von bestimmter Seite als „versicherungsfremd" bezeichnet, sie aus dem Katalog der Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen zu streichen allen Ernstes empfohlen. Hieran zeigt sich, wie schnell eine Kostendiskussion umschlagen kann in eine Grundsatzdiskussion und dass wir das Ringen nicht den Runden Tischen der Interessenvertreter überlassen dürfen.
Die Initiative „Beteiligung schafft Gerechtigkeit", die von DBK, ZdK und katholischen Verbänden getragen wird, hatte Recht, Fragen der Gesundheitspolitik auf die Tagesordnung des katholischen Deutschland zu setzen. Als - potenziell zumindest - Lobbyisten des Gemeinwohls müssen die Träger der Initiative den Impuls der Initiative aufgreifen und in ihren jeweiligen Strukturen den aktuellen Fragen der Gesundheitspolitik mit aller Entschiedenheit und Kompetenz nachgehen. Dabei hat die KAB ihre besondere Chance, indem sie in die Strukturen der Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen sehr unmittelbar einbezogen ist. Die Frauenverbände werden Rationierungsversuchen zu Lasten von Frauen und Familien ihr besonderes Augenmerk schenken und ihnen ihren Widerstand entgegensetzen („unterfüttert" gerade jetzt vom Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland, den die Bundesregierung 700 Seiten stark vor wenigen Monaten vorgelegt hat), Caritas und die Berufsverbände werden ihre Kompetenz aus dem Krankenhaus- und Pflegebereich aktiv einbringen.
Ich freue mich auf Beschlüsse der demokratisch legitimierten Gremien all unserer Verbände zur Gesundheitspolitik, die im Geiste des Evangeliums und in der Tradition der katholischen Soziallehre die Maßstäbe des Gemeinsamen Wortes der Kirchen nutzend auch im Bereich der Gesundheitspolitik Handlungsspielräume aufweisen werden, die von manchen befangenen Akteuren unter Umständen nicht entdeckt, aber schließlich genutzt werden können.
Indem wir alle uns beteiligen an der Diskussion um eine gerechte Gesundheitsreform und die Anregungen aufgreifen, die auch durch die Initiative entstehen, können wir - so hoffe ich - tatsächlich Brücken bauen zwischen Sozialethik und Ordnungspolitik und damit in eine neue Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.
Renate Müller, Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken