Bericht zur Lage (Teil 1), Rede des ZdK-Präsidenten

im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Der 11. September und die Bedrohung unserer Gesellschaft
Wir stehen immer noch unter dem Eindruck der Terrorakte vom 11. September, die wohl bereits jetzt als eine geschichtliche Zäsur bezeichnet werden können. Dieser Anschlag, so habe ich noch am gleichen Tage erklärt, hat seinen Ursprung in abgrundtiefem Hass, der jeden Respekt vor der Würde und dem Lebensrecht anderer Menschen auslöscht. Und ich fügte hinzu:

„Heute stellen wir uns besonders in das Wort des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach Trauer und Angst der Menschheitsfamilie immer auch Trauer und Angst der Christen sind. Aller Schmerz der Menschen in Amerika findet seinen Widerhall in unseren Herzen. Wir beten für die Toten und Hinterbliebenen, für die Opfer und ihre Angehörigen, und wir beten für den Frieden, der durch dieses Verbrechen zutiefst bedroht ist."

Am 12. Oktober habe ich dann vor dem Hauptausschuss eine längere Erklärung abgegeben, die ich heute wiederholen will:

„Die terroristischen Anschläge vom 11. September waren ein Angriff auf die Würde und das Leben jedes Menschen. Wer für sich das Recht in Anspruch nimmt, unschuldige und unbeteiligte Menschen anzugreifen und zu ermorden, um damit politisch oder religiös motivierte Ziele zu erreichen, greift die ganze Menschheit an. Darum ist entschlossenes Handeln mit allen dafür erforderlichen Mitteln einschließlich militärischer Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig, um die Täter und die Verantwortlichen zu bestrafen und die Wiederholung solcher Verbrechen zu verhindern. Mit folgenlosen Gesten, die vor allem Ausdruck eigener Angst sind und im Grunde oft nur dazu dienen, uns selbst ein gutes Gewissen vorzutäuschen, werden wir der Herausforderung nicht gerecht.
Nach unserer christlichen Überzeugung muss jedoch alles Handeln dem Ziel untergeordnet sein, dem gerechten Frieden zu dienen. Es gibt keinen gerechten Frieden, so lange Menschen hungern und ihrer Rechte beraubt werden. Elend und Unrecht sind der Nährboden für Hass und Verblendung, die zu Terror und Krieg führen. Dies zu sagen, heißt nicht, Verbrechen zu rechtfertigen, sondern erinnert an unsere Verantwortung für den Zustand der Welt und das Existenzrecht aller Menschen. Es ist leider nur zu wahr, dass wir oft erst dann massenhaftes Elend und Unrecht zur Kenntnis nehmen, wenn es unser eigenes Wohlsein bedroht.
Wer dem gerechten Frieden dienen will, muss die Menschen und die Völker einen wollen. Diese Einheit erwächst nur aus der Gemeinsamkeit in der Vielfalt. Daher müssen wir die anderen Kulturen und Religionen achten. Wer jetzt den Islam für die Verbrechen der Terroristen verantwortlich macht und muslimische Mitbürger beleidigt oder angreift, trägt zu der Kluft bei, die jetzt die Welt zu spalten droht, und vergisst, dass auch das Christentum für Kriege und terroristische Akte missbraucht worden ist.
Der 11. September hat den Wandel der Welt und die Bedrohung der freiheitlichen Gesellschaft offenbart. Die technologische Entwicklung hat es möglich gemacht, dass ein Netzwerk von zu allem entschlossenen Tätern die moderne Welt massiv bedrohen kann. Dagegen sind unsere hochgerüsteten Militärsysteme ohne Wirkung. Wir müssen wieder lernen, dass Freiheit nicht die Summe persönlicher Bequemlichkeiten ist, sondern eine Ordnung gemeinsamer Verantwortung, die nur von unserem persönlichen Einsatz lebt und nur durch unseren persönlichen Einsatz geschützt werden kann. Nicht die massenhafte Verwendung militärischer Technologien wird die Freiheit bewahren, sondern nur die Bereitschaft, dafür notfalls auch sein Leben einzusetzen."

Es gibt zwei Gründe, warum ich heute diese Erklärung im Wortlaut auch vor der Vollversammlung vortrage.

Der erste Grund ist, dass in einer Agenturmeldung behauptet wurde, ich hätte erklärt, die amerikanischen Bombenangriffe auf Afghanistan seien eine notwendige Strafe für die Täter. Bemühungen unseres Pressesprechers um eine Korrektur waren vergeblich. Die Agenturmeldung wurde im Gegenteil auch von Zeitungen übernommen, denen der Wortlaut meiner Erklärung vorlag. Auf diese Weise wird jedem Bemühen um eine argumentierende und differenzierende Debatte der Boden entzogen. Wer so handelt, muss sich fragen lassen, worum es ihm geht: Um die richtige Antwort auf die Gefährdung unserer Freiheit oder um möglichst griffige Schlagzeilen auf dem Medienmarkt? Wie zu erwarten, erhielt ich kritische Reaktionen auf meine angebliche Äußerung, allerdings zum Teil mit Argumenten, die ich ebenfalls nicht akzeptieren kann.

Damit komme ich zum zweiten und wichtigeren Grund: Ich stehe nach wie vor uneingeschränkt zum Inhalt meiner Erklärung – zu den Formulierungen wie zu den Proportionen des Textes. Der Kern der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit geht um die Frage: Ist es berechtigt, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren, um dadurch weitere Gewalt zu verhindern? Und diese Frage bezieht sich nicht auf Gewalt gegen uns persönlich, sondern auf Gewalt gegen andere. Oder um mit dem bekannten christlichen Bild zu fragen: Wessen Wange soll hingehalten werden – unsere eigene oder die der anderen? Wer erklärt, auf Gewalt müsse unter allen Umständen verzichtet werden, sollte offen sagen, dass er gegen Mord und Vergewaltigung keine anderen Mittel einsetzen will als Geld und gute Worte. Eine solche Haltung entlarvt sich selbst als unverantwortlich, sobald sie nicht abstrakt auf ferne Gegenden, sondern auf uns selbst und unser Land angewendet wird. Gegen die Absichten jener, die so etwas fordern, dient diese Haltung nicht dem Frieden, sondern gibt Gewaltverbrechern freie Bahn. In bezug auf Gewalttaten außerhalb unserer Grenzen und deren Verhinderung feinsinnig zwischen militärischer und polizeilicher Gewalt zu unterscheiden, hat mit dem Kern des Problems nichts zu tun und steht daher im Verdacht der Ausrede.

Dieser Kern der Debatte wird in der öffentlichen Auseinandersetzung in vielfacher Weise verschleiert. Daher will ich hier unterstreichen: Auch wer Gewalt gegen Gewalt für unvermeidlich hält, weiß um die Gefahr von Gewalt. Selbstverständlich muss jeder Einsatz von Gewalt das letzte Mittel bleiben. Aber sie kann nur dann das letzte Mittel bleiben, wenn glaubhaft ist, dass man vor ihrem notwendigen Gebrauch nicht zurückschreckt. Selbstverständlich muss der Einsatz von Gewalt dem Zweck untergeordnet sein, eine friedliche Ordnung zu erreichen, die auf dem Streben nach Gerechtigkeit gründet. Aber jede friedliche Ordnung braucht einen sicheren Raum. Und selbstverständlich müssen wir immer der Frage nachgehen, wie es möglich ist, dass Menschen zu Gewaltverbrechern werden. Aber so richtig und unabweisbar diese Fragen sind, so liefern sie doch keine Begründung dafür, die Notwendigkeit von Gewalt zu bestreiten, wenn es zu Gewalttaten gekommen ist.

Freilich gilt auch: Wer in diesem Sinne die Notwendigkeit von Gewalt bejaht, sagt darum nicht ja zu allem und jedem, was gegen Gewalttaten unternommen wird. Auch wer militärische Aktionen in Afghanistan für unausweichlich hält, kann sehr wohl fragen, ob Art und Ausmaß der Bombardements zu rechtfertigen sind. Wichtig ist vor allem, nach dem politischen Konzept zu fragen, das jeder militärischen Aktion erst ihren Sinn gibt und ihre Grenzen setzt. Und schließlich bleibt trotz aller Ferne und Eigenart der afghanischen Wirklichkeit die uralte Frage berechtigt, ob man den Teufel mit Beelzebub austreiben kann. Wer sich nicht selbst das Denken verbietet, dem drängen sich solche Fragen auf. Und auch die Haltung verlässlicher Solidarität verbietet solche Fragen nicht. Allerdings nehmen nicht wenige in Deutschland solche Fragen als Grund, entweder überhaupt nicht handeln zu wollen oder sich auf solches Handeln zu beschränken, das die eigentliche Herausforderung, nämlich, wie den Gewalttaten des internationalen Terrors begegnet werden kann, tunlichst vermeidet, weil man meint, sich dadurch ein gutes Gewissen bewahren zu können. Gerade unter Christen ist dies eine große Versuchung. Es gibt kein gutes Gewissen, das die Augen vor der Realität mörderischer Attentate verschließt, die sich offen gegen unsere Gesellschaft richten. Und gewiss kann es auch kein gutes Gewissen machen, Forderungen stets nur an andere zu richten, vorzüglich an die Politik, die man im Übrigen verachtet und vor der man sich fern hält.

Damit komme ich zu der eigentlichen Herausforderung, vor die uns der internationale Terrorismus stellt. Es geht nicht primär um unsere Freiheiten, wie man jetzt zunehmend hören kann. Deutlicher gesagt, es geht nicht primär um unsere individuellen Rechte und Besitzstände, sondern es geht um unsere gemeinsame Freiheit. Es geht um die Existenz unserer freiheitlichen Gesellschaft. Zu viele verstehen darunter nur, sich „einzumischen", wie es bezeichnenderweise heißt, um ihre eigenen Ziele zu erreichen und ihre eigenen Rechte durchzusetzen. Die gesellschaftliche Freiheit kann aber auf Dauer nur leben, wenn jeder zunächst seine Verantwortung und seine Pflichten für das gemeinsame Wohl anerkennt und wahrnimmt. Das heißt eben auch, notfalls sein Leben für diese Freiheit einzusetzen. Es heißt nicht minder, Opfer auf sich zu nehmen, um die Not anderer zu beseitigen und ihnen aus dem Elend zu helfen.

Nach meiner Überzeugung muss sich Deutschland an den militärischen Aktionen gegen den internationalen Terrorismus beteiligen. Unseren Soldaten gebührt für ihren Dienst unsere Achtung und unsere Sympathie. Zugleich müssen wir mit ganzer Kraft zur Hilfe für die Menschen in Afghanistan beitragen, damit das Elend in diesem unglücklichen Land so rasch wie möglich überwunden wird und eine menschenwürdige Ordnung einkehrt.

Wirklicher Friede, das ist ein alter christlicher Grundsatz, erwächst aus Gerechtigkeit. Das rechtfertigt keinen der Attentäter und der für die Attentate Verantwortlichen. Denn sie stammen nicht selten aus jenen wohlhabenden und herrschenden Schichten, die nichts gegen die soziale Not in ihren Ländern tun. Die schlichte Wahrheit ist, dass es vielfach in der Dritten Welt die sogenannten Eliten sind, die eine maßgebliche Schuld am Leid und an der Not ihrer Völker tragen. Das mindert jedoch unsere Verpflichtung nicht, alles zu tun, damit überall in der Welt Menschen ohne Not und in Würde leben können. Vor allem für uns als Christen gilt diese Verpflichtung. Und schließlich müssen wir einen Dialog der Religionen führen - mit dem Willen zum Verstehen, aber mit Geduld und Realitätssinn und ohne auf unseren christlichen Glauben und auf unsere freiheitliche Überzeugung zu verzichten. Ich bin froh, dass wir schon vorher einen Gesprächskreis Christen und Muslime gebildet haben. Im Geiste dieses Gesprächs habe ich am 19. September gegenüber dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Dr. Nadeem Elyas, meiner Besorgnis über die nach den Terroranschlägen zunehmenden feindlichen Reaktionen auf Muslime in unserem Land zum Ausdruck gegeben. Und mit großer Dankbarkeit begrüße ich die Einladung des Heiligen Vaters zu einem Treffen religiöser Führer nach Assisi.

Die bioethische Debatte

Nicht nur Herausforderungen von außen muss sich unsere freiheitliche Gesellschaft stellen. Ethische Fragen von grundlegender Bedeutung für die Sicht vom Menschen und damit für den Charakter unserer Gesellschaft ergeben sich aus dem Fortschritt der naturwissenschaftlichen Forschung und den sich daraus ergebenden Erwartungen für ein Leben in Gesundheit und Glück. So weit diese Erwartungen anderes menschliches Leben und die Mitmenschlichkeit berühren, sind dies zugleich Fragen an die ganze Gesellschaft und an die Entscheidungsträger in der Politik. Es sind also Themen der öffentlichen Debatte. Mit Recht hat Bundespräsident Johannes Rau in einer nachdenklichen und mahnenden Rede am 18. Mai erklärt:

„Es geht um politische Entscheidungen. Wer die Entscheidungen über das, was gemacht werden soll, der Wissenschaft überlassen will, der verwechselt die Aufgabe von Wissenschaft und Politik in einem demokratischen Rechtsstaat."

Es entspricht der 150jährigen Tradition des deutschen Laienkatholizismus, in öffentlichen Debatten über Lebensfragen der Gesellschaft stets das Wort ergriffen und Stellung bezogen zu haben. So haben wir es auch diesmal gehalten. Schon im Herbst des vorigen Jahres hat unser kulturpolitischer Arbeitskreis in diese Auseinandersetzung eingegriffen und dadurch ganz maßgeblich jene Entschließung vorbereitet, die wir bei der vorigen Vollversammlung einmütig beschlossen haben. Inzwischen haben sich zu meiner Freude viele katholische Organisationen, Räte und Akademien dieser Problematik angenommen und die Diskussion weiter geführt. So konnten wir einen nicht unerheblichen Teil dazu beitragen, dass weite Kreise der deutschen Öffentlichkeit die ethische Brisanz erkannten, die in den Chancen und Risiken des naturwissenschaftlichen Fortschritts liegt. In wohl keinem anderen führenden Land der westlichen Welt ist dieses öffentliche Bewusstsein so deutlich ausgeprägt wie in Deutschland.

Von nicht wenigen, die in Wissenschaft und Politik einflussreich sind, wird dies als Gefahr für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland betrachtet. Als Reaktion zeigt sich eine unverkennbare Tendenz, die Haltung von Christen als eine Sondermeinung zu behandeln, die zwar durchaus ehrenwert ist und bei denen, die dieser Überzeugung folgen, auch respektiert werden soll; für gesellschaftlich bindende Entscheidungen könne sie jedoch keine Geltung beanspruchen. Manche operieren sogar mit Ausdrücken wie „ideologiebehaftet", „fortschrittsfeindlich" oder gar „fundamentalistisch". Wie verhält sich also unsere christliche Glaubensüberzeugung zum gesellschaftlichen Wertekonsens, der unsere Verfassungsordnung trägt und für unsere politischen Entscheidungen bindend sein muss?

Unbestreitbar wurzeln alle ethischen Wertvorstellungen in religiösen oder philosophischen Grundüberzeugungen, auch wenn dieser Zusammenhang nicht immer deutlich hervortritt und ausdrücklich reflektiert wird. Es gibt keine ethischen Haltungen im luftleeren Raum. Und ganz ausdrücklich bekennen wir uns als Christen zur Einzigartigkeit unseres Glaubens. Die Achtung vor der Menschenwürde, die an der Spitze unserer Verfassung steht und von der alle anderen Grundrechte ihren Ausgangspunkt nehmen, ist für uns eine Konsequenz unseres Glaubens, dass alle Menschen von Gott erschaffen und durch Jesus Christus erlöst worden sind. Dabei respektieren wir als Christen, dass die Menschenwürde auch als Konsequenz aus anderen Grundüberzeugungen geachtet wird. Das Wort vom Wertekonsens meint genau diese Übereinstimmung von ethischen Konsequenzen aus unterschiedlichen Überzeugungen. Eine Selbstverständlichkeit wird die Achtung vor der Menschenwürde dadurch nicht, wie erschreckende Erfahrungen aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart lehren. Und der Wertekonsens ist eine dynamische Größe, wie sich im Wertewandel und im Wertekonflikt ständig offenbart. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, wie stark sich die Christen in der Wertedebatte engagieren und wie es ihnen gelingt, durch Argumente aus der Vernunft und der Erfahrung, Allianzen im ethischen Konflikt zu begründen. So gilt es zu zeigen, dass sich zwar das Recht auf Freiheit und das Streben nach Glück, Gesundheit und Wohlstand aus der Menschenwürde ergeben, dass dieser aber im Konflikt der höhere Rang zukommt, weil sich das Gebot, die Menschenwürde zu achten, in der Praxis durch die Mitmenschlichkeit unseres Handelns erweist. Die Menschenwürde gebietet nämlich, das Leben und die Rechte des anderen zu achten, während die Freiheit der Raum ist, unseren eigenen Interessen und Wünschen zu folgen. Auch dieses Streben kann durchaus dem Wohl anderer dienen und deren Rechte achten, muss es aber nicht. So ist auch unser Wunsch nach Gesundheit und Heilung legitim, aber er findet seine Grenze im Lebensrecht anderer. Daher ist die Ethik des Heilens, das sich auf den je Einzelnen richtet, der Ethik des Erbarmens untergeordnet, das allen Mitmenschen zugewandt ist. Das Streben nach persönlicher Vervollkommnung und für eine bessere Welt ist berechtigt und notwendig. Wird das Ideal der Perfektion aber absolut gesetzt, so kann es, wie die Geschichte lehrt, in menschenverachtende Tyrannis umschlagen, die Menschen entweder zu Gunsten anderer oder im Interesse einer Zukunftsutopie verwendet und so in ihrer Würde und Freiheit, ja sogar in ihrem Lebensrecht missachtet.

Diese Argumente können nicht vor angeblichen oder tatsächlichen Mehrheits- oder Normalmeinungen zurückstehen. Normalität, was immer dies sein mag, ist jedenfalls nicht Normativität. Im Gegenteil: Nach den schrecklichen Erfahrungen der Geschichte müssen sich Fortschrittsansprüche mit ethischen Argumenten auseinandersetzen und vor diesen Bestand haben. Das gilt selbstverständlich auch für die Naturwissenschaften, für ihr Erkenntnisinteresse und für die Verwertung ihrer Ergebnisse. Es gilt nicht zuletzt für den Meinungsstreit innerhalb der Naturwissenschaften. Die Einen bringen deutlich zum Ausdruck, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen voraussichtlich nicht benötigt wird, um zu Therapien zu kommen, die in ethisch unbedenklicher Weise adulte Stammzellen einsetzen. Die Anderen sagen uns, dass die embryonale Stammzellforschung im eingeschränkten Rahmen benötigt wird, um die adulten Stammzellmechanismen besser zu verstehen und einsetzen zu können.

Allerdings ist richtig, dass naturwissenschaftlich festgestellte Sachverhalte auch für Theologie und Philosophie neue Fragen aufwerfen und durchaus auch zu unterschiedlichen theologischen und philosophischen Deutungen geführt haben. Das gilt nicht zuletzt für die Frage, wann das menschliche Leben beginnt. Eben weil dies so ist, müssen wir an der Unbedingtheit des Respekts vor dem Menschenleben und der Menschenwürde festhalten. Das schließt alle Antworten aus, die mit Rücksicht auf wissenschaftliche oder wirtschaftliche Interessen gegeben werden.

Bei der Frage, wann biologisch das Leben eines menschlichen Individuums beginnt, hat der deutsche Gesetzgeber mit dem Embryonenschutzgesetz von 1990 eine eindeutige und plausible Festlegung getroffen: Als Embryo definiert das Gesetz die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an. Um eine Verzweckung des menschlichen Embryos auszuschließen, hat das geltende Embryonenschutzgesetz bestimmt, dass die künstliche Befruchtung einer Eizelle nur erfolgen darf, um eine Schwangerschaft jener Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Wir müssen daran festhalten, dass sich vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an der Mensch als Mensch entwickelt und von hier an rechtlichen Schutz genießt.

Daher lehnen wir die Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen ab und treten dagegen dafür ein, die Forschung und Anwendung von aus adulten Zellen gewonnenen Stammzelllinien sowie die Grundlagenforschung mit aus Tierembryonen gewonnenen Stammzellen verstärkt zu fördern. Auf keinen Fall dürfen Fakten geschaffen werden, um die gesellschaftliche Debatte zu umgehen und die politische Entscheidung vorweg zu nehmen. Deshalb begrüße ich die von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin" erarbeitete Stellungnahme zur Stammzellforschung, die es weiterhin für nicht verantwortbar hält, Stammzellen aus Embryonen zu gewinnen, weil dadurch menschliches Leben vernichtet wird, und die darum die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken auch künftig verhindern will. Daraus folgt nach unserer Überzeugung zwingend, den Import von aus menschlichen Embryonen gewonnenen Stammzellen zu verbieten. Wir fordern die Abgeordneten des Bundestages auf, dafür die gesetzliche Grundlage zu schaffen.

Zuwanderung und Integration

Die Ereignisse des 11. September finden ein Echo auch in der Debatte um ein Zuwanderungsgesetz. Mit Blick auf die neue Sicherheitslage sprechen führende Politiker von einer jetzt umso mehr erforderlichen Begrenzung der Zuwanderung. Die Notwendigkeit, Möglichkeiten geregelter Zuwanderung zu schaffen, tritt dagegen in der öffentlichen Aufmerksamkeit zurück.

Es steht außer Frage, dass zum Schutz vor Terrorismus ein besonderes Augenmerk auf Gefährdungen der inneren Sicherheit gelegt werden muss. Das gilt auch für die Ausgestaltung des jetzt erörterten Zuwanderungsgesetzes. Aufenthaltsrechtliche Regelungen, die Extremisten für ihre Zwecke nutzen können, müssen überprüft werden. Doch stets sind dabei die rechtsstaatlichen Grundsätze zu beachten.

Vor allem darf jetzt unter dem Einfluss eines Klimas des Argwohns nicht die politische Entscheidung für ein Zuwanderungsgesetz auf die lange Bank geschoben werden. Das wäre ein falsches Signal. Vielmehr müssen wir weiterhin den klaren Willen bekunden, dass wir Zuwanderung brauchen und somit auch wollen, und dass wir es mit der Integration der Menschen ausländischer Herkunft ernst meinen. Ausdrücklich möchte ich auf die wertvolle Vorarbeit der von der Bundesregierung berufenen Kommission unter Vorsitz von Rita Süßmuth und der Kommission der CDU unter Vorsitz von Ministerpräsident Müller erinnern.

Neben der gesetzlichen Regelung der Zuwanderung, an der wir interessiert sind, weil unser Land sie braucht, müssen wir am Asylrecht unseres Grundgesetzes festhalten. Es entspricht dem Geist dieses Rechts und der Praxis in anderen europäischen Ländern, wenn jetzt aufgrund der Hartnäckigkeit der Vertreter von Bündnis90/Die Grünen der volle Abschiebeschutz erreicht werden soll für Frauen, die ihres Geschlechtes wegen verfolgt werden, sowie für Personen, die in Ländern nicht mehr existierender staatlicher Strukturen Opfer politischer Verfolgung sind. Das war in den zurückliegenden Diskussionen eine zentrale Forderung beider Kirchen. Auch wir haben sie bei einem Hearing in Berlin nochmals unterstrichen.

Besonders kontrovers wird das Nachzugsalter der Kinder von Ausländern diskutiert. Auf Grund unseres Verständnisses von Familie haben wir ein Nachzugsrecht bis zum 18. Lebensjahr gefordert. Der Regierungsentwurf sieht nur ein Regelnachzugsalter bis zum 14. Lebensjahr vor und stößt damit auf Kritik von zwei Seiten. Auch unter Mitgliedern des ZdK ist die Höhe des Nachzugsalters umstritten. Dabei ist allen die Überzeugung gemeinsam, dass im Normalfall Kinder zu ihren Eltern gehören und dass die Chancen für ihre Integration um so höher sind, je früher sie nach Deutschland kommen. Die mangelnde Integrierbarkeit junger Ausländer und ihre geringen Bildungs- und Berufschancen sind ein brennendes gesellschaftliches Problem. Die eigentliche Antwort auf diese Situation ist also nicht, dass Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit zu ihren Eltern dürfen, obwohl wir an diesem Recht aus prinzipiellen Gründen festhalten müssen, sondern dass alles getan wird, um ausländische Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder hier in Deutschland aufwachsen zu lassen, damit sie Glieder unserer Gesellschaft werden können. Anders gesagt: Das Recht auf Nachzug ist nur der Rahmen, der durch ein intensives Bemühen um Integration ausgefüllt werden muss. Notwendig ist vor allem ein umfassendes Integrationskonzept. Dabei bleibt Integration ein beiderseitiger Prozess, der aus Angebot und Annahme besteht. Dieser Prozess sollte auch islamischen Religionsunterricht und das Studium der islamischen Theologie unter den Bedingungen unserer freiheitlichen Demokratie einschließen. Die unverzichtbare Grundlage jedweder Integration ist jedoch unsere Rechts- und Werteordnung.

Ein Desiderat im Gesetzgebungsvorhaben bleibt die Schaffung einer Härtefallregelung, die es erlaubt, in schwierigen Einzelfällen angemessene Entscheidungen zu treffen. Zwar muss es den Kirchen auch in Zukunft möglich sein, schutzbedürftigen Menschen dringend notwendige Hilfe zu leisten; es geht aber nicht an, staatliche Verantwortung an die Kirchen abzuschieben.

Trotz der Zunahme der politischen Spannungen innerhalb und außerhalb Deutschlands nach dem 11. September halte ich an der Hoffnung fest, dass wir in Deutschland eine neue und zukunftsorientierte Zuwanderungsgesetzgebung erreichen, die sich auf einen belastbaren politischen Konsens stützen kann.

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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