Spurwechsel - Kulturwechsel
Herausforderungen unserer Zeit an eine nachhaltig erneuerte Vita Activa
I. Vita activa: Gesellschaftliche Teilhabe in Zeiten der Globalisierung
”Entscheidungen über Richtung und Geschwindigkeit von Wirtschaft und Politik werden in fernen Machtzentren getroffen. Meine Möglichkeiten als Bürgerin und Bürger mit zu gestalten beschränken sich doch auf das Kreuzchen in der Wahlurne”:
In Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, in Zeiten der Konzentration und Beschleunigung macht sich gelegentlich Resignation breit. Bei Menschen wie dir und mir kann es geschehen, daß Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit Überhand gewinnen. Die Welt drehe sich ja ohnehin - ohne das eigene Zutun. Es komme also vorrangig darauf an, für das private Glück eine Nische zu finden.
Parallel regen sich aber verstärkt auch Kräfte, die erkannt haben, dass zunehmender Zentralisierung auf der einen Seite Chancen der Dezentralisierung auf der anderen Seite entsprechen (müssen). Nur so können jene Gefahren vermieden werden, die mit einer wiederholten Delegation der Problemlösungszuständigkeit “nach oben” verbunden sind: Ausufernde Verrechtlichung und Bürokratisierung, hohe Steuer- und Beitragssätze sind ja sichtbar konkrete Ausdrucksformen einer Entwicklung, die Problemlösungen in zu vielen Bereichen vom Staat erwartet hat.
Experimente z.B. im Bereich der neuen Medien oder im Kontext der Lokalen Agenda 21 versuchen neue Mitbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten zu schaffen.
Spürbar sind Versuche, unsere in den östlichen Bundesländern durch den Sozialismus, im Westen durch den Rückgang traditioneller intermediärer Strukturen und Bindungen entstrukturierte Gesellschaft neu zu strukturieren. Neue Formen bürgerschaftlichen Engagements suchen selbsthilfefähige und auf Selbsthilfe zielende Strukturen zu schaffen. Herausforderungen unserer Zeit werden als Herausforderungen an eine erneuerte ”Vita activa” verstanden.
Der Begriff der Vita activa, in den wir die erneuerten Anstrengungen bürgerschaftlichen Engagements verorten, ist „beladen“, ja vielleicht „überladen mit traditionellen Vorstellungen,“ wie Hannah Arendt vor über vierzig Jahren in ihrem gleichnamigen Buch schon schrieb. Er ist alt „und weit davon entfernt, alle politischen Erfahrungen der abendländischen Menschheit zu begreifen.“ Aber gerade durch das Werk Hannah Arendts hat er sich eine Frische bewahrt, die ihn von neueren begrifflichen Versuchen kraftvoll unterscheidet. Herausforderungen an eine erneuerte „Vita activa“ sind also Herausforderungen an Strukturen der ”politischen”, zivilgesellschaftlichen Teilhabe, die einen Spurwechsel erforderlich machen:
Raus aus dem Trott, hinein in die aktive Partizipation.
Indem wir als Christen und Christinnen für den Spurwechsel Modernität (“Zeitgenossenschaft”) mit der Orientierung an klaren Wertvorstellungen und der frohen Botschaft des Evangeliums verbinden, haben wir bei der Suche nach Wegen und Formen bürgerschaftlichen Engagements Antworten anzubieten, die nicht nur für uns selbst hilfreich sind.
Wir sind uns dabei bewußt, dass unsere Vorstellungen in der pluralen Gesellschaft um so eher ausstrahlungsfähig und attraktiv sein können, je stärker wir sie in unserem eigenen Tun in Kirche und Gesellschaft erkennbar beherzigen. Dabei ist die Gründungsgeschichte des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und der breiten vereinsmäßigen Organisation der deutschen Katholiken Vorbild und Ermutigung zugleich, wie Christen gesellschaftliche Aufbrüche bürgerschaftlich mitgestalten können und wollen.
2. Sozialprinzipien: geronnene Erfahrung und Leitlinien für die Architektur der Gesellschaft
Wertvorstellungen und Erfahrungen, auf die wir uns als Christen stützen können, sind in der christlichen Sozialethik zu Sozialprinzipien geronnen: Sie sind Leitlinien für die ”Architektur” der Gesellschaft, Kriterien zur Beurteilung der gesellschaftlichen Ordnung.
Sozialprinzipien sind entstanden als Reaktion auf die Erfahrungen des Wandels der neuzeitlichen Gesellschaft und seiner Deutung im Lichte des christlichen Glaubens, eines Wandels, der wesentlich durch die Emanzipation des Menschen in der Aufklärung ausgelöst wurde.
Vier Prinzipien lassen sich nennen:
- das Prinzip der Personalität
- das Prinzip der Solidarität
- das Prinzip der Subsidiarität und
- das Prinzip der Nachhaltigkeit.
Die Formulierung jedes dieser Prinzipien ist (auch) als Antwort auf ganz konkrete Fragen der jeweiligen Zeit zu verstehen. So wurde das Prinzip der Personalität formuliert, um die Rechte des Individuums gegenüber einem übermächtigen, absolutistischen Staat zu verteidigen. Das Prinzip der Solidarität (im 19. Jhd.) entstand als ethische und politische Antwort auf die Vereinzelung der Arbeiter in der Industrialisierung. Das Sozialprinzip der Subsidiarität erlangte seine besondere Bedeutung als ethisches Korrektiv zu den totalitären Systemen, des Nationalsozialismus, aber auch des Sozialismus im 20. Jahrhundert, und das noch junge Sozialprinzip der Nachhaltigkeit bündelt und strukturiert (insbesondere seit der Konsultation zum gemeinsamen Wort der Kirchen) die Suche nach einer ethischen Antwort auf die globalisierte Umwelt- und Entwicklungsfrage.
In der gegenwärtigen Situation ist für unsere Frage nach Voraussetzungen, Möglichkeiten und Zielen einer erneuerten Vita activa besonders der Zweiklang von Subsidiarität und Nachhaltigkeit tonangebend. Subsidiarität (als Strukturprinzip gelingender Solidarität) und Nachhaltigkeit (als eine den Solidaritätsgedanken auf kommende Generationen erweiternde Forderung) zu versöhnen und beim Aufbau einer neuen sozialen Bürgergesellschaft zu berücksichtigen, könnte dazu beitragen, Beteiligungschancen zu verbessern und vorhandene Bindungskräfte der Gesellschaft zu stärken.
3. Subsidiarität - Leitbild einer erneuerten Vita activa
Seine klassische Definition fand das Subsidiaritätsprinzip in der Sozialenzyklika ”Quadragesimo anno” (1931/Papst Pius XI): ”Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.” (Nr. 79)
Seither ist es fortentwickelt, konkretisiert und in seiner doppelten Bedeutung klärend erläutert worden, nicht zuletzt weil es in Gefahr stand (und steht), vereinnahmt zu werden von Vertretern einer Politik der Rechte des Stärkeren ohne Rücksicht auf soziale Erfordernisse.
Das Gemeinsame Wort der Kirchen ”Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” übersetzt Subsidiarität in diesem Sinne einleitend mit ”Vorfahrt für Eigenverantwortung”(27) und formuliert dann erläuternd: ”Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft ist es, die Verantwortlichkeit der einzelnen und der kleineren Gemeinschaften zu ermöglichen und zu fördern. Die gesellschaftlichen Strukturen müssen daher gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität so gestaltet werden, daß die einzelnen und die kleineren Gemeinschaften den Freiraum haben, sich eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten. Es muß vermieden werden, dass die Gesellschaft, der Staat oder auch die Europäische Union Zuständigkeiten beanspruchen, die von nichtstaatlichen Trägern oder auf einer unteren Ebene des Gemeinwesens ebenso gut oder besser wahrgenommen werden könnten. Auf der anderen Seite müssen die einzelnen wie die kleinen Gemeinschaften aber auch die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt. Diese doppelte Bedeutung der Subsidiarität ist gerade in der gegenwärtigen Situation in Erinnerung zu rufen.... Es gilt, in den Betrieben wie in der Gesellschaft die vorhandenen menschlichen Fähigkeiten, Ideen, Initiativen und soziale Phantasie zum Tragen zu bringen und die Erneuerung der Sozialkultur zu fördern.” (120/121)
Das Subsidiaritätsprinzip wurde zunächst kaum über den katholischen und deutschen Raum hinaus rezipiert (noch 1991 kein Eintrag dazu in der Enzyklopädia Britannica). Erst 1992 mit dem Maastrichter Vertrag fand es allgemeine Anerkennung und spielt nun auch in der juristischen Reflexion eine zunehmend wichtige Rolle.
Der 1992 ergänzte Art. 3b des Maastrichter Vertrages lautet: ”In Bereichen, die nicht in ihre ausdrückliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nur nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips aktiv, also sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.”
Subsidiarität ist das Kompetenz- und Zuständigkeitsprinzip einer freiheitlichen und lebendigen Gesellschaft. Gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen haben ihren Ursprung und damit ihren Sinn in den sozialen Beziehungen der Personen; sie sind nicht Selbstzweck, sondern sollen diesen durch ihre Hilfe die Entfaltung ermöglichen. Deshalb sollen die Personen selbst sowie die personnäheren Gemeinschaften und Einrichtungen in Fragen der Zuständigkeit prinzipiellen Vorrang haben vor den entfernteren.
Subsidiarität im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe stellt in Zeiten der Globalisierung, Informationsflut und Risikovielfalt eine Herausforderung an Staat und Bürgerkultur dar. Subsidiarität läßt sich nicht schlicht mit ”weniger Staat” übersetzen, sondern setzt einen dynamischen Wandel der staatlichen Subsidiärfunktionen ebenso voraus, wie eine dynamische Berücksichtigung der verschiedenen Träger gesellschaftlicher Aufgaben.
Globalisierung kann sich - ohne den subsidiären Schutz lokaler Besonderheiten, kommunaler und regionaler Selbstverwaltung sowie der Partizipationsmöglichkeiten lokal betroffener Gruppen und zivilgesellschaftlicher Initiativen als eine Kraft entpuppen, die kulturelle Gleichmacherei und soziale Blindheit fördert. Daher brauchen wir gerade in Zeiten der Globalisierung eine Stärkung regionaler Integrationsprozesse gemäß der Maxime ”global denken – lokal handeln.” Zentralisierung ist um dezentrale Formen der Beteiligung, um Freiräume und Eigenverantwortlichkeiten zu ergänzen. Subsidiarität ist eine Option für Pluralismus nach dem Motto ”Einheit in Vielfalt”, nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Kirche.
4. Nachhaltigkeit – Erweiterte Solidarität in Zeiten der Globalisierung
Das Prinzip ”Nachhaltigkeit” erweitert den Gedanken der Solidarität über das Heute hinaus und ergänzt die Solidaritätsforderung so um die Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen. Es fordert eine Umkehr vom Kurzfristdenken der Wirtschaftswunderzeit zum Langfristdenken einer nachhaltigen Entwicklung. Es setzt an die Stelle der Utopie eines sich selbst tragenden Wachstums (self-sustained growth) die Vision einer zukunftsfähigen Entwicklung (sustainable development). Nachhaltige Entwicklung formuliert Grundbedingungen für eine zugleich soziale, ökologische und ökonomisch tragfähige Entwicklung vor dem Hintergrund weltweiter Gerechtigkeit. Es verdeutlicht: Unsere Kinder und Enkel hier und auf der anderen Hälfte der Erde gehören mit zur Gemeinschaft der ”Vita activa”. Das Sozialprinzip Nachhaltigkeit konkretisiert sich entsprechend
- im Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen;
- in der Solidarität der Generationen im Sozialsystem;
- in der Gestaltung der öffentlichen Finanzen (wieviel Verschuldung und Rücklagen und wofür?);
- in den notwendigen Zukunftsinvestitionen; Prioritäten in der Spannung Konsum und Zukunftsinvestition;
- in der Verantwortung für Kinder und für Familien und der Förderung der für sie notwendigen Rahmenbedingungen
Das Gemeinsame Wort reiht „Nachhaltigkeit“ erstmals auf der Prinzipienebene in die Grundsätze christlicher Sozialethik ein (122- 125). Darauf aufbauend klärt das bischöfliche Wort ”Handeln für die Zukunft der Schöpfung” (1998), dass Schöpfungsverantwortung als Verantwortung gegenüber Mensch und Mitwelt mehr ist als Umweltverantwortung und dass Nachhaltigkeit voraussetzt, tatsächlich umzuschalten vom Kurzfrist- zum Langfristdenken. Entsprechend geht es um zweierlei:
Solidarität innerhalb einer Generation - Jeder Mensch hat das Recht auf eine intakte Umwelt und damit umgekehrt auch das Recht, globale Ressourcen in Anspruch zu nehmen, solange die Natur dadurch nicht übernutzt wird.
Solidarität zwischen den Generationen - Künftige Generationen müssen gleiche Lebenschancen haben; deshalb hat jede Generation die Erde treuhänderisch zu nutzen und nachfolgenden Generationen möglichst intakte natürliche Lebensgrundlagen zu hinterlassen.
In theologischer Vertiefung und deren gesellschaftlich-struktureller Ausdeutung verdichtet sich der Nachhaltigkeitsgedanke zum Sozialprinzip. Das Prinzip der Nachhaltigkeit stellt das Handeln auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen auf den Prüfstand. Aber es ist auch ein Prinzip, an dem sich individuelles Handeln zu messen hat - gefordert ist Bereitschaft zur Umkehr.
Subsidiaritäts- und Nachhaltigkeitsprinzip stehen in einem spannungsreichen, über ihre innere Beziehung zur Solidarität vermittelten Verhältnis der Balance: Das Subsidiaritätsprinzip ist ausgleichendes Pendant und organisatorisches Herzstück nachhaltiger Entwicklung. Es hat zur Konsequenz, dass ökologische und verteilungspolitische Imperative nicht dazu missbraucht werden, mehr Staat, mehr Reglementierung und mehr Zentralisierung zu fordern, sondern Strukturen der Freiheit und der Anpassung an die jeweiligen sozialen und natürlichen Lebensräume zu fördern. Das Nachhaltigkeitsprinzip hingegen gibt vor, in welche Richtung, mit welcher Option die Freiheitsräume einer erneuerten Vita activa zu nutzen sind. Es formuliert eine Option für das Leben - heute und morgen.
5. Kulturwechsel: Zehn Punkte einer erneuerten Kultur der Vita activa
Damit das Konzept einer auf den Prinzipien der Subsidiarität und Nachhaltigkeit fußenden erneuerten Vita activa Wirklichkeit werden kann, ist es notwendig die Sozialprinzipien Subsidiarität und Nachhaltigkeit konkretisierend in die Sprache des Alltags zu übersetzen: Wir brauchen in zentralen Bereichen neue Kulturen des Miteinanders. Sie lassen sich in 10 Punkten näher beschreiben:
1. Kultur der Zusammenarbeit: Jede und jeder, Alt und Jung tragen Mitverantwortung für unser Gemeinwesen und die gemeinsame Zukunft. Dies gilt auch besonders gegenüber den nachkommenden Generationen.
2. Kultur der Selbständigkeit und der Verantwortung: Für sich ist jeder zuerst selbst verantwortlich. Was der Einzelne zumutbar selbst leisten kann, muß er auch selbst leisten. Dafür brauchen wir Erziehung zur Eigenverantwortung und zum Engagement, die über eine Erziehung zur kritischen Distanz hinausgeht.
3. Kultur des Helfens: Wer Hilfe braucht, hat auch Anspruch darauf - durch die Gemeinschaft und den handlungsfähigen Sozialstaat.
4. Kultur der Gegenseitigkeit: An die Stelle einer Kultur des Materialismus und der Käuflichkeit sollte eine erneuerte großzügige Kultur der Gegenseitigkeit treten. Für alle gilt im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten: Wer etwas erhalten hat - von den Mitmenschen oder dem Staat -, muß auch seinen möglichen Beitrag einbringen.
5. Kultur der Gleichberechtigung: Beteiligungsmöglichkeiten müssen gleichberechtigt für Männer und Frauen geschaffen werden; geschlechtsspezifische Unterschiede dürfen nicht in geschlechtshierarchische Rollenzuschreibungen münden.
6. Neue Zeitkultur: Sich überlagernde Be- und Entschleunigungstendenzen erfordern in unserer Gesellschaft eine breite Diskussion über eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Arbeitszeit, Sozial-, Familien- und Freizeit. Dazu gehört die erneuerte Kultur des Sonntags, der Lebensrhythmen und partnerschaftlicher Aufteilung der Erziehungszeiten.
7. Kultur des Erinnerns und Urteilens: Die explosionsartige Vermehrung von leicht zugänglicher, unübersichtlicher, angehäufter Information durch Digitalisierung und Medialisierung birgt die Gefahr, gedächtnissprengend und gedächtnistilgend zu wirken. Um diese Information in gewichtetes, bewertetes, dem Urteilsvermögen unterworfenes Wissen zu verwandeln, bedarf es einer erneuerten Kultur des Erinnerns und Urteilens.
8. Kultur des Streites und des Kompromisses: Konfliktgewohnte, subsidiär organisierte plurale Gesellschaften geben nicht vor, permanente Harmonie zu erzeugen, sondern sind darauf angewiesen Auffassungsunterschiede zwischen den Konfliktparteien auszutragen, aufzuteilen und damit auszugleichen. Konflikte, die als teilbar erfahren werden, entfalten erhebliche soziale Bindungskräfte. Sie setzen eine im demokratischen Alltag geforderte Kultur des Kompromisses voraus.
9. Kultur der Integration: Eine Vita activa geht von den Beteiligungsrechten aller Bürger und Bürgerinnen aus. Entsprechend bedarf sie einer Kultur der Integration, insbesondere der bei uns lebenden Ausländerinnen und Ausländer in die partizipativen Strukturen und Verfahren der nationalen Gesellschaft.
10. Kultur der Schöpfungspartnerschaft: Als Partner Gottes zur Vollendung des Schöpfungsplanes ist der Mensch zu einer Kultur der Partnerschaft für die Natur berufen. Gestaltungsrechten stehen Gestaltungspflichten und Verantwortungen gleichberechtigt gegenüber.
6. Spurwechsel: Neues Zusammenspiel von Vita activa und Politik
Zur Verbreiterung einer Kultur der Vita activa können in erheblichem Umfang die Kräfte der Zivilgesellschaft selbst beitragen. Aber: Dem aktiven Bürger, der aktiven Bürgerin einer erneuerten Vita activa muß auch ein erneuertes Politikverständnis entsprechen. Die Rahmenbedingungen müssen so gesetzt werden, dass es im eigenen Interesse liegt, sich im Sinne des Gemeinwohls zu verhalten, Politik muß zur Eigenverantwortung ermuntern. Gerade in Bezug auf Kommunalpolitik läßt sich anschaulich machen, worum es geht:
Die Politik auf kommunaler Ebene ist ein entscheidendes Lernfeld, der Erfahrungs- und Entwicklungsraum für eine neue Beziehung von Bürger und Staat, für eine neu wachsende Verantwortungsbereitschaft. Kommunalpolitik muß sich entsprechend zuerst erneuern, um so möglichst viele Bürgerinnen und Bürger zum Mitmachen zu ermuntern.
Es geht um eine stärkere Einbeziehung der Bürger und Bürgerinnen in die Aufgaben der kommunalen Verantwortung, um die Weiterentwicklung des klassischen Verständnisses von kommunaler Selbstverwaltung. Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen sind dabei nicht nur im Sinne von Einspruchsmöglichkeiten, sondern im Sinne von dauerhaftem Engagement, andauernder Mobilisierung des Sachverstands und Einsatzbereitschaft der Bürger und Bürgerinnen für diese Aufgaben zu verstehen.
Mit dieser Zielsetzung verbunden sind neue Anforderungen an die Politiker. Sie müssen mehr Freiraum geben, "loslassen"; vordergründig auch Machtverlust hinnehmen. Dazu sind neue Fähigkeiten im Sinne der Menschenführung und des kooperativen Führungsstils und eine entsprechende Sozialkompetenz notwendig. Politiker und Politikerinnen müssen die Bürger und Bürgerinnen ernstnehmen und Ehrlichkeit zum obersten Gebot werden lassen.
Zur geforderten Erneuerung der Kommunalpolitik gehört zugleich die Förderung aller Aktivitäten, die im "vorpolitischen Raum" das Gemeinschaftsleben stärken. Es erscheint notwendig, eine deutliche Akzentverschiebung innerhalb des klassischen Verständnisses von Pflichtaufgaben und freiwilligen Aufgaben der Kommunen vorzunehmen: Eher ist bei städtischen Bauvorhaben zu sparen als bei den sogenannten "freiwilligen Leistungen". Es muß großzügig alles unterstützt und gefördert werden, was dem Gemeinschaftsleben dienlich ist.
"Entscheidungen über Richtung und Geschwindigkeit von Wirtschaft und Politik werden vor Ort getroffen. Unsere Möglichkeiten mit zu gestalten sind so groß wie die Freiräume, die wir für eine erneuerte Vita activa erkämpfen. Die Zeit ist reif."
Diskussionspapier des Arbeitskreises "Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundfragen" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, veröffentlicht mit Zustimmung des Präsidiums des ZdK auf dem 94. Katholikentag in Hamburg am 3. Juni 2000.