Hamburger Memonrandum deutscher Katholiken
Verantwortung übernehmen in der Demokratie
Deutschland hat insgesamt eine stabile und lebendige Demokratie. Unsere Demokratie ist aber auch immer wieder Belastungen und Bewährungsproben ausgesetzt. Sie bedarf der ständigen Erneuerung und Weiterentwicklung. Verschiedene Entwicklungen tragen zu einer wachsenden Distanz des Bürgers zum Staat, seinen Institutionen und zur Politik bei, etwa die Anonymität und Undurchschaubarkeit von Großstrukturen, wachsende Komplexität sowie schwindendes Vertrauen in die notwendige Sachkompetenz der Politik.
In jüngster Zeit hat unsere Demokratie durch Rechtsverstöße und Affären Vertrauensverluste bei Bürgerinnen und Bürgern erlitten. Nicht wenige wenden sich empört oder resigniert von den öffentlichen Dingen ab mit dem Ruf: seht, so sind die Politiker! Manche ziehen sich ins Schneckenhaus des Privaten zurück, oder sie verurteilen die Politik im Namen der Moral. Kein Zweifel: die Demokratie kann viel ertragen - aber wo ist der Punkt erreicht, an dem sie den Respekt verliert und nur noch äußerlich akzeptiert wird? Wie läßt sich Vertrauen, das verloren ging, zurückgewinnen? Wie kann die Bereitschaft gestärkt werden, Verantwortung in der Demokratie zu übernehmen?
Es ist auch nicht zu übersehen, dass manche in der Politik und in den Parteien beklagte Fehlentwicklungen und menschliches Versagen auch in den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen zu registrieren sind. Insoweit sind die Vorgänge in der Politik kein isoliertes Phänomen. Besondere Sorge bereitet uns dabei die Wirkung der Affären und Rechtsverstöße auf junge Menschen, zumal sie besonders hohe Ansprüche an die persönliche Glaubwürdigkeit von Politikerinnen und Politikern stellen.
Als katholische Christinnen und Christen fühlen wir uns - aus der langen Geschichte jüdisch-christlicher Tradition - verpflichtet und von Gott beauftragt, in dieser Zeit an den Voraussetzungen für ein gutes Gelingen menschlicher Gemeinschaft mitzuwirken.
1. Demokratie lebt von Verantwortungsbereitschaft
Demokratie braucht Initiative. Sie lebt von der Verantwortungsbereitschaft vieler. Rückzüge in Passivität und bloße Zuschauerhaltung gefährden sie. Vielmehr setzt sie voraus, dass sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen beteiligt, dass Bürgerinnen und Bürger bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.
Gewiss kann nicht schlicht "das Volk" in Permanenz sich selbst regieren. Heute ist Demokratie in den großen und komplexen Staaten der Gegenwart kaum anders möglich als in repräsentativen Formen. Der Zugang zu Parteien, Parlamenten, Regierungen, Ämtern muss dennoch allen Bürgerinnen und Bürgern im Maß ihrer Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft offenstehen und darf nicht durch Cliquen und Einzelgruppen mit Herrschaftsanspruch "kanalisiert" werden. Diese Offenheit ist freilich auf Dauer nur dann gesichert, wenn zu jeder Zeit genügend neue Kräfte bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und die Amtsinhaber dies nicht blockieren. Elitenaustausch ist eine Notwendigkeit in der Demokratie - was sowohl Bereitschaft zum zeitigen Kommen und Sich-Engagieren als auch Bereitschaft zum rechtzeitigen Gehen voraussetzt. Nötig hierzu ist eine positive innere Haltung beim Einzelnen und in der Öffentlichkeit, aus der sich Gewohnheiten und Regeln entwickeln können.
2. Die Verantwortung im modernen Verfassungsstaat muss transparent bleiben
Unsere Gefüge öffentlicher Verantwortung haben sich historisch aus drei Traditionen gebildet: einer griechisch-römischen, einer jüdischen und christlichen sowie einer neuzeitlichen. Die Antike entwickelte den Gedanken bürgerlicher Hingabe an den Staat, an die Polis. Das Christentum machte politisches Handeln rechenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Die Moderne gliederte die Macht auf und schuf kontrollierbare Verantwortungsbereiche.
Der moderne Verfassungsstaat schafft klare Verantwortungsräume und Verantwortungszeiten. Er macht deutlich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Abständen, vor welchen Instanzen, mit welchen Verfahren der Bestätigung oder Verwerfung. Vor allem: Er teilt die Machtausübung und macht sie dadurch der Übersicht und Kontrolle zugänglich. So tritt neben die historische Verantwortung (für die Zukunft der Polis) und die innere Verantwortung (vor dem eigenen Gewissen wie vor einer jenseitigen Macht) eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortlichkeiten in der Zeit. Diese Verantwortlichkeiten dehnen sich in der modernen Demokratie auf die ganze Breite des Staatswesens aus.
Ein großes Problem besteht heute darin, dass die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in komplexen politischen Organisationen und Institutionen immer weniger transparent sind: in den innerparteilichen Gefügen, in unserer föderalen Ordnung, im Zusammenspiel der einzelnen Staaten mit der Europäischen Union. Entscheidungskompetenzen und Zuständigkeiten müssen klar geregelt sein.
3. Ohne Vertrauen kann eine Demokratie nicht existieren
Der demokratische Rechtsstaat hat - um Machtmissbrauch zu verhindern - Machtkontrolle institutionalisiert. Diese Kontrolle fragt zunächst nicht nach dem, was in Ordnung ist, sondern nach dem, was nicht klappt. Entdeckt sie Missstände, so macht sie diese öffentlich sichtbar, veranlasst Abhilfe und verlangt nach Sanktionen.
Die Demokratie geht nicht vom idealen und unfehlbaren Menschen aus, sondern, wie auch das christliche Menschenbild, von der Versuchbarkeit und vom Schuldigwerden des Menschen. Deshalb ist die Beachtung der Regeln in der Demokratie nicht eine leere Formalität, sondern eine notwendige Sicherung für die Gestaltung des Zusammenlebens. Fehlverhalten Einzelner kommt vor allem dort zur Geltung, wo diese Regeln nicht beachtet werden, Macht nicht entsprechend kontrolliert wird. Deshalb sind eine strikte Beachtung der Regeln, die eben nicht nur „Formalitäten“ sind, eine entsprechende Gremienkultur und damit verbunden eine entsprechende Balance von Macht und Kontrolle eine wichtige Voraussetzung für die lebendige Demokratie, nicht nur in der Politik.
Dennoch kann eine Demokratie ohne Vertrauen nicht existieren. Vertrauen ist ein Zentralbegriff nicht nur des persönlichen, sondern auch des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Viele Menschen sehen auf die Person, ihre Glaubwürdigkeit, ihre Überzeugungskraft und nicht so sehr auf die Sachkonzepte, die parteipolitischen und die sonstigen Zugehörigkeiten. Das entspricht dem Umstand, dass auch in der Demokratie Macht an Menschen verliehen wird, nicht an Apparate; der urteilende und wählende Mensch muss sich an die Personen und ihre Kompetenz halten können, die den politischen Betrieb repräsentieren. Gerade für junge Menschen hat das Vertrauen in die handelnden politischen Personen eine besondere Bedeutung, da sie von diesen eine Vorbildfunktion erwarten.
Vertrauensbildung im persönlichen und im öffentlichen Bereich hängen eng zusammen - Vertrauen wird vor allem gebraucht, wo Situationen nicht gänzlich überblickbar sind, wo es darum geht, vernünftige Schritte in eine noch offene Zukunft zu tun.
Vertrauen kann also nicht einfach durch Kontrolle ersetzt werden. Wohl ist Kontrolle notwendig, damit Vertrauen sich bilden, damit es wachsen kann. Zu Recht verlangen die Bürger klare Gesetze, die für alle gelten und deren Verletzung ohne Ansehen der Person verfolgt wird. Zur Machtausübung gehört auch die wirksame Kontrolle der Macht. Erst wenn dies gesichert ist, wird der Einzelne bereit sein, Regierenden den nötigen Vertrauensvorschuss zu geben - auf Zeit - und mit der Möglichkeit der Revision.
Vertrauen ist nötig. Aber es darf kein ungedeckter Wechsel sein. Misstrauen ist lästig. Aber es kann ein wichtiges Frühwarnsystem darstellen. Auf dem Feld der Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten entscheidet sich letztlich, ob eine Demokratie Verlässlichkeit, Sicherheit und Stabilität gewinnt oder ob sie unsicher und labil eine Krise nach der anderen erlebt.
4. Mangel an Verantwortung entstammt dem Mangel an Vertrauen
In der rechtsstaatlichen Demokratie ist alle Politik rechenschaftspflichtig vor dem Gewissen, vor parlamentarischen und gerichtlichen Instanzen. In steigendem Maße verlangt die Kontrollgewalt der öffentlichen Meinung nach Rechenschaft und beeinflusst die Verhaltensweisen der politisch Handelnden.
Das Übergewicht äußerer Sicherungen droht manchmal eher zum Stillstand als zur Kontrolle der Politik zu führen. Zugleich droht die Verantwortung des Politikers und der Politikerin vor Gott und dem Gewissen in den Hintergrund zu rücken. Gewissensbildung und Selbstprüfung scheinen nicht mehr nötig zu sein, seitdem die äußeren Kontrollmechanismen zu kaum mehr überbietbarer Dichte gesteigert wurden. Da aber in Krisenfällen übersteigerter Einsatz, Geltungsbedürfnis oder ein verselbstständigtes Streben nach Macht immer wieder durchbrechen, versagen diese äußeren Mechanismen gerade dann, wenn sie wirksam werden sollen. Im Krisenfall, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und politisch Handelnden besonders gefordert ist, fehlt all zu oft das geschärfte Gewissen und die Verantwortungspflicht. In jedem Fall bleiben Vertrauen und Verantwortung in einer Wechselbeziehung; denn nur wer Vertrauen gibt, kann auch im Gegenüber Verantwortung wecken, nur wer Verantwortung wahrnimmt, kann auch Vertrauen erwarten. Das Vertrauen auf die Verrechtlichung allein jedenfalls reicht nicht aus.
Eine Wendung zum Besseren muss heute von beiden Seiten, von Politikern wie Bürgern, ausgehen: nicht nur von Politikern ist ein Minimum ethischen Verhaltens einzuklagen, wie es heute allenthalben und manchmal allzu lautstark geschieht - auch der demokratische Souverän, d. h. das Volk muss Interesselosigkeit, Ohne-mich-Haltung, ja manchmal eine neidige Voyeurs-Haltung mit moralischem Anspruch in seinen eigenen Reihen viel entschiedener entgegentreten. Letztlich wird eine ethische Orientierung, ein Ethos der Politiker erschwert, solange im Wahlverhalten diese Orientierungen keine entsprechende Bedeutung haben.
Die Menschen in der Politik bedürfen nicht nur der Kontrolle und einer womöglich misstrauischen Begleitung, sie bedürfen vor allem auch der Ermutigung und der Bestärkung. Und sie brauchen auch die Erfahrung, dass Fehler und Versagen nicht mit unbarmherzigen Inszenierungen und öffentlichen „Hinrichtungen“ beantwortet werden. Gerade als Katholiken haben wir hier für die Pflege der politischen Kultur eine besondere Verantwortung.
Der Stand und die Entwicklung der politischen Kultur stehen immer mehr in einer engen Wechselbeziehung zur Kultur in den Medien. Gerade in der Demokratie ist die Politik auf die öffentliche Wirkung, auf die Aufmerksamkeit der Medien und deren Berichterstattung angewiesen.
5. Demokratie lebt von der Leidenschaft für argumentativ ausgetragenen Streit um die sachgerechte Politik
Demokratie heißt Wettstreit um die besseren Argumente und politischen Konzeptionen. Dabei ist es schwer, Nüchternheit zu verbreiten unter Aufgeregten, es ist schwer, nein zu sagen, wo alles zustimmt, es ist manchmal auch schwer, Verständnis für die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu wecken - Verständnis dafür, daß Problemlösungen nicht einfach vorgegeben sind, sondern sich aus der Auseinandersetzung selbst, im Weg von Versuch und Irrtum, entwickeln müssen. Unsere Verfassung ist ja nicht ein Stück Staatsmetaphysik, sie hat einen durchaus irdischen Sinn und Zweck, sie will auf der Basis fundamentaler Gemeinsamkeiten Streitaustrag in geordneten Formen möglich machen. Konsens und Konflikt stehen deshalb in einer Demokratie nicht in einem Gegensatz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis. Eines ist nicht ohne das andere zu denken. So kann es gefährlich sein, den emotionalen Sturm von Wahlkämpfen und parlamentarischen Auseinandersetzungen zu entfesseln, wenn man nicht über das Widerlager eines tragfähigen Fundamentalkonsenses verfügt. Aber nicht minder gefährlich kann es sein, den Konfliktaustrag durch Homogenitätsforderungen zur Unzeit einzuschränken; denn auch Streit, der unterdrückt und nicht ausgetragen wird, kann ein Gemeinwesen schädigen.
Während in den sechziger und siebziger Jahren der Fundamentalkonsens oft durch eine jähe Ausdehnung der Konflikt felder bedroht wurde, zeigt sich heute vielfach eine umgekehrte Tendenz. Durch eine als verbindlich vorgegebene und dekretierte Politiksicht soll die Breite des politisch-parlamentarischen Streitaustrags begrenzt werden. Man muss daran erinnern, dass der Grundkonsens in einer Demokratie im wesentlichen auf Ordnungen, Verfahren und die ihnen zugrundeliegenden Werte begrenzt bleibt. Die Lösung aller neu auftretenden Probleme ist damit nicht gegeben. Sie müssen eigens neu thematisiert und "in den Streit gestellt" werden. So verlangt es eine funktionierende Demokratie. Demokraten haben Freude am argumentativ ausgetragenen Streit.
Nicht von ungefähr hat man deshalb den Kompromiss als Prüfstein der Demokratie bezeichnet. Darin wird deutlich, dass diese Form der Verständigung und des Interessenausgleichs in der Demokratie unter einem sittlichen Anspruch steht und eine eigene sittliche Dignität hat. Fair sind Kompromisse freilich nur dann, wenn sie auch die Interessen all derer berücksichtigen, die von den Entscheidungen betroffen sind. Nicht alle Werte, Ansprüche und Güter sind „kompromissfähig“ und können gegeneinander aufgewogen werden. Die unabschließbare Suche nach fairen Kompromissen ist ein ausgezeichnetes gesellschaftlich-politisches Lernfeld und ein Mittel zur Förderung des sozialen Friedens.
6. Ringen um das Gemeinwohl statt Parteivorteil
Einer der tieferliegenden Gründe der gegenwärtigen Vertrauenskrise besteht darin, dass die Kernerwartung der Bürger, Politik müsse Probleme lösen, nicht erfüllt wird.
Es mangelt nicht an präzisen Diagnosen bzgl. zentraler Reformnotwendigkeiten der Gegenwart. Dennoch gelingt es kaum, einen vernunftorientierten Diskurs zu organisieren und zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen. Zu oft dominierte und dominiert Parteitaktik das Vorgehen. Die Gemeinwohlorientierung aller Beteiligten wird all zu oft vernachlässigt. Die Politik steht freilich im Spannungsfeld zwischen der allgemeinen Einsicht in notwendige Reformen und weithin praktiziertem persönlichen Verhalten, wenn man von solchen Reformen selbst betroffen ist. Die Bürger und die einzelnen organisierten Interessen müssen ihre Belange auch am Gemeinwohl orientieren. Sie dürfen sich nicht nur ausschließlich auf ihren eigenen Interessenstandpunkt zurückziehen. Die Summe der Einzelinteressen ergibt kein Gemeinwohl.
In diesem Zusammenhang ist auch das sogenannte Geschlossenheitsdogma der Parteien zu sehen. Es meint, wenn es zu einem bestimmten Sachthema nur eine Position innerhalb der Partei gebe, könne die Partei überzeugen. Mittel- und langfristig betrachtet schadet ein solches Geschlossenheitsdogma jedoch den Parteien selbst, dem Gemeinwohl und der Demokratie.
Für die Lebendigkeit der Demokratie und vor allem für die Sachkompetenz der Parteien und der Politik ist eine lebendige innerparteiliche Diskussion Voraussetzung. Nur so können die Parteien die entsprechende Sachkompetenz entwickeln und die verschiedenen Interessen letztlich zu einem Miteinander führen. Diese Notwendigkeit steht in einer Spannung zu dem Verhalten der Wähler, die auf öffentlich kontroverse Diskussionen in den Parteien in aller Regel mit Vertrauensentzug reagieren. Innerparteiliche Demokratie, lebendiger Diskurs ist deshalb nicht nur eine Aufgabe für die Parteien, sondern eine notwendige Einsicht für die Wählerinnen und Wähler.
Den jetzt feststellbaren Defiziten bei Parteien entspricht ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft bei den Bürgerinnen und Bürgern. Viele meinen, es sei genug, sich an Wahlen zu beteiligen; zu viele meinen, auch darauf verzichten zu können. Lediglich 4 % der Bevölkerung engagieren sich parteipolitisch. Das ist entschieden zu wenig.
7. Ein neues Mitwirken fördert eine aktive Zivilgesellschaft
Das Grundgesetz hat sich für eine Demokratiekonzeption pluralistischer Konkurrenz entschieden. Dabei kommt den politischen Parteien (Art. 21), den Abgeordneten des Deutschen Bundestages (Art. 38) und der Länderparlamente ebenso wie den Mandatsträgern in den kommunalpolitischen Gremien der Städte und Gemeinden (Art. 28, Art. 50) eine Schlüsselrolle für die demokratische Willensbildung des Volkes und für die Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme zu politischen Zielen zu. Was die politische Willensbildung des Volkes angeht, so haben die Parteien allerdings kein Monopol. Die mit Grundrechten ausgestatteten Bürger, die öffentliche Meinung (Art. 5), die Vereinigungen der Bürger und Interessen, insbesondere die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die so genannten Koalitionen (Art. 9 Abs. 3) sowie die Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 140) sind starke Mitgestalter bei der politischen Willensbildung des Volkes. Hier ist der im Grundgesetz vorgesehene Ort für die Arbeit im vorparlamentarischen Raum, der heute oft unter dem Begriff Zivilgesellschaft zusammengefasst wird. Politische Willensbildung, wie sie sich das Grundgesetz vorstellt, geht jedenfalls in der Regel aus dem Meinungsstreit dieser vielfältigen Kräfte hervor.
Für die Parteien heißt das, nur eine Partei, die eine "lernende Organisation" ist, hat Zukunft. Dies erfordert eine Veränderung der gängigen Parteikulturen, insbesondere eine Öffnung gegenüber den zivilgesellschaftlichen Initiativen und ein Selbstverständnis der Parteien als Teil der Zivilgesellschaft. Umgekehrt setzt dies für die zivilgesellschaftlichen Initiativen das Wachsen der Erkenntnis voraus, dass es für die Parteien keinen Ersatz gibt. Von der Qualität der Parteien, ihrem Personal und der Fähigkeit ihrer Kommunikation mit der Gesellschaft hängt die Qualität unseres Staatswesens entscheidend ab. Öffentliches Engagement, auch das in Parteien, muss aufgewertet werden. Ansonsten werden wir auf Dauer nicht genügend Menschen für dieses Engagement finden. Das Engagement in zivilgesellschaftlichen Initiativen außerhalb der Parteien sollte Transferwege in die Parteistrukturen suchen. Darüber hinaus müssen Orte geschaffen bzw. gefördert werden, in denen heranwachsende Bürgerinnen und Bürger Demokratie durch „learning by doing“ einüben können.
8. Die Tradition des politischen Katholizismus verpflichtet uns zum Mittun
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken weiß sich der großen sozial- und gesellschaftspolitischen Tradition des deutschen Katholizismus verpflichtet. Vor allem in der jungen Bundesrepublik erreichten katholische Verbände und Organisationen eine höchst wirksame Vermittlung ihrer Anliegen in die Politik, insbesondere auf dem Weg über die Parteien.
Heute ist es - unter den Bedingungen einer viel stärker pluralen Gesellschaft - schwieriger geworden, eine solche Wirksamkeit zu erreichen.
Der Weg zu wirksamer Vermittlung unserer Anliegen wird unter den heutigen Bedingungen nur über eine Anerkennung der gesellschaftlichen und politischen Pluralität unserer Zeit führen. Kritische Zeitgenossenschaft und solidarisches Zeugnis sind Wegmarkierungen für Christen in der pluralen Gesellschaft. Nur wenn wir uns als Christen bekennen und uns nicht nur in den Wertekonsens, sondern auch in den Wertestreit dieser Gesellschaft mit ganzer Kraft einbringen, werden wir diesem Anspruch gerecht. Kritisch sein und solidarisch sein stellen wir nebeneinander. Kritisch zu sein nimmt heute jeder für sich in Anspruch und nur zu oft ist es eine Begründung, um sich von Verpflichtungen loszusagen und sich vom Einsatz für andere und für das Gemeinwohl zu dispensieren. Kritisch sein heißt für uns, diese Zeit, diese Politik, diese Wirtschaft und diese Gesellschaft im Lichte des Glaubens zu sehen und zu beurteilen. Solidarisch sein heißt vor allem, sich für das Gemeinwohl, für die Zukunft und für die nachfolgenden Generationen einzusetzen.
35 Jahre nach der feierlichen Verabschiedung der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", durch das II. Vatikanum kommt es heute darauf an, die in dieser Programmschrift formulierten Einsichten über die Aufgaben der Kirche in der Welt von heute auch Wirklichkeit werden zu lassen. Für uns bedeutet das, mit den Menschen unserer Zeit und ihrer Orientierungsnot solidarisch zu sein und auf der Grundlage unseres Glaubens an menschenwürdigen Lösungen gesellschaftlicher Probleme mitzuarbeiten. Natürlich tragen wir selbst an der Not der Orientierung in einer sich rasch verändernden Welt und beanspruchen keine Sachkompetenz, die anderen nicht auch zugänglich wäre. Aber mit der Frohen Botschaft ist uns eine Quelle der Erneuerung geschenkt, aus der wir leben und in dessen Licht wir die öffentlichen Dinge betrachten. Unser Glaube gibt uns eine Wertegrundlage, ohne die Sachentscheidungen rasch im Morast der Beliebigkeit und des Eigennutzes zu versinken drohen. Dabei wissen wir, dass die christlichen Werte und Wahrheiten stets der lebendigen Vermittlung in eine konkrete Wirklichkeit hinein bedürfen.
9. Demokratie braucht christliche Politikerinnen und Politiker - in allen demokratischen Parteien
Der sachbezogene Diskurs, der zielführend ausgetragene Streit um die besseren politischen Konzepte und die Dignität des um der Sache willen geschlossenen Kompromisses, diese Kennzeichen markieren den Weg der Demokratie.
Christliche Beiträge zur demokratischen Politik werden insbesondere von jenen Christen erbracht, die sich in einer dem Grundgesetz verpflichteten Partei engagieren. Das II. Vatikanische Konzil hat ausdrücklich festgestellt, dass Christen in der gleichen politischen Sachfrage bei gleicher Gewissenhaftigkeit zu unterschiedlichen Urteilen kommen können. Niemand hat dabei das Recht, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen. Christen müssen sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie in einem offenen Dialog die Argumente austauschen und sich auch dann, wenn sie als politische Gegner erscheinen, verpflichten, einander zu achten und stets darum zu bemühen, die Meinungen und Gründe der politischen Gegner zu verstehen (vgl. GS 43).
Papst Johannes Paul II. hat in dem Schreiben über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt festgestellt: "Um die zeitliche Ordnung im genannten Sinn des Dienstes am Menschen christlich zu inspirieren, können die Laien nicht darauf verzichten, sich in die <Politik' einzuschalten, das heißt in die vielfältigen und verschiedenen Initiativen auf wirtschaftlicher, sozialer, gesetzgebender, verwaltungsmäßiger und kultureller Ebene, die der organischen und systematischen Förderung des Allgemeinwohls dienen. Wie die Synodenväter wiederholt feststellten, haben alle und jeder einzelne die Pflicht und das Recht, sich an der Politik zu beteiligen, wenn auch auf verschiedener und komplementärer Weise und Ebene und aufgrund verschiedener und komplementärer Aufgaben und Verantwortungen." (Christifideles laici Nr. 42)
Christen müssen sich im Dialog und im politischen Wettstreit bewähren. Sie sind nicht Schiedsrichter, sondern Mitspieler. In den Debatten um die Beantwortung der sozialen Frage rief Ludwig Windthorst 1890 den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Katholikentages zu: "Dies ist nicht die Zeit, die Schlafmütze über den Kopf zu ziehen!" Heute bekräftigen wir dieses Wort mit Nachdruck.
10. Demokratie lohnt jede Anstrengung
Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine Staatsform voller Spannungen und Kräfte, in steter Bewegung, nie zur Ruhe kommend. Sie ist eine für alle Beteiligten im wahrsten Sinne des Wortes anspruchsvolle und anstrengende Form der Organisation der Gesellschaft. Politisches Handeln ist immer vorläufig und unvollkommen. Daran erinnern wir, weil immer wieder die Realität der demokratischen Staatsform mit der Schwerfälligkeit und Kompromisshaftigkeit ihrer Willensbildung und Entscheidungen als Gegenüber angeblich einfacher, vermeintlich richtiger und wahrer Lösungen der Aufgaben in Frage gestellt wird. Das Verlangen nach Vollkommenheit kann und will der Staat des Grundgesetzes aber um seiner Freiheitlichkeit wie Friedlichkeit willen nicht befriedigen.
Unsere Demokratie, mittlerweile mehr als 50 Jahre alt, hat bisher viele Krisen, auch schwere, gemeistert. Sie sollte sich auch in Zukunft bewähren: nicht nur in Krisenzeiten, sondern vor allem im Alltag. Den Alltag aber gestalten wir alle, die Regierenden und die Regierten, die Bürgerinnen und Bürger und ihr Staat.
Beschluss der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 30. Mai 2000