Die Gottrede von Juden und Christen unter den Herausforderungen der säkulären Welt.

Symposium des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)

Die Gottrede von Juden und Christen unter den Herausforderungen der säkularen Welt

Symposion des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim Zentral­komitee der deutschen Katholiken am 22./23. November 1995 in der Katholischen Akademie Berlin
 

 

Inhalt

                                                                                      
 

 

Prof. Dr. Hanspeter Heinz

Vorwort                                                                                                    

Bericht über die Eröffnung                                                            

Erster Arbeitsteil: Säkulares Denken und die Gottesfrage

Prof. Dr. Dieter Henrich                                   

Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne? Sechzehn Thesen                                                          

Prof. Dr. Johann-Baptist Metz

Wie rede ich von Gott angesichts der säkularen Welt?                           

Bericht über die Plenumsdiskussion                                                  

Zweiter Arbeitsteil: Juden und Christen vor der Gottesfrage heute

Prof. Dr. Zwi Werblowsky

Was würde ich einem Juden vorschlagen, wenn er in dersäkularen Welt von Gott sprechen will?                                                      

Prof. Dr. Bernd Jochen Hilberath

Was würde ich einem Christen vorschlagen, wenn er inder säkula­ren Welt von Gott sprechen will?                                   

Bericht über die Plenumsdiskussion                                                            

Dritter Arbeitsteil:Die Gottrede von Juden und Christen unter denHeraus­forde­rungen der säkularen Welt

Bericht über das Podiumsgespräch der Referenten                       

Bericht über die Plenumsdiskussion                                                

Prof. Dr. Ernst-Ludwig Ehrlich                           

Schlußplädoyer                                                                                      

Prof. Dr. Josef Wohlmuth                                 

Schlußplädoyer                                                                                      

Teilnehmerverzeichnis                                                                           

 

Prof. Dr. Hanspeter Heinz

Vorwort

Schon in seiner ersten Arbeitsphase stieß der 1971 im Zentralko­mitee der deutschen Katholiken eingerichtete Gesprächskreis "Juden und Christen" zum unterschiedlichen Verhältnis beider Partner zum Einen Gott Israels vor. Das dokumentiert unsere Erklärung von 1979 "Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christ­lichen Gesprächss". Bis heute ist sie die Grundlage unserer theologischen Auseinandersetzung wie auch unserer Zusammenarbeit im Dienst der Überwindung der fast zweitausendjährigen Entzwei­ungsgeschichte zwischen Christen und Juden und im Dienst ihres gemeinsamen Handelns und Zeugnisses in der Welt. In einem mehr­jährigen Klärungsprozeß haben wir zu der Übereinstimmung gefun­den, daß das Ziel der Heilsherrschaft Gottes in der Welt- geschich­te, das Wissen, vom selben Gott berufen und erwählt zu sein, und die Erkenntnis des Auftrags zur unbedingten Gottes- und Menschen­liebe uns engstens miteinander verbinden. Wir mußten freilich auch den Dissens im Konsens aushalten, da uns vor allem das christliche Bekenntnis zum menschgewordenen Gottessohn trennt. Hier steht Glaube gegen Glaube, Zeugnis gegen Zeugnis. "Um Gottes willen" bzw. "um des Himmelreiches willen" - nicht bloß aus Grün- den humaner Toleranz und der Achtung der Religionsfreiheit - muß uns der Heilsweg des je anderen interessieren. Wir sollen uns existentiell vom Glaubenszeugnis des Partners befragen lassen, aber keiner darf erwarten, der andere möge seine Berufung zurück­nehmen oder abschwächen. In diesem Verständnis und dieser Praxis unseres christlich-jüdischen Dialogs sehen wir ein großes Hoff­nungszeichen für die um Einheit ringende Welt.

Als wesentliche Aufgaben, denen sich Juden und Christen um der Zukunft der Menschheit willen stellen müssen, formulierten wir damals unter anderem: "Wie ist es angesichts des geschehenen Massenmordes an Juden und der versuchten Ausrottung des jüdischen Volkes noch möglich, an Gott zu glauben? ... Was bedeutet es angesichts einer nach wie vor polytheistischen Welt (Götter haben heute nur andere Namen), daß Juden und Christen an einen Gott glauben? Können und müssen nicht Christen und Juden in einer Welt, deren Kriege im wesentlichen immer noch Religionskriege sind (was leicht plausibel wird, wenn man an die Stelle von Religion das Wort 'Ideologie' setzt), aufgrund ihrer Offenbarung gemeinsam eine Ideologiekritik entwickeln?"

Die "Theologischen Schwerpunkte" gelten uns freilich nicht als ein gesicherter Besitzstand, über den wir schon fünfzehn Jahre lang "verfügen". In drei Etappen hat sich der Gesprächskreis seitdem von der Gottesfrage her den Herausforderungen der säkula­ren Welt erneut gestellt und den Ertrag seiner Diskussionen jeweils publiziert, um den "Zirkel der Eingeweihten" für den größeren Kreis der Glaubenden bzw. der Suchenden und Interessier­ten zu öffnen.

Ein erster Vorstoß war das internationale Expertengespräch von Simpelveld und Aachen 1983, das zwei Jahre später im Herder-Ver­lag unter dem Titel erschien "Damit die Erde menschlich bleibt. Gemeinsame Verantwortung von Juden und Christen für die Zukunft". In Sorge um die Erhaltung des Weltfriedens, um eine größere Gerechtigkeit bei der Verteilung der sich verknappenden Güter der Erde und angesichts des Unterfangens der Moderne, durch Wissen­schaft, Technik und Wirtschaft Bedingungen des Lebens global zu bestimmen, stellten wir uns der sozialethischen Grundfrage: Welches sind im Blick auf die Zukunft der Menschheit die Juden und Christen gemeinsam verpflichtenden ethischen Normen und Maximen? Wir konnten uns nicht der weitverbreiteten Meinung anschließen, das Wichtigste sei, ganz konkrete, umsetzbare Antworten auf die neu bedrängenden Fragen zu finden und bezüglich der Begründungen agnostisch mit den Schultern zu zucken, da es im Laufe der Jahrhunderte in der Begründungsfrage immer die größten Differenzen gegeben habe. Trotz der Bandbreite der Begründungen waren wir uns im zentralen Anliegen einig: im Ringen darum, wer uns in Dienst nehme und wie wir in die Unbedingtheit der Verant­wortung gerufen würden. Aus dem Hören auf diesen Ruf und der aus ihm gewährten Ermächtigung erwarteten wir die richtungweisende Antwort. Als verläßlichen Grund hatten wir erfahren: das Zeugnis für Gott, für seine Schöpfung, für den Menschen als Gottes Ebenbild, das Zeugnis, daß er uns zum Dienst gerufen hat, daß wir für ihn einstehen, daß wir nicht über ihn verfügen dürfen, daß er vor allem für uns dasein will - auch gerade noch einmal dort, wo das Wort Gott nicht so leicht über die Zunge geht. Wo das Zeugnis wieder überzeugt - so meinten wir -, wächst auch die Hoffnung, die Aufgaben der Gegenwart zu lösen. Auf der Grundlage des Dekalogs entwickelten wir in Umrissen eine menschengerechte Ethik, die wir über den jüdisch-christlichen Kulturkreis hinaus für konsensfähig hielten.

Ein zweiter Einschnitt war die Herbstvollversammlung des Zentral­komitees der deutschen Katholiken 1988. Zum Ereignis wurde die Aussprache über die Erklärung unseres Gesprächskreises "Nach 50 Jahren - wie reden von Schuld, Leid und Versöhnung?". Erstmals in seiner 150jährigen Geschichte waren zwei Juden, Rabbiner Marcel Marcus und Prof. Dr. Ernst-Ludwig Ehrlich, in das höchste natio­nale Laiengremium eingeladen. Diesmal ging es um ein neues Verhältnis zur Geschichte, die Juden und Christen bis heute viel mehr trennt als Glaubensdifferenzen und theologische Streitpunk­te. Wie können Juden und Christen, von denen die meisten die Hitlerdiktatur nicht mehr erlebt haben, je auf ihre Weise mit ihrer Trauer über die grauenvolle Vergangenheit, besonders über die Shoah, in ehrlicher Erinnerung umgehen, ohne die eine Versöh­nung - nicht Vergebung - unmöglich ist? Auch bei dieser Problema­tik, die tiefe Wunden aufriß, wurden wir wiederum mit der Gottes­frage konfrontiert. Es geschah weniger im Sinn der Theodizee - Wo war Gott in Auschwitz? - als vielmehr in der Suche nach einer Möglichkeit, Schuld und Leid in Gegenwart der anderen vor Gott zu tragen, statt sie zu verdrängen und zu fixieren. Bei der Vertie­fung in unsere liturgischen Traditionen machten wir die überra­schende Entdeckung, daß wir offensichtlich beim selben Gott "in die Schule gegangen" sind. So fanden wir den Schlüssel zu unter­schiedlichen Wegen der Versöhnung für Juden und für Christen, auf denen wir uns jedoch gegenseitig helfen können. Aber dieses Ergebnis riß bald wieder neue Fragen auf.

Nach den Grundfragen der Ethik und der Geschichte im Kontext der Gottesfrage fand die dritte Konfrontation mit den Herausforderun­gen der säkularen Welt auf dem Berliner Symposion 1995 statt, das im Gesprächskreis einen dreijährigen Vorlauf hatte. In Berlin wurde die Gottrede selbst ins Zentrum gerückt. Im Vorfeld hatten wir es kaum weitergebracht, als die Brisanz und die Dimensionen der Problematik zu klären, nur ansatzweise haben wir Antworten andiskutiert. Angesichts der konfliktträchtigen Auslegungsge­schichte, die die gemeinsame Hebräische Bibel in der Geschichte des Judentums und des Christentums gefunden hat, und des unlösba­ren Zusammenhangs zwischen dem Gott Israels, dem Volk Israel und dem Land Israel, in den Christen nicht eintreten können, standen vor allem folgende Fragen im Raum: Lesen Juden und Christen wirklich dieselbe Bibel? Anders gewendet: Spricht derselbe Gott durch dieselben Texte anders zu Juden als zu Christen? Gestattet das Verbot, sich von Gott - aber auch vom Menschen und vom Sinn der Geschichte - ein Bild zu machen, überhaupt eine theologisch­-philosophische Rede über Gott? Aber wie ist ohne sie im Ernst eine Rede zu Gott, im persönlichen Gebet wie in der Liturgie, verantwortbar? Verstärken nicht zusätzlich der wissenschaftliche Diskurs seit der Aufklärung sowie die Konfrontation mit den Weltreligionen die Notwendigkeit einer intellektuellen redlichen Vergewisserung, was Gottrede in Wahrheit meine? Wie ist mit dem Paradox umzugehen, daß Juden und Christen so wenig darüber sagen können, wer Gott ist, wohl aber so klar und eindeutig, was sein Wille sei: das unabdingbare Gebot der Liebe? Wenn sich aber in seinem Willen das Herz Gottes offenbart, könnte dann vielleicht die Ethik neu den Zugang zur Ontologie öffnen? Und schließlich im Blick auf die Zeitgenossen: Von welchen existentiellen Erfahrun­gen in den Tiefenschichten des Menschen und unserer gottvergesse­nen Zeit kann die Gottrede ihren Ausgang nehmen, und zwar so, daß sie wiederum über den "Zirkel der Eingeweihten" hinaus verstehbar und wirksam wird?

Das Symposion, das die Fragen vorangetrieben, aber keines­wegs befriedigend geklärt hat, ist durch diese Dokumentation der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Statt einer eigenen Zusammenfassung verweise ich lieber auf die Schlußplädoyers von Herrn Ehrlich und Herrn Wohlmuth, in denen sie als Jude und als Christ auf ihre Weise Bilanz gezogen haben.

Bericht über die Eröffnung

Die Tagung wird eröffnet durch die Präsidentin des Zentralkomi­tees der deutschen Katholiken (ZdK), Rita Waschbüsch. Sie dankt dem Gesprächskreis "Juden und Christen" für die Planung und Durchfüh­rung dieser Tagung und weist auf die große Bedeutung des Kreises für das ZdK hin. Er sei 1971 im Gefolge des Zweiten Vatikani­schen Konzils entstanden, als die Kirche zum erstenmal offiziell in der Konzilserklärung "Nostra aetate" einen Schluß­strich unter ihre verhängnisvolle Haltung gegenüber dem Judentum gezogen habe. Seitdem habe der Kreis in dem katholischen Laien­gremium eine wichtige Aufgabe wahrgenommen, die besonders im jüdisch-christlichen Programmteil der Katholikentage öffentlich sichtbar wurde. Der Gesprächskreis habe vielbeachtete Erklärun­gen, zum Beispiel zur gemeinsamen Verantwortung gegenüber der Schöpfung, zum jüdischen und christlichen Verständnis von Schuld, Leid und Versöhnung sowie zum Karmel in Auschwitz verabschiedet. Bedeutsam seien auch die Reisen zu jüdischen und christlichen Dialogpart­nern in Israel, USA, Ungarn und Polen gewesen. Durch all diese Aktivitäten sei das gegenseitige Verständnis gewachsen. Frau Waschbüsch dankt vor allem den jüdischen Mitglie­dern des Kreises für ihr Engagement und bezieht in ihren Dank auch alle ein, die dem Kreis früher angehört haben. Das Tagungs­thema "Wie können wir in der heutigen Welt gemeinsam von unserem Glauben an Gott reden?" werde in dieser Weise wohl zum erstenmal von Juden und Christen gemein­sam behandelt.

Bei der namentlichen Begrüßung einzelner Teilnehmerinnen und Teilnehmer beginnt sie mit der Präsidentin des Berliner Abgeord­netenhauses, Dr. Hanna-Renate Laurien, die auch langjähriges Mit­glied des ZdK ist. Sie freut sich, daß auch zwei Bischöfe der Einladung gefolgt sind: Weihbischof Stanislaw Gadecki aus Gnesen und Weihbischof Karl Reger aus Aachen, die in Polen und Deutsch­land Kommissionen vorstehen, die sich mit Fragen des Judentums befassen. Stellvertretend für alle Fach­theologen begrüßt sie Prof. Dr. Franz Mußner, den Nestor des theologischen Bemühens um ein christliches Neuverständnis des Judentums, und Rabbiner Prof. Dr. Albert Friedlander, der auf mehreren Katholik­entagen den christlich-jüdischen Dialog besonders gefördert habe. Von den Politikern werden Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer, Wissenschaftsmi­nister in Sachsen und Vizeprä­sident des ZdK, sowie Prof. Dr. Richard Schröder genannt, dessen wegweisende Rede auf dem Dresde­ne­r Katholikentag 1994 vielen bekannt sei. Als Referenten der Tagung heißt die Präsi­dentin die Professo­ren Dr. Dieter Henrich (Mün­chen), Dr. Johann Baptist Metz (Wien), Dr. Bernd-Jochen Hilberath (Tübingen) und Dr. R.J. Zwi Werblowsky (Jerusalem) herzlich willkom­men. Schließ­lich dankt sie der Katholischen Akademie für die gewährte Gast­freund­schaft in Berlin, an der Nahtstelle zwi­schen ­0st und W­est.

Prof. Dr. Hanspeter Heinz, Vorsitzender des Gesprächs­kreises "Juden und Christen", begrüßt auch die evangelischen Kollegen Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken und Prof. Dr. Wolf Krötke mit Gattin. Zur persönlichen Einfüh­rung in die Gottesfrage erzählt er, wie er in seinem Gottesver­ständnis auf drei unter­schiedliche Grundformen gestoßen sei. In einer ersten Phase, als Student, sei ihm völlig unver­ständlich gewesen, wie ein geschei­ter Mensch ni­cht an Gott glauben könne, da er sich doch in der ganzen Geschichte und Natur klar manife­stiere. In einer zweiten Phase seien ihm alle univer­salen Sinn­vorgaben fragwürdig gewor­den, viele dogmatische Setzun­gen habe er nicht mehr mitvollziehen können. An dieser Problem­atisierung habe der Gesprächskreis wesentlichen Anteil, indem er das Leid der Juden in Auschwitz und die Verantwortung der Kirchen und Christen so intensiv bedacht habe. In der gegenwärtigen dritten Phase erscheine ihm die Gottesfrage in der Gesellschaft verdächtig harmlos, weil viele Menschen allzu leichtgläubig und leichtfertig von Gottes Allge­gen­wart reden.

Er bezieht sich sodann, wie schon die Präsidentin, auf die Arbeit des Gesprächskreises, in der die Gottesfrage bei allen Themen präsent gewesen sei, wenn sie auch nicht immer im Vordergrund gestanden habe. Juden hätten schon nach wenigen Jahren ge­fragt: "Seid ihr Christen auch um Gottes willen an uns interes­siert?" Dieselbe Frage hätten die Christen sodann an die Juden gerich­tet. Es habe sich, um ein anderes Thema zu nennen, beim Nachdenken über Schuld und Versöhnung gezeigt, da­ß Juden und Christen bei demselben Gott "in die Schule gegangen" seien.

Unmittelbarer Anlaß für die Tagung seien zwei Fragekomplexe gewesen, die seit der Kölner Klausurtagung des Gesprächskreises vor drei Jahren zu kontroversen Debatten geführt hätten. Edna Brocke habe damals die provozierende These vertreten, für sie als Jüdin sei es nicht denkbar, daß Christen in das intime Verhältnis des Volkes Israel zum Gott Isra­els einbezogen zu würden. Sollte das heißen, daß Juden und Christen nicht an denselben Gott glauben? Werner Trutwin habe die andere Frage angestoßen, wie man aufgeschlosse­nen Menschen in einer säkularen Gesellschaft unsere theologischen "Spezialthemen" zum christ­lich-jüdischen Verhältnis nahebringen könne. Grundlegende Glau­bensthemen dürften nicht nur in Expertenzirkeln behandelt werden, sondern müßten auch in der modernen Lebenswelt verstanden und wirksam werden. Diese beiden Impulse hätten den Anstoß zum Berliner Symposion gegeben.

Zum Schluß dankt Herr Heinz der Gruppe, die das Symposi­on kon­zeptionell und organisatorisch gründlich vorbereitet hat: Ruth Geyer, Burkhart Reichert, Prof. Dr. Josef Wohlmuth und Dr. Wilfried Hagemann, der mit dieser Veranstaltung seine neunjährige verdiente Geschäftsführerschaft des Kreises beende. Werner Trutwin und Prof. Dr. Erwin Dirscherl dankt er vorab für die Bereit­schaft, die Diskussionsbeiträge des Symposions zu protokol­lieren. Der Präsi­dentin, Rita Waschbüsch, dankt er für ihre Unterstützung aller Initiativen des Gesprächskreises und für die Einladung nach Berlin.

Prof. Dr. Erwin Dirscherl/Werner Trutwin

 
 

Erster Arbeitsteil:

Säkulares Denken und die Gottesfrage

 

Prof. Dr. Dieter Henrich

Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne? Sechzehn Thesen

Die Frage, unter der das Gespräch steht, zu dem ich beitragen soll, beantworte ich mit Ja. Ich will als Philosoph von Gott sprechen, und jeder Philosoph sollte es zumindest können, dem die Philosphie von dem Ort, an dem die Fragen an der Grenze des Wissens bewegt werden, nicht zu irgendeiner Spezialität unter anderen geworden oder vielmehr heruntergekommen ist. Was wir freilich meinen, wenn wir von Gott sprechen und worauf unsere Gottesrede und unsere Gottesbeziehung gehen, das ist für die Philosophie noch mehr ein Problem, als es für die Gottsucher aller Zeiten eine Frage gewesen ist. Ich bin eingeladen zu einem Gesprächskreis, in dem ich fast niemanden kenne. Nur Herrn Metz kenne ich aus Zeiten, die über 30 Jahre zurückliegen, einige von Ihnen auch aus der Zeit der Wiedervereinigung und von dem weitge­hend gescheiterten Versuch, aus dem Impuls der Wiedervereinigung heraus die deutsche Bildungspolitik wieder ins Freie zu führen. Ich habe mich gefragt, wie ich in einem solchen Kreis, der mir im wesentlichen unbekannt ist, und in so kurzer Zeit eine Übersicht über einen komplexen Gedankengang ermöglichen könnte, der zudem doch nur Einleitung in ein Gespräch sein soll. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich es am besten kann, indem ich eine Folge von Thesen vortrage. Ich habe, um das Gespräch noch weiter zu erleichtern, diese Thesenfolge auch selbst noch getippt und abziehen lassen. Diese Thesen werde ich vorlesen und sie dabei nur knapp erläutern. Es handelt sich um den Aufbau des Gedanken­ganges eines Philosophen, der in der begrenzten Zeit nur schwer zu vermitteln ist. Die Plausibilität der Thesen hängt eben auch von dem Hintergrund ab, von dem her ich formuliere.

Ich spreche als Philosoph von Gott - und für die Philosophie ist schon der Monotheismus sehr vieler Fragen wert. So klammere ich also einige für den Dialog zwischen Juden und Christen sehr wichtige Fragen ganz aus. Zu ihnen gehört die Frage nach der Offenbarung, ob es eine solche gibt, ob die Überlieferung von einer Offenbarung glaubwürdig ist und wie sie beglaubigt werden kann. Ich klammere auch das große Thema der Trinität aus. Es hat in dem jahrtausendealten Streitgespräch zwischen Juden und Christen eine prominente Rolle gespielt, und darüber ist auch der Gottesbegriff zu einer Modifikation geführt worden, die zu der Frage Anlaß gibt, in welchem Sinne das Resul­tat, auf das die Trinitätslehre hinführt, überhaupt Monotheismus im strikten Sinne ist. Diese Themen müssen beiseite gelassen werden, obgleich ich vermute, daß sie im Gespräch eine Rolle spielen werden.

Ich sollte wohl noch etwas zur Strukturbeschreibung des Gedanken­ganges sagen, der der Thesenfolge zugrundeliegt. Denn einige der Anwesenden sind doch auch Philosophen vom Fache und werden eine solche Hintergrundorientierung zu schätzen wissen. Die Gottesre­de, von der ich denke, daß sie begründbar sein könnte, ist in der Weise, in der ich sie begründe, aus einer Verbindung zwischen zwei Ansätzen entstanden: Zum einen aus der Bemühung um eine Verständigung über eine spekulative Metaphysik und aus dem Versuch, an sie anzuschließen, wobei der Terminus "spekulativ" eine Metaphysik bedeutet, die abweicht von dem gewöhnlichen Begriffsapparat, in dem wir uns in Beziehung auf die Welt orien­tieren. Um klarzuma­chen, worum es sich dabei handelt, kann ich jetzt nur an Hegel erinnern, dessen Grab wenige Meter von hier auf dem Dorotheenstä­dtischen Friedhof zu finden ist. Er hat das Paradigma einer spekulativen Metaphysik in noch heute maßgebli­cher Weise ausgear­beitet. Zum anderen wirkt in meinen Gedanken­gang eine Art Existentialphiloso­phie hinein - eine Existential­philosophie dessen, was ich das bewußte Leben nenne und was in der Folge auch Nach­fragen auf sich ziehen wird. Ich glaube, daß beide, eine solche Metaphysik und eine solche Daseinsanalyse, einander wechselseitig nötig haben und sich auch gegenseitig komplettie­ren. Die Tiefen­analyse des Lebens, das wir führen, des bewußten Lebens, von dem ich denke, daß es als Leben mit voller Präsenz auch in der Moderne geführt werden kann, ist unersetzlich zumal für eine mögliche Vergewisse­rung hinsichtlich Gottes, von dem doch nur in einer Sprache mit eigentümlicher Verfassung eine Rede ergehen kann. In meinen Thesen wird nur ein Gottesgedanke entfal­tet, hinsichtlich dessen die Frage offenbleibt, ob wir diesem Gedanken eine letzte und eine unser Leben bindende Reali­tät zusprechen können. Doch schließen die Thesen auch Gedanken darüber ein, von woher diese Frage erwogen und beantwortet werden mag.

Ich formuliere sechzehn Thesen in vier Gruppen. Unter ihnen gibt es vier Hauptthesen, die besonders der philosophischen Nachfrage bedürfen. Ich werde sie eigens markieren, ohne tiefer in ihre Voraussetzungen einzugehen. Zunächst gibt es eine Gruppe mit geringer Selbständigkeit, die eine Erinnerung an Voraussetzungen enthält, unter denen Überlegungen hinsichtlich Gottes stehen. Dann folgt eine zweite Gruppe zur Begründung und Entfaltung eines transzendierenden Denkens, sodann eine dritte Gruppe, in der das Ver­hältnis von Transzendenz und bewußtem Leben - das Leben, zu dem wir sprechen müssen in unserer Gottesrede - in Frage steht, und schließlich eine vierte Thesengruppe, die von der Frage nach der Vergewisserung hinsichtlich Gottes in der Moderne ausgeht. Ganz einfach kann und soll es ja wohl nicht werden. Wir haben nur gute 40 Minuten für eines der schwierigsten und tiefsten Probleme nicht nur des Denkens, sondern auch der Geschichte der Mensch­heit. Ich kann daher nur eine große Zahl von Aspekten berühren und in eine Zuordnung bringen, auf die dann im Gespräch eingegan­gen werden mag.

I.   Voraussetzungen

1.   Das Wort Gott und seine Äquivalente in anderen Sprachen haben einen dunklen Ursprung in einer uns entzogenen Welt. In den germanischen Sprachen ergibt sich seine Bedeutung wahr­scheinlich in Verbindung mit Anruf und Opfer, die sich also auf lebensbedro­hende und lebenserhaltende Mächte in der Welt bezieht.

In den Erlösungsreligionen, denen die Welt als ganze in Frage steht und die die Möglichkeit einer Transzendenz über die Welt kennen, verwandelte sich diese Bedeutung - und zwar in Verbindung mit der indischen und griechischen Metaphysik - hin zu Einzig­keit, Unwandelbarkeit, Unendlichkeit, Inbe­griff aller Vollkommenheit und Notwen­digkeit.

2.   Was den monotheistischen Religionen in ihrem Gottesgedanken das Wesentlichste ist, kann nicht ohne weiteres in den Gottesgedanken der Metaphy­sik eingehen: Gott ist Weltschöp­fer und in seiner Unendlichkeit wesentlich Intelligenz oder Person, und zwar:

       a.   in seiner unendlichen Einheit Verstand und Wille,

       b.   ein Wille, der um den Menschen besorgt ist, so daß sich ihm der Mensch in Leid, Schuld und Dank zuwenden kann.

3.   Die metaphysische Rede von Gott soll verständlich machen:

       a.   die Einheit der Welt,

       b.   ihre Existenz, die aus ihr selbst nicht zu begreifen ist,

 

       c.   die gesetzliche Ordnung in ihr, die einen hohen Grad von Differenzierung und Entwicklung aufkommen läßt und die ein Leben ermöglicht, in dem Ver­stand und Wille aufkommen und wirken können,

       d.   vielleicht auch eine Unendlichkeit von Welten und eine Ordnung unter ihnen hin zu höheren Formen des Lebens und Begreifens.

Die Metaphysikkritik hat gezeigt, daß sich auf diesem Wege keine verläßliche Erkenntnis von der Wirklichkeit des unendlichen Gottes erreichen läßt.

4.   Der Gottesbegriff der Metaphysik kann zumindest drei unter­schiedliche Ausprägungen erhalten:

       a.   als das unendliche Wesen gegenüber der endlichen Welt oder als das "Sein selbst" gegenüber den einzelnen und endli­chen Seienden, zu deren Wesen es gehört, ihr Dasein nicht aus sich selbst zu haben,

       b.   als das unendliche und damit übergegensätzliche Wesen,

das folglich gänzlich unbegreifbar ist,

       c.   als das unendliche Wesen, das als "Absolutes" gedacht wird. Insofern steht es seiner Welt nicht gegenüber, sondern begreift sie in sich ein - als die "Kraft" oder der "Geist", der in ihr waltet und der sie schaffend ordnet und auf ihr Ziel hin lenkt. Der Gott ist also auch im Leben und Denken der Menschen gegenwärtig und wirksam.

5.   Über die Folge von 4.a. zu 4.c. entfernt sich der Gottesbe­griff der Metaphysik von dem Gedanken Gottes als Person.

Person wird zu einem Gedanken, der notwendig Endlichkeit impli­ziert. Er ist allein aus der Erfahrung gewonnen, die wir von uns selbst haben - aus unserem eigenen Verstand und unserem Willen, die beide auf eine bestehende Welt bezogen sind und also auch Abhängigkeit einschließen.

Daraus kann folgen:

       a.   entweder eine Verstärkung des Gedankens von Gott als überpe­r- sönlichem Absoluten

       b.   oder eine Tendenz zu einem Naturalismus, der die Rede

von Gott aufgibt und für den die Intelligenz und die Handlungsfähig­keit des Menschen aus der Natur als einem zuletzt materiellen System hervorgehen, das - ohne als Absolutes begriffen werden zu können - an seine Stelle tritt.

6.   Die von der Religion abgeschiedene Welterfahrung in der Moderne ist begründet aus

       a.   dem Erbe der Metaphysikkritik: Der Gottesgedanke kann für sie wohl einen Ursprung im vernünftigen Überlegen haben. Mit ihm werden aber doch die Grenzen möglicher Erkenntnis überschritten, woraus folgt, daß sich nur haltlose Hypothesen auf ihn gründen lassen;

       b.   dem Erbe der Religionskritik: Die Offenbarungen, auf die sich auch die monotheistischen Religionen berufen, sind unglaubwürdig. Ihre Be-richte über göttliches Handeln sind Mythen, ihre Lehren sind von Vernunftwi­drigem durch­setzt, ihre Genese aus  menschlichen Bedürfnissen ist durchschaubar;

       c.   dem Gewinn einer von ersten Ursachen unabhängigen Naturerklärung;

       d.   der Freisetzung des Bewußtseins der Spontaneität und Subjektivität des Menschen, dessen Ideale und Gesetze aus ihnen selbst begründet oder selbstgegeben sind.

Die Metaphysikkritik ist eine Folgerung aus der Selbstbe­grenzung der Erkenntnis. In Verbindung mit c. und d. öffnet sich kraft ihrer aber nicht ohne weiteres ein Raum für die Rechtfertigung des überkommenen Gottesglaubens.

II.  Begründung und Entfaltung transzendierenden Denkens

7.   Als Philosoph in der modernen Welt von Gott sprechen kann dreierlei bedeuten:

       a.   die Dimension der Transzendenz in sie einzubringen,

       b.   die Rede von einem Absoluten unter Anerkennung der modernen Situationsbestimmung des Menschen im Kosmos zu begründen,

       c.   eine Verständigung des Menschen über sich zu gewinnen,

in der die Religion und somit die Gottesrede eine wesentliche Bedeutung haben - wie immer diese Weise der Verständigung von den Religionen daraufhin beurteilt werden mag, ob sie in Übereinstimmung oder im Wider­streit mit denjenigen ihrer Grundlehren steht, die sie gegen jede Verwandlung meinen schützen zu müssen.

Diese Rede würde aber nicht in der modernen Welt und zu ihr ergehen, wenn nicht die folgenden Bedingungen erfüllt blieben:

       d.   die Kritik der Metaphysik als erster Wissenschaft muß respektiert bleiben,

       e.   die Hoffnung darf nicht auf eine Restitution der vormodernen Welt oder auf die Erfüllung der Verheißung einer ganz anderen Welt ge- richtet sein,

       f.    die freigesetzte Subjektivität muß vertieft, nicht demen­tiert oder verurteilt werden,

       g.   die moderne Weltbeschreibung darf nicht verdrängt sein. Sie kann nur durch eine andere Weltinterpretation umgriffen und überhöht werden.

8.   Eine philosophische Gottesrede kann sich auch nicht den Theologen unseres Jahrhunderts anschließen, die Vernunft und Welt einerseits und die Wahrheit des Glaubens andererseits , und zwar kraft des Sinnes der Rede von Gott, in ein Verhältnis schlechthinnigen Sich-Ausschließens setzen wollen. Die Wurzeln und Gründe der Religion müssen noch in dem aufge­zeigt werden können, was der modernen Selbst- und Welterfah­rung eigentümlich ist.

Soll eine Rede von einem Absoluten möglich sein, kann die Philosophie auch nicht Wittgenstein oder Beckett folgen, nach deren Überzeugung sich über Absolutes gar nicht spre­chen läßt. Der radikale Ausschluß einer Rede von Gott zehrt aber doch davon, daß zuvor ein Gedanke vom Absoluten in klaren Konturen gefaßt wurde.

9.   Erste Hauptthese:

Ein Ansatz zur Einführung eines legitimen Gedankens von der Transzendenz über die uns vertraute Welt ist so zu gewinnen:

Die Verfassung der Welt, in der wir uns immer schon finden, ist uns nur insoweit verständlich, wie wir sie als Grundbe­dingung unseres auf weltliche Ziele orientierten Wissens und Handelns betrachten. Für sich selbst genommen ist diese Verfassung durch Korrelationen bestimmt, deren Möglichkeit uns unbegreiflich bleibt - zum Beispiel die Korrelation zwischen selbstständigen Einzeldingen und der Ordnung, in der sie koexistieren und aufeinander wirken. Keines von beidem ist ohne das andere möglich, und doch erklärt sich keines aus dem jeweils anderen. Dasselbe gilt für die Korrelation zwischen den Personen und ihrem Wahrheitsbezug, der die Welt als ganze übergreift, und dem, als was die Welt wirklich ist.

Der Mensch hat auch jederzeit ein implizites Wissen davon, daß seine ihm im Alltag "selbst-verständliche" Welt für ihn doch zugleich von einem Dunkel durchzogen ist.

10. Zweite Hauptthese:

Es gibt zwei einander diametral entgegengesetzte Weisen, sich dieses Dunkel auflösen zu wollen. Die eine ist der physikalische Naturalismus. Er setzt die physikalische Theorie voraus, die auf der Grundlage der primären Weltbe­ziehung des Menschen von deren Begriffsbildungen abweicht. Im Rahmen der Theorie, die sich so ausbildet, will er sowohl die Verfassung der Welt wie auch die Existenz eines Wissens von ihr als zuletzt materiellen Prozeß erklären.

Die Alternative dazu ergibt sich aus dem Gedanken einer ursprünglichen Indifferenz von Ordnung und Einzelnem, von Wissen und Weltform. Diese Indifferenz ist als der Gedan­ke von einem Absoluten zu definieren, einem wahrhaft Nicht-End­li­chen - jedoch nicht als Gedanke von einem von der Welt Geschiede­nen, sondern als der Gedanke von dem, woraus sich deren Verfassung entfaltet.

Sowohl Naturalismus wie Metaphysik revidieren auf je andere Weise unser primäres Verstehen. Beide sind Interpretationen, nicht verläßliche Erkenntnisse unserer Welt.

Der Mensch ist in eine Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen gestellt - nicht um in seiner primären Welt überleben zu können, wohl aber, um in dem Dunkel, das diese Welt durchzieht, über diese Welt, vor allem aber über sich und die Bewandtnis seines Lebens zu einer Klarheit kommen zu können.

11. Beide Weltinterpretationen haben Selbstlokalisationen des Menschen zur Folge, die Schlußfolgerungen über sein eigenes Leben nach sich ziehen:

Der Naturalismus sieht bewußtes Leben als ein in hohem Maße unwahrscheinliches transitorisches Phänomen im materiellen Weltall, das nur in einer Randstellung im Kosmos aufkommen kann. Er fordert zu einer Weisheit der Resignation von allen Selbstdeutungen auf, die dem Leben eine letzte Bedeutung geben wollen und auf die zu verzichten ihm immer schwer sein wird. Nur aus einer solchen Resignation kann die Kraft kommen, das Wissen von der kosmischen Bedeutungslosigkeit unseres Lebens ohne selbstzerstörerische Konsequenzen auszuhalten.

Die Metaphysik des Überstiegs zur Indifferenz erkennt diese Randstellung an. Da für sie aber der Ordnungsgrund der Welt in jedem Einzelnen und zumal im bewußten Leben gegenwärtig ist, kommmt ihr zufolge jedem bewußten Leben auch eine absolute Bedeutung zu. Durch die Hinfälligkeit und die Zufälligkeit dieses Lebens in seiner Randstellung wird sie nicht demen­tiert. Gerade im transitorischen Jetzt (und Hier) läßt sie sich ganz verwirklichen und ist dabei von einem Absoluten ermöglicht und geborgen.

III. Transzendenz und bewußtes Leben

12. Dritte Hauptthese:

Mit diesem Hintergrund im Sinn kann sich die Betrachtung dem Wissen und Erfahren des Menschen von sich, seinem bewußten Leben zuwenden, um zu fragen, auf welche Weise sich von ihm her eine Vergewisserung innerhalb des Transzendenzbezuges gewinnen lassen möchte.

Die Alternative zwischen Naturalismus und Metaphysik des Überstiegs ist für den Menschen möglich und bedrängend, weil ihm nicht nur die Verfassung seiner Welt von einem Dunkel durchzogen ist. Er weiß immer auch, daß er im Zentrum seines Lebens und also in seinem Für-Sich-Sein von einem Grund dependiert, ohne daß er von diesem Grund, so wie von Einzel­nem in der Welt, ein ausweisbares Wissen haben könnte. Daraus entsteht sein Verlangen nach einer Vergewisserung über sich selbst auf anderen Wegen.

Auf einer unwidersprechlichen theoretischen Erkenntnis kann ihm diese Vergewisserung nicht beruhen. Alles, was der Mensch in seinem Leben verläßlich weiß, ist sowohl durch den Naturalismus wie durch die im Überstieg gewonnene Metaphysik zu interpretie­ren - seine Endlichkeit, Hinfälligkeit und Fehlbarkeit eingeschlossen.

13. Vierte Hauptthese:

Die Selbstinterpretation, welche ihm die Metaphysik des Überstiegs ermöglicht, kann sich nur in einem mit Schlüssel­erfahrungen seines bewußten Lebens bewahrheiten.

Zu ihnen gehört, daß er sich im Vollzug dieses Lebens erhalten, getragen und bestätigt wissen kann, und zwar aus dem ihm innewohnenden, aber unfaßbaren Grund. Zu ihnen gehört, daß er sich in endliche Freiheit kraft seines Gewissens eingesetzt wissen kann. Zu ihnen gehört zumal, daß er in der Begegnung mit anderem bewußten Leben eine Affirma­tion von Sinn erfahren kann, in der sein Verdacht erlischt, sie möchte durch eine naturalistische Erklärung unterlaufen werden.

Doch kennt der Mensch auch die Möglichkeit der naturalisti­schen Selbstdeutung. Sie wird ihm beglaubigt durch die Erfahrungen scheiternder Selbstfindung, unauflösbarer Verstrickung und unüberwindbarer Einsamkeit.

Aber auch der, der solches erfahren hat, kann immer noch in der Wahrheit der Selbsterkenntnis aus dem Überstieg bleiben. Er kann es, wenn er sein ganzes Leben überschaut, wenn er das Geschick der Not als eine mit seinem Wesen verbundene Möglichkeit erkennt und wenn er die Erfahrung der Affirma­tion seines Lebens, die er ebenso gemacht hat, in seiner Not nicht preisgibt.

Eine solche erinnernde Erfahrung seines ganzen Lebens versetzt ihn in die Möglichkeit, für sich und für die Menschen, mit denen er in vorbehaltloser Vertrautheit verbunden war, dankbar zu sein. (Hölderlin sah in derart erinnernder Dankbarkeit das eigentliche Wesen der Euchari­stie.)

So plädiere ich also dafür, die Vergewisserung des Göttli­chen über positive Lebenserfahrungen zu leiten, die gegen­über der Erfahrung der Not standhalten, nicht aus den Grunderfahrungen der Schuld, des Leides und der Angst zum Tode. Ich meine auch, daß die christliche Botschaft inner­halb der antiken Welt ihre Kraft nicht aus der Entbergung von Angst- und Leidverstrickung allein, sondern weit mehr noch daraus gewonnen hat, daß sie in solche positiven Erfahrungen die ganze Tiefe des Denkens einbrachte: in Liebe und Dankbarkeit.

IV. Metaphysik, Religion und Moderne

14. Dankbarkeit ist eine personale Beziehung, von der die Philosophie als solche zu sprechen vermag. Die Philosophie kann aber nicht ohne weiteres dazu übergehen, die unendliche Gottesperson als Adresse dieses Dankes zu verstehen. Denn sowohl der Überstieg über die primäre Welt wie der Rückgang zum dem im bewußten Leben gegenwärtigen Grund führt das philosophische Denken nicht zu einem Einzelnen, sondern zu einem dem Begreifen des natürlichen Verstehens gänzlich Entzogenen, das der Welt und dem endlichen Leben nicht als Anderes gegenübersteht. Auch gibt es eine Dankbarkeit, die in einer ergriffenen Kontemplation alles übersteigt, was innerweltlicher Zuwendung gleicht.

Religionen können aber in dem, was die philosophische Rede vom Grund des bewußten Lebens aussagt, die Möglichkeit zu einem Anschluß für ihre eigene Rede von Gott erkennen. Sie müßte eine Rede von Gottesperson und Gottesgeist in einem sein.

15. Die monotheistischen Religionen und ihre Theologien werden also den Gedanken von dem mittels des Überstiegs zu erfah­renden Absoluten mit dem für sie unaufgebbaren Gedanken der unendlichen Personalität Gottes verbinden. In einem damit werden sie den Transzendenzbezug des Lebens und den ihm möglichen Lebensdank in einem Glauben realisiert sehen, der sich im Gebet verwirklicht und der das Gottesverhältnis aus personalem Wechselbezug auslegt.

Doch gibt es auch die auf indischem Boden hervorgegangenen Religionen, von denen einige die Adresse des Anrufs, der aus der Welt herausführt, in einem endlichen oder sogar transit­orischen Gott oder Bodhisattva sehen, wobei die Intention des Anrufs zugleich auch noch über ihn hinaus in das Unexp­lizierbare geht.

Die Philosophie kann nicht einer der Weltreligionen aus­schließende Wahrheit bestätigen. Aber sie kann doch die Ringparabel von Nathan dem Weisen mit einer tieferen philo­sophischen Begründung stützen, als die es ist, die Lessing selbst für möglich hielt.

Zugegeben werden muß freilich, daß keine Philosophie in verantwortbarer Rede die Tiefe und Weite des Symbolganzen irgendeiner der Religionen einholen kann. Dafür kann sie aber die Fundierung des Glaubens der Religionen in Gedanken und Erfahrungen des bewußten Lebens in größerer Klarheit und aus der Verständigung über dieses Leben selbst heraustreten lassen.

16. Die moderne Welterfahrung wird von dieser Verstehensart nicht dementiert. Sie verlangt keine Abstinenz vom Leben und Handeln in der aus überweltlich verfügten Ordnungen entlas­senen Welt. Sie dementiert nicht die Selbstbestimmung der endlichen Freiheit, die sie vielmehr als solche tiefer begründet. Sie versteht die Brüderlichkeit der Menschen nicht überschwenglich als weltverwandelndes eschatologisches Ziel jenseits jeder Profanität des Alltags. Dennoch spricht diese Verstehensart dafür, die Möglichkeit einer Innigkeit der Lebensnähe als letzte Dimension zu begreifen, aus der auch der Imperativ der Solidarität in der politischen Ordnung der Freiheit eine Begründung erfährt, die über die Möglichkeiten hinausführt, aus Rationalität und innerweltli­chem Interesse allein eine solche Solidarität zu begründen.

 

 

Prof. Dr. Johann Baptist Metz

Wie rede ich von Gott angesichts der säkularen Welt?

I.

Was ist das eigentlich - die säkulare Welt? Um dem Problem, das sich hiermit für die Gottesrede stellt, nicht von vornherein die Spitze zu brechen und um theologischen Vereinnahmungen oder Verharmlosungen vorzubeugen, möchte ich folgende "Definition" vorschlagen: Die säkulare Welt ist jene Welt, die sich - gänzlich unaufgeregt und unpathetisch - als Welt nach dem Tode Gottes versteht. Dabei ist diese Welt unter der säkularen Metapher vom Tode Gottes keine religionsfreie und auch keine religionsfeindli­che W­elt. Im Gegenteil, es scheint, als würden auf dem Grabe Gottes ungezählte neue Religionen blühen. Die säkulare Welt, wie ich sie hier verstehe, ist also die Welt einer religionsfreundli­chen Gott-losigkeit. Diese ihre Gott-losigkeit ist keineswegs kämpferisch gemeint, das Nein zu Gott ist nicht kategorisch verstanden im Sinne der großen Atheismen. Es gibt keine großen Atheismen mehr in dieser säkularen Welt. Der Transzendenzstreit scheint ausgestanden, das Jenseits endgültig ausgeglüht. Und so kann die rel­igionsförmige Gott-losigkeit der säkularen Welt das Wort "Gott" durchaus im Munde führen, ohne den Gott der Geschich­te und der Gesetze zu meinen, "Gott" eben als freischwebende Metapher im Partygespräch oder auf der Couch des Psychoanalyti­kers, Gott im ästhetischen Diskurs oder in der legeren Sprache unserer politischen Zivilreligionen oder wo immer.

Aber die Rede vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Jesu ist? Wie hat sie alle Privatisierungen und Funktional­isierungen in der Moderne überstanden? Wie die Verwandlung von Metaphysik in Ästhetik, von Geschichte in Psychologie? Wie sich eingepaßt in den gönnerischen Pluralismus unserer liberalen Gesellschaften und in den Sog ihrer extremen Individualisierun­gen? "Wohin ist Gott?" fragt der "tolle Mensch" bei Friedrich Nietzsche, und der hat gewiß den Gott des biblischen Monotheismus gemei­nt. Die moderne Religionskritik hat ihre Arbeit getan, ihre sultate sind inzwischen ins kollektive Gedächtnis abgesunken. Selbst die christliche Theologie geht heute zuweilen auf Distanz zur Gottesrede des biblischen Monotheismus, wenn sie ihn z.B. in tiefenpsychologischer Manier auf eine polymythische Urgeschichte der Menschheit zu hintergehen oder - unter Berufung auf trinitäts­theologische Motive - auf eine innergöttliche Geschichte zu durchschauen sucht.

Für die Glaubenden, für die das Wort "Gott" so "heilig" bleibt, daß sie es sich auch vom modernen Diskurs oder von den postmoder­nen Stimmen und Stimmungsturbulenzen nicht ausreden oder austrei­ben lassen, erscheint die Welt unter der säkularen Metapher vom Tode Gottes als die Welt der "Gotteskrise". Diese Gotteskrise ist "die" ökumenische Situation heute. Sie ist zunächst einmal die Situation, in der sich heute alle Christen zu versammeln hätten. Warum denn wirkt die innerchristliche Ökumene gegenwärtig so kraftlos, so erstarrt? Weil sie sich nicht auf die Krise konzen­triert, die längst aufgehört hat, nur kirchenstrukturell oder nur konfessionell zu sein: die Gotteskrise, die alle betrifft und alle eint. Doch diese Gotteskrise geht nicht nur die Kirchen an und nicht nur die Christen. Sie ist die Krise, die schließlich nach einer Koalition aller großen monotheistischen Religionen ruft. Sie kennzeichnet vor allem die ökumenische Grundsituation, angesichts derer das Verhältnis zwischen Christen und Juden nach­ der Shoah wahrgenommen werden muß.

II.

Gottesrede in dieser säkularen Welt kann nur korrektivische Rede sein, "Verstehen" heißt hier immer auch "Widerstehen", Wider­standsrede aber nicht einfach von oben und außen, sondern in dieser einen gemeinsamen Welt, Kritik also als Versuch rettender Kritik.

1. Moral unter der Metapher vom Tode Gottes

Schon vor über hundert Jahren notierte Friedrich Nietzsche in seiner "Fröhlichen Wissenschaft" "Das größte neuere Ereignis - daß 'Gott tot ist', daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schat­ten über Europa zu werfen ... In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nun einfallen muß, weil es auf ihn gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: z.B. unsere ganze europäische Moral." Und hat Nietzsche nicht recht behalten? Leben wir nicht in einem Stadium der moralischen Erschöpfung Europas?

Europäische Moral: das war bisher - zumindest tendenziell und als Versprechen - die große moralische Perspektive, eine Art Mensch­heitsmoral, in die die Befehle vom Berg Sinai, die biblischen Zehn Gebote ebenso eingegraben sind wie die Imperative der politischen Aufklärung. Und heute? Wie läßt sich unsere morali­sche Landschaft von heute zeichnen? Ist sie nicht geprägt von einem wachsenden

Verzicht auf diese große moralische Perspektive, von der zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber dem großen Kon­sens, von­ der Individualisierung und Biographisierung aller Konflikte, von der Skepsis gegenüber allen universalistischen Moralbegriffen, von der Verdächtigung der Menschenrechtsethik als einer Art "moralischer Falle" usw.? Gibt es also nicht so etwas wie eine moralische Erschöpfung Europas? Sind das nicht die Symptome einer Moral nach dem Tod Gottes?

"Gott" ist entweder ein Menschheitsthema oder er ist überhaupt kein Thema. Das gilt auch in den Zeiten postmoderner Empfindlich­keiten für Pluralität und Differenz und gegenüber den unleugbaren Gefahren universalistischer Orientierungen. Die in der biblischen Gottesrede verwurzelte Moral ist ohne Zweifel eine universelle Moral. Sie kennt eine alle Menschen angehende und verpflichtende Moral. Es ist indes, und dies wäre nun unbedingt zu beachten, nicht primär der Univer­salismus der Sünde, sondern der Universa­lismus des Leidens, der diesen Anspruch leitet. Auch Jesu erster Blick galt nicht der Sünde der Anderen, sondern dem Leid der Anderen. Und die Sünde war ihm Verweigerung der Teilnahme am Leid der Anderen, war ihm Weigerung, über den Horizont der eigenen Leidensgeschichte hinauszu­denken, war ihm, wie das Augustinus nennen wird, "Selbst­verkrümmung" des Herzens, Auslie­ferung an den heimlichen Narziß­mus unserer Herzen.

Das Christentum verlor sehr früh seine ursprüngliche Leidempfind­lichkeit. Über die Gründe und Konsequenzen dieses Verlustes (im Prozeß der Theologiewerdung des Christentums) kann ich mich hier nicht ausführlich äußern. Immer wieder nahm die christliche Gottesrede die Züge eines machtpolitischen Monotheismus an, so daß man sie bis heute verdächtigt, die Legitimationsquelle für ein vordemokratisches, gewaltenteilungsfeindliches Souveränitäts­den­ken und der Inspirator für politische Fundamentalismen zu sein.­ Doch die biblische Gottesrede spricht eigentlich von einem pathischen Monotheismus, sie ist eine Gottesrede mit leidempfind­licher Flanke, eine Gottesrede, die durch die ebenso unbeantwort­bare wie unvergeßliche Theodizeefrage konstitutionell "gebrochen" ist die nicht eine Antwort, sondern eine Frage zuviel hat für alle Antworten, sie ist eine Gottesrede, für die die Geschichte nicht einfach Siegergeschichte ist, sondern vor allem Leidensge­schichte, eine Gottesrede, die sich geschichtlich in der memoria pa­ssionis konzentriert, ohne die auch die christliche memoria resurrectionis zum reinen Siegermythos geraten würde.

Diese Leidenserinnerung wird dadurch zur Basis für einen sittli­chen Universalismus, zur Inspiration für universelle Verantwor­tung, daß sie jeweils auch die Leiden der Anderen, die Leiden der Fremden und - unbedingt biblisch - sogar die Leiden der Feinde in Betracht zieht und nicht vergißt. Sie sichtet die eigene Leidens­geschichte in der Perspektive fremden Leids. Dieses Eingedenken fremden Leids ist nicht nur die moralische Basis für zwischen­menschliche Verständigungen, es reicht tief in die politische Landschaft unserer Welt hinein. Ich erlaube mir, bei dieser Gelegenheit an den ermordeten Itzak Rabin zu erinnern. Unvergeß­lich wird für mich immer die Szene bleiben, in der der Israeli Rabin und der Palästinenser Arafat in Washing­ton einander die Hand reichen und sich ge- genseitig versichern­, daß sie künftig nicht nur auf die eigenen Leiden schauen wollen, sondern daß sie bereit seien, auch die Leiden der Anderen, die Leiden der bishe­rigen Feinde nicht zu vergessen und bei ihrem politischen Handeln in Betracht zu ziehen. Das ist Friedenspoli­tik aus der im bibli­schen Gottgedenken verwurzelten memoria passionis! Der Mord an Rabin zeigt dramatisch, wie fragil dieser Weg des Friedens ist. Und daß der Mörder sich seinerseits auf Gott berief, zeigt, wie elend es im Monotheismus um die Gottesre­de b­estellt sein kann.

Der sittliche Universalismus des Gottesgedächtnisses entsteht nicht etwa auf der Basis eines sog. Minimalkonsenses, um den man sich gegenwärtig in Religions- und Kulturgesprächen hemüht. Er entsteht allenfalls auf der Basis eines immer neu zu erringenden Grundkonsenses zwischen den Religionen und Kulturen. Es gibt meines Erachtens eine Autorität, die in allen großen Kulturen und Religionen anerkannt ist und die durch keine Autoritätskritik überholt oder widerrufen ist die Autorität der Leidenden. Fremdes­ Leid zu respektieren ist die Bedingung aller großen Kultur. Und fremdes Leid zur Sprache zu bringen ist die Voraussetzung für alle universalistischen Ansprüche, auch für diejenigen der biblischen Gottesrede.

Gewiß, die biblischen Traditionen sprechen nicht primär von einer Moral, sondern von einer Hoffnung; ihre Gottesrede ist nicht primär eine Ethik, sondern eine Eschatologie. Doch gerade darin wurzelt die Kraft, auch in der vermeintlichen oder tatsächlichen Ohnmacht die Maßstäbe der Verantwortung nicht preiszugeben oder dezisionistisch zu verkleinern. Der einzige Gehalt dieser univer­sellen Verantwortlichkeit heißt: Es gibt kein Leid in der Welt, das uns nichts angeht. Wer einen solchen Satz als typischen Ausdruck theologischer Allmachtsphantasien begreift, wäre daran zu erinnern, daß dieser Satz schließlich die schlichte moralische Wendung des Satzes von der Gleichheit aller Menschen ist, eines Satzes also, auf den nicht nur die biblischen Traditionen, sondern auch die Grundgesetze moderner Rechtsstaaten verpflich­ten. Ob uns dieser Universalismus immer wieder i­n Ansätzen gelingt, entscheidet schließlich darüber, ob Europa eine blühende oder eine brennende multikulturelle Landschaft sein wird, ob eine Friedenslandschaft oder eine Landschaft eskalieren­der Bürgerkrie­ge. Die Rede von Gott ist nicht nur ein Schicksals­wort des Glaubens, sondern auch ein Schicksalswort der Politik. Und die metaphorische Rede vom Tode Gottes ist es auch.

2. Kultur unter der Metapher vom Tode Gottes

Sie ist eine Kultur, die alle Wunden selbst heilen muß, und deshalb ist sie eine Kultur der Vergeßlichkeit. Friedrich Nietz­sche: "Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist ...". Das Urbild des Glücks in dieser Kultur nach dem Tode Gottes wäre also die Amnesie des Siegers, sein­e Bedingung das mitleidlose Verges­sen der Opfer. Das ist nun in der Tat völlig konträr zum bibli­schen Bundesdenken, zu der in diesem Bundesdenken geforderten anamnetischen Solidarität, wie überhaupt zur Bedeutung der memoria, speziell der memoria passionis, die in das biblische Verständnis von Frieden und Glück eingewoben ist. Die Gottesvisi­on biblischer Traditionen steht gegen den Versuch, das Glück der Menschenkinder um den Preis der Amnesie zu definieren. Der Blick auf Gott öffnet sich nur, wo sich die­ Wunden nicht schließen, wo die Vergeßlichkeit nicht heilt, wo die Wahrheit der Ereignisse nicht auf einem Vergessen des Verges­sens beruht.

Insbesondere wir Christen tun uns schwer mit den offenen Wunden der Ge- schichte, mit ihren unheilbaren Verletzungen. Wir gehen mit ihnen mit viel zu starken Kategorien um. Denn immer noch schlägt durch, was ich die Halbierung des Geistes des Christentums nenne, den endgültigen Abschied des Christentums von der schwachen und verletzlichen anamnetischen Kultur Jerusalems hin zur starken Ideenkultur Athens oder genauer des mittleren Platonismus. Und so kommt es, daß wir uns in der säkularen Welt von heute, im­ Stadium ihrer kulturellen Amnesie, dadurch schadlos zu halten suchen, daß wir - wieder einmal - die Identität des Christentums wie Platons Ideen denken oder daß wir - im modischen Schwenk von der Ge­schichte zur Psychologie - Gott im Stil eines geschichts­fernen gnostischen Erlösungsmythos deuten.

Der Triumph der Amnesie in der säkularen Welt fußt auf starken Säulen. Denn auch Wissenschaft und Theorie heilen schließlich alle Wunden. Wenn ich recht sehe, so hat sich seit dem sog. Deutschen Historikerstreit in der Geschichtswissenschaft der Standpunkt der "Historisierung" des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen mehr oder minder durchgesetzt. Im Blick auf Auschwitz bleibt für  mich freilich die Frage, wie ein Grauen, das sich der historischen Anschauung immer wieder zu entziehen droht, gleichwohl­ im Gedächtnis behalten werden kann. Das gelingt vermutlich nur einer Historiographie, die ihrerseits von einer anamnetischen Kultur gestützt ist, also von einer Gedächtniskul­tur, die auch um jenes Vergessen weiß, das noch in jeder histori­sierenden und vergleichenden Vergegenständlichung herrscht. Gewiß, wissen­schaftliche, das heißt also vor allem historisiere­nde Erinne­rungsarbeit im Umgang mit Auschwitz ist wichtig und unvermeid­lich. Gleichwohl birgt sie, im Blick auf eine solche Katastrophe, auch bes­ondere Gefahren - und dies vor allem, weil "Singularität" keine Kategorie einer Wissenschaft sein kann, die mit Objektivie­rung und Vergleich arbeiten muß. Es war schließlich der Histori­ker Saul Friedländer, der als erster den Verdacht geäußert hat, daß in aller systematischen Geschichtsforschung des Holocaust ein Stück potentiellen Revisio­nismus' steckt. "Nein, man leugnet nicht die Gaskammern, im Gegenteil, man will sie ja dokumentieren. Aber um dieses tun zu können, muß man nachzählen, vergleichen, bezweifeln ... Plötzlich schnappt die Normalisie­rungsfalle zu" (U.Beck). Entsprechend gilt: "In einer wissen­schaftlichen Zivilisation ist die Wissen­schaft der Inbegriff von Normalität und Begreifbarkeit: Wissen­schaft heilt alle Wunden" (K. Adam). Wissenschaft bzw. wissen­schaftliche ­Anschauung von Geschichte bricht also letztlich nicht den Bann kultureller Amnesie, sondern bestätigt ihn. (Warum z.B. kommt selbst bei J. Habermas die Katastrophe von Auschwitz nur in seinen "Kleinen politischen Schriften" vor - und dort bekanntlich in ebenso dezidierter wie einflußreicher Weise -, nicht aber, und zwar mit keinem Wort, in seinen großen Werken zur kommunikativen Vernunft? Offensichtlich heilt auch die Kommunikationstheorie alle Wunden!)

Von Gott aber - von seiner Art der Vergebung und des Gerichts - ist nur zu sprechen, wenn die geschichtliche Wunde sich nicht schließt, wenn die Verletzungen bleiben, wenn sie nicht hinter dem Schild kultureller Amnesie verschwinden und sich nicht in fugendichte Normalität einschließen lassen. Daß eine Gottesrede, die so ansetzt, nicht auf kulturellen Masochismus zielt, sondern auf eine Kultur der Rettung des Menschen, möchte ich nochmals durch einen Blick auf die Shoah zu verdeutlichen suchen.

Gewiß, für viele ist Auschwitz längst hinter dem Horizont ihrer Erinnerungen verschwunden. Aber den anonymen Folgen dieser Katastrophe entgeht niemand. Die Frage nach Auschwitz heißt ja nicht nur: Wo war Gott in Auschwitz? Sie heißt vor allem auch: Wo war der Mensch in Auschwitz? Ich will Ihnen sagen, was mich an der Situation "nach Auschwitz" immer besonders tief berührt und beunruhigt hat. Ich meine das Unglück, die Verzweiflung derer, die diese Katastrophe überlebt haben. So viel sprachloses Un­glück, s­o viele Selbstmorde! Viele sind an der Verzweiflung am Menschen gescheitert. Wie auch kann man an den Menschen oder gar, welch großes Wort in diesem Zusammenhang, an die Menschheit glauben, wenn man in Auschwitz erleben mußte, wozu "der Mensch" fähig ist? Wie denn unter Menschen weiterleben?

Auschwitz hat die metaphysische und moralische Schamgrenze zwischen Mensch und Mensch tief abgesenkt. So etwas überstehen nur die Vergeßlichen. Oder die, die schon erfolgreich vergessen haben, daß sie etwas vergessen haben. Aber auch sie bleiben nicht ungeschoren. Die Wunde klafft. Denn man kann auch auf den Namen des Menschen nicht beliebig sündigen. Nicht nur der einzelne Mensch, auch die Idee des Menschen und der Menschheit ist offen­sichtlich verletzbar. Nur wenige bringen die gegenwärtigen Humanitätsk­risen mit dieser Katastrophe in Verbindung, etwa die zunehmende Taubheit gegenüber allgemeinen und großen Ansprüchen und Wertungen, den Verfall der Solidarität, das anpassungsschlaue SichKleinmachen, die zunehmende Weigerung, das Ich des Menschen überhaupt mit moralischen Perspektiven auszustatten usw. Sind das nicht auch alles Mißtrauensvoten gegen den Menschen? Es gibt eben nicht nur eine Oberflächengeschichte der Gattung Mensch, sondern auch eine Tiefengeschichte, und die ist durch eine solche Kata­stro­phe zutiefst verletzt. Und was ist mit den nachfolgenden Untaten? Gewinnen die Gewalt- und Vergewaltigungsorgien der Gegenwart für uns nicht etwas von der normativen Kraft des Faktischen? Zersetzen sie nicht - hinter dem Schild der Amnesie - das "zivilisatorische Urvertrauen" (K.L. Naumann), jene morali­schen und kulturellen Reserven, in denen Humanität gründet? Vollzieht sich hier vielleicht der Abschied von dem Menschenbild, wie es uns bisher geschichtlich vertraut war? Könnte es sein, daß dem Menschen i­m Bann dieser kulturellen Amnesie nicht nur Gott abhanden gekommen ist, sondern daß er immer mehr sich selbst abhanden kommt, in dem abhanden kommt, was wir bisher emphatisch seine "Menschlichkeit" genannt haben?

3. Sprache unter der Metapher vom Tode Gottes

Gott kommt in der Sprache der säkularen Welt nicht mehr substan­tiell vor, sagen wir. Das Wort "Gott" hat seine kommunikative Macht verloren, es wirkt wie die Erinnerung an ein verbrauchtes Geheimnis, an eine ausgeglühte Verheißung. Gott kommt nicht mehr vor. Aber kommen denn wir noch vor in dieser Sprache nach dem Tode Gottes? Oder ist die Rede von "dem Menschen", zumindest in der Sprache der Wissenschaften, in der Sprache des Technopols und seiner digita­len ­Computerwelt, nicht selbst schon zum alteuropäi­schen An­achronismus geworden? Offensichtlich ist unsere Wissen­schafts­sprache nicht am subjekthaften Fundament der Sprache interessiert: Subjekt, Freiheit, Ich usw. gelten eigentlich als Anthro­pomorphismen, als sprachliche Fiktionen. Die Sprache der wissen­schaftlich-technischen Zivilisation wird immer mehr zur subjekt­losen, technomorphen Systemsprache. Sie wirkt zuweilen wie eine sekundäre Schicksalssprache, in der der Mensch - mit seinen Bildern, seinen Trä­umen, seinen Geschichten - nicht oder nur in enteigneten, in virtuellen Sprachformen vorkommt, gewissermaßen als sprachliche Imitation seiner selbst.

Eine solche elementare Krise ruft nach elementaren Vergewisserun­gen. Woher denn stammt eigentlich die vermeintlich obsolet gewordene Rede von Gott? Woher leitet sie sich ab, worin gründet sie? Gründet sie in der Sprache langsam versiegender Traditionen? In der Sprache der Bücher oder doch "des" Buches aller Bücher? Wurzelt sie in der Sprache der Dogmen oder anderer kirchlicher Institutionen? Oder, moderner gefragt: Wurzelt sie in der Bilder­sprache unserer literarischen Fiktionen? Oder, jetzt schon postmod­ern gefragt: Wurzelt sie in der Rätselsprache unserer Träume? Die Rede von Gott stammt allemal aus der Rede zu Gott, die theologische Rede über Gott stammt aus der Sprache der Gebete.

Immer habe ich die Theologieverweigerung in den jüdischen Tradi­tionen als eine Warnung verstanden: Vergeßt nicht, daß alles Reden über Gott aus der Rede zu Gott stammt, daß die Sprache der Theologie am Ende nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als reflexi­ve Gebetssprache. Das klingt fromm und ist doch (vor allem für die zünftige Theologie) gefährlich zugleich. Videbimus.

"Mit den Gebeten beginnen", fordert Jacques Derrida bei seinen Untersuchungen zur Negativen Theologie. Ich stimme zu. Mit den Gebeten beginnen heißt ja nicht etwa, mit dem Glauben beginnen. Die Sprache der Gebete ist viel umfassender als die Sprache des Glaubens; in ihr kann man auch sagen, daß man nicht glaubt  (wenn man nur versucht, es Gott zu sagen). Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort "Gebet" nicht gäbe.

Doch die Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, ist viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Haben wir je wahrgenommen, was sich in dieser Sprache der Gebete durch die Jahrtausende der Religionsgeschichte angehäuft hat: das Geschrei und der Jubel, die Klage und der Gesang, der Zweifel und die Trauer und das schließliche Verstummen? Haben wir Ch­risten uns vielleicht zu ausschließlich an der kirchlich und liturgisch gezähmten Gebetssprache orientiert und haben wir uns womöglich von zu einseitigen Beispielen aus den biblischen Traditionen genährt, so daß wir nicht mehr hören und wissen, wieviel

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