Für eine gemeinsame Zukunft in Deutschland, in Europa und in der Einen Welt

Berliner Erklärung deutscher Katholiken

Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Mitgliedern des Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR und Vertretern des Laienapostolats aus den Jurisdiktionsbezirken der Berliner Bischofskonferenz

Über Ost- und Mitteleuropa ist ein Sturm der Veränderung hinweggegangen. Völker, die eine lebensfremde und freiheitsfeindliche Ideologie über Jahrzehnte hin wie in einem Getto gehalten hat, haben sich mit friedlichen Mitteln die Freiheit erkämpft. Auch in Deutschland sind Mauern und Barrieren gefallen, die lange trennten, was zusammengehört.

Der Wunsch nach Freiheit war stärker als die Macht der Herrschenden. Die Wahrheit hat sich Bahn gebrochen, und Hoffnung auf menschenwürdige Lebensverhältnisse bewegt die Menschen. Unser Volk steht vor einer neuen Zukunft, vor neuen Chancen des Zusammenlebens im eigenen Land, in Europa und in der Einen Welt. Mit diesen Chancen gehen aber auch Ängste einher - im eigenen Volk und bei unseren Nachbarn.

Wir werden die Zukunft nur gewinnen, wenn wir sie auf den Grundwerten menschlichen Zusammenlebens bauen, die ihren Ursprung und ihre Einheit darin haben, daß der Mensch Person ist. Als Geschöpf Gottes verdankt er sein Recht auf Leben und seine Würde nicht anderen Menschen und bekommt sie nicht von der Gesellschaft verliehen, sondern besitzt sie unveräußerlich dadurch, daß er lebt.

Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat uns gelehrt, daß Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nur dort wachsen können, wo Menschenwürde und Menschenrecht Maß und Ziel der Politik bestimmen. Aus dieser Erfahrung wenden wir uns gegen alle Versuche, den Menschen zum Baustein einer ideologisch programmierten Welt oder zum Werkzeug eines totalitären Machtanspruchs zu erniedrigen und so seine personale Entfaltung zu verhindern.

Nur eine Ordnung des Rechts, der Freiheit und der Demokratie schafft die politischen Voraussetzungen für die freie Entfaltung des einzelnen, für die Durchsetzung der Menschenrechte und für die Teilhabe aller am politischen Leben. Sie allein verbürgt auch den Freiraum für das öffentliche Zeugnis unseres Glaubens und für das unbehinderte Wirken der Kirche in der Gesellschaft. Für diese Ordnung treten wir als deutsche Katholiken ein.

Die gegenwärtige Situation unseres Landes fordert von uns allen ein hohes Maß an Solidarität; nicht nur aus vielen praktischen Gründen, sondern weil wir nur in gegenseitiger Verbundenheit und Hilfe die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit gewinnen und entfalten können. Solidarität bedarf der sittlichen Anstrengung aller Bürger. Sie bedarf auch des persönlichen Opfers. Nur so gewinnt das Gemeinwohl jene Kraft, die den innergesellschaftlichen Frieden sichert, das Recht der Schwachen schützt und jedermann die Chance gibt, die Bestimmung des menschlichen Lebens nach Maßgabe seiner individuellen Art zu erfüllen.

Als katholische Christen rufen wir alle Bürger in Deutschland auf, gemeinsam mit uns für die Verwirklichung dieses Gemeinwohls zu arbeiten und Solidarität im Alltag zu beweisen. Das erfordert Verantwortungsbewußtsein für das Ganze, Achtung vor den Rechten aller Mitmenschen, gegenseitige Hilfsbereitschaft, Friedensgesinnung und nicht zuletzt auch Verzicht und persönlichen Einsatz. Wenn diese Haltung unser Zusammenleben bestimmt, dann wird der Prozeß des Zusammenwachsens in Deutschland gelingen und gute Früchte tragen.

Je mehr die Einheit in Freiheit in Deutschland wächst, desto größer wird unsere Verantwortung für Europa und die Welt. Diese Verantwortung muß sich schon auf dem Weg zur Einheit der Deutschen bewähren. Als deutsche Katholiken wollen wir dazu unseren Beitrag in neuer Gemeinsamkeit leisten.

Gemeinsam fühlen wir uns den Völkern und der Kirche in den Ländern Mittel- und Osteuropas verbunden. Im Wissen um unsere gemeinsame Geschichte und im Bewußtsein des schweren Unrechts, das deutsche Politik diesen Völkern im Zweiten Weltkrieg angetan hat, suchen wir den Dialog mit ihnen. Er soll uns enger miteinander zusammenführen und dem Frieden in Europa dienen. Dabei ist der Beitrag der Katholiken in der Deutschen Demokratischen Republik, die über Jahrzehnte hin das Schicksal der unterdrückten Völker Mittel- und Osteuropas geteilt haben, für diese große Aufgabe besonders wichtig. Sie können auch in ökumenischer Zusammenarbeit in eigener Weise der Verständigung mit den Menschen in den östlichen Nachbarländern dienen.

Gemeinsam wollen wir alles unterstützen, was den Ländern Mittel- und Osteuropas hilft, politisch und wirtschaftlich stabile Gemeinwesen zu entwickeln, in denen die Menschen gute Zukunftsperspektiven haben und Heimat behalten. Gerade der Blick auf diese Länder, aber nicht nur auf sie, zeigt uns, daß es in Europa eine deutliche Kluft zwischen Wohlstand und Armut gibt. Sie muß durch intensive Anstrengungen überwunden werden, damit nicht neue Trennungen entstehen und die Entwicklung zu einer umfassenden europäischen Einheit gefährden. Entscheidend wird es dabei sein, daß überall in Europa eine Ordnungspolitik verfolgt wird, die der Initiative der freien gesellschaftlichen Kräfte Raum und Vorrang gibt, die Teilhabe aller am politischen Leben fördert, sich an den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft orientiert und sich den ökologischen Notwendigkeiten verpflichtet weiß. Nicht zuletzt hängt auch das Wohl unseres Landes davon ab, ob diese große europäische Aufgabe gelingt.

Gemeinsam bekennen wir uns zur europäischen politischen Kultur, der die freiheitliche Demokratie entstammt. Diese Kultur ist im tiefsten auch christlich bestimmt und bezeichnet den Rahmen, in dem das Europa der Zukunft erbaut wird, ein Europa der Freiheit, der Einheit und des Friedens. Christen tragen für sie über alle Trennungen hinweg gemeinsame Verantwortung. Dafür haben die ökumenischen Versammlungen in beiden Teilen Deutschlands und auf europäischer Ebene ein Zeichen gesetzt. 

Die freiheitliche Demokratie in Europa ist durch die Veränderungen der letzten Zeit gestärkt worden. Sie bestimmt nun die Politik der meisten Staaten unseres Kontinents. Das ist eine entscheidende Voraussetzung auf dem Weg zu einer Europäischen Union, die die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft in gemeinsamer politischer Verantwortung
verbinden und schließlich ganz Europa umfassen soll. Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat, dessen Glieder bei aller Verschiedenartigkeit in freier Entscheidung eine Einheit, eine Solidar- und Willensgemeinschaft bilden. Damit sie gelingt, müssen sich jetzt in der Mitte Europas vor allem Deutsche und Polen so wie vor Jahrzehnten schon nach Westen hin Franzosen und Deutsche in Freundschaft zu gemeinsamer Anstrengung verbinden. Die gemeinsame Respektierung der gegenwärtigen Grenzen verbindet sich mit unserem Einsatz dafür, daß die Grenzen in Europa immer offener werden.

Die Entwicklung der freiheitlichen Demokratie in Europa eröffnet uns auch eine große Hoffnung auf energische Abrüstungsmaßnahmen und auf eine Weltordnung, in der die Staatengemeinschaft das völkerrechtliche Verbot des Angriffskrieges wirksam durchzusetzen vermag. Die Bedeutung der bisherigen Militärblöcke tritt zurück, und es zeichnet sich ein euro-atlantisches Sicherheitssystem ab, das neben den europäischen auch den legitimen sowjetischen und amerikanischen Sicherheitsinteressen gerecht wird und zur weltweiten kollektiven Sicherheit beiträgt. Wir ermutigen die Politiker, alle Wege zu diesem Ziel zu beschreiten.

Als Europäer tragen wir Verantwortung für die geistige Gestalt unseres Kontinents und für die Wirkungen, die von ihr auf die Welt ausgehen. Als Christen setzen wir uns dafür ein, daß die christliche Prägung Europas im Pluralismus der Wertvorstellungen sichtbar und wirkmächtig ist. Das ist zuallererst eine Forderung an uns selbst, uns immer wieder im Geiste des christlichen Ursprungs zu erneuern. Dabei soll uns das Wort Papst Johannes Pauls II. leiten: "An uns wird es liegen, ob Europa ... seine Berufung und seine Rolle verrät oder ob es seine Seele wiederentdeckt in der Zivilisation des Lebens, der Liebe, der Hoffnung."

Als deutsche Katholiken stellen wir uns gemeinsam den Aufgaben in der Einen Welt. Die Menschheit ist heute über alle Länder und Kontinente aufeinander angewiesen. Weltweite Interdependenz verlangt weltweite Solidarität. Die friedliche Revolution im Osten Europas geht uns ebenso an wie die tiefgreifenden Veränderungen bei den Völkern anderer Kontinente.

Unser gemeinsamer Einsatz gegen Hunger und Krankheit, gegen Unwissenheit, menschenunwürdige Wohnverhältnisse und Umweltzerstörung, unser Engagement in der Bekämpfung der Ursachen der Armut in den Ländern des Südens führen nur dann zu nachhaltigen Veränderungen, wenn unsere Entwicklungszusammenarbeit mit den Regierungen, den kirchlichen und privaten Organisationen dieser Länder den Menschen dort, insbesondere den Armen, Möglichkeiten eröffnet, sich aktiv am Entwicklungsprozeß zu beteiligen. Wir müssen sie in der Autonomie ihrer kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklung unterstützen. Unser Beitrag muß Hilfe zur Selbsthilfe sein.

Deutsche Entwicklungspolitik muß diesen Zielen dienen. Sie muß im ständigen politischen Dialog mit den Regierungen der Entwicklungsländer versuchen, die internationalen und nationalen Rahmenbedingungen bis in die Regionen und Gemeinden hinein so zu beeinflussen, daß die sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen, die meist die Mehrheit der Bevölkerungeines Landes darstellen, größere Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Besondere Priorität haben dabei: Bekämpfung der Armut durch generelle Hilfe zur Selbsthilfe, gezielte Hilfen für Frauen, Familien, das Handwerk, die kleinbäuerliche Landwirtschaft, das mittelständische Gewerbe, für Bildung und Umweltschutz. Wichtig ist auch, daß vor allem die Anstrengungen jener Entwicklungsländer gefördert werden, die sich darum bemühen, die freiheitsstiftenden Elemente der rechtsstaatlichen Ordnung, einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft und der politischen Demokratie so mit der jeweiligen kulturellen Tradition zu verbinden, daß die einzelnen und die Gruppen sich aktiv durch Selbsthilfe an der Entwicklung des Landes beteiligen können.

Die Entwicklungszusammenarbeit kann durch die Einheit Deutschlands und durch den politischen Wandel in Mittel- und Osteuropa neue Chancen erhalten. Der Ost-West-Gegensatz hat in der Vergangenheit nicht selten diese Zusammenarbeit überlagert und wertvolle Kräfte blockiert. Sie werden jetzt frei. Damit verbreitert sich die europäische Basis für Anstrengungen, mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaftsordnung durchzusetzen und die Entwicklungspolitik zu verstärken. Von besonderem Gewicht werden hierbei die leidvollen Erfahrungen der Menschen sein, die über viele Jahre hin unter einem zentralistischen Planungs- und Entscheidungssystem totalitärer Art leben mußten, sein Scheitern erfahren haben und seine Folgen für Mensch, Gesellschaft und Staat bezeugen können. Diese Erfahrungen müssen in das Gespräch mit den Menschen in den Entwicklungsländern, insbesondere auch in den politischen Dialog mit den Regierungen eingebracht werden.

Wir sind überzeugt, daß Deutschland als Ganzes seiner Verpflichtung zur Solidarität mit den Entwicklungsländern gerecht werden wird. Angesichts weltweiter Not erklären wir: Dieser Solidarität sind alle Deutschen verpflichtet. Wenn der wirtschaftliche Beitrag der Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik gegenwärtig nur begrenzt möglich zu sein scheint, so sollte dies für die Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland ein Anstoß sein, ihre eigenen Anstrengungen zu steigern, um so die Unteilbarkeit und die Gemeinsamkeit unserer Solidarität in der Welt zu bezeugen. Als deutsche Katholiken wollen wir uns dafür einsetzen, unseren eigenen Beitrag zur kirchlichen Entwicklungshilfe verstärken und für eine Entwicklungspolitik eintreten, die den Menschen und seine freie und solidarische Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Partnern in den armen Ländern wollen wir miteinander teilen und für die Begründung weltweiter Solidarität fruchtbar machen.

Wir sind Zeugen großer Umwälzungen geworden: Deutschland gewinnt nach jahrzehntelanger Trennung seine Einheit wieder, Europa ist auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft der Freiheit und des Friedens, und neue Kräfte für weltweite Aufgaben werden frei. Wir deutschen Katholiken wollen daran mitarbeiten, daß die neu gewonnenen Energien zur Verwirklichung von Demokratie, für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eingesetzt werden. So wird unsere Welt immer mehr Eine Welt.


Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen
Katholiken, Mitgliedern des Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer
Christen in der DDR und Vertretern des Laienapostolats aus den Jurisdiktionsbezirken
der Berliner Bischofskonferenz am 23. Mai 1990 in Berlin.

Diesen Artikel teilen: