Als Broschüre vergriffen

Zur Situation der Aussiedler in der Bundesrepublik

Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Lage der Aussiedler

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ruft dazu auf, die deutschen Aussiedler aus den osteuropäischen Ländern als Mitbürger anzunehmen und ihnen den Start in unserer Gesellschaft zu erleichtern. Die katholische Kirche, ihre Gemeinden und Verbände, insbesondere die Caritas und der Katholische Lagerdienst haben sich seit Kriegsende erfolgreich für die Eingliederung der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler eingesetzt und dazu beigetragen, daß Millionen von Landsleuten in der neuen Heimat Fuß fassen konnten.

Neuere Entwicklungen in der UdSSR, die auch auf Teile Osteuropas ausstrahlen, lösen seit einiger Zeit eine unvorhergesehene Zuwanderung von Angehörigen deutscher Minderheiten aus dem Osten aus. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken begrüßt die Erleichterungen zur Ausreise, die es vielen Menschen nach langer Wartezeit ermöglicht, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, Angehörige und Verwandte wiederzusehen und in Freiheit leben zu können. Gleichzeitig fordert es die Regierungen aller osteuropäischen Staaten auf, die Menschenrechte in ihren Ländern zu achten und es den deutschen Landsleuten, die bleiben wollen, zu ermöglichen, ihre nationale Eigenart zu pflegen und zu bewahren.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat sich bereits in der Vergangenheit mehrfach an die deutsche Öffentlichkeit gewandt und zu einer großherzigen Aufnahme der Aussiedler aufgerufen. Der in den nächsten Jahren jährlich zu erwartende Zugang von annähernd 200 000 Aussiedlern ist Anlaß für einen erneuten Appell an die deutschen Katholiken und an alle Mitbürger unseres Landes, insbesondere an die Verantwortlichen in Kirche und Staat, jedwede Anstrengung zu unternehmen, damit eine großzügige Aufnahme und umfassende Integration der zu uns kommenden Aussiedler sichergestellt wird.

Die Aussiedler bringen bei ihrer Ankunft große Erwartungen mit. Nach langer Zeit der Benachteiligung und Zurücksetzung hoffen sie, endlich ohne Diskriminierung als Deutsche unter Deutschen leben und an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben zu können. Die bei der Ankunft auftretenden Schwierigkeiten und Einschränkungen tragen sie in Anbetracht der großen Aussiedlerzahlen in der Regel mit außerordentlicher Gelassenheit und großem Verständnis. Gleichzeitig werden sie bereits in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft mit der westlichen Konsumgesellschaft und einer Vielzahl ihnen fremder Lebensstile konfrontiert.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken wendet sich in diesem Zusammenhang an die Aussiedler mit der Bitte, für Schwierigkeiten bei der Aufnahme Verständnis zu haben. Die Eingliederung in eine neue
Gesellschaft benötigt Zeit und Geduld. Durch das gemeinsame Bemühen aller wird es möglich werden, die mit der Übersiedlung verbundenen Nachteile auszugleichen und ein partnerschaftliches und freundschaftliches Zusammenleben vorzubereiten. Das bedeutet jedoch nicht, daß alle wirtschaftlichen und technischen Güter und Angebote sogleich in Anspruch genommen werden können. Auch die heimische Bevölkerung kann sich vieles nicht leisten.

Von der Bevölkerung werden Aussiedler vor allem dann als Fremde erlebt, wenn eine Verständigung auf deutsch nicht möglich ist. Mangelnde deutsche Sprachkenntnisse der Aussiedler bilden für viele Einheimische eine Sperre, sie als deutsche Mitbürger anzunehmen. Unwissenheit über die Gründe der Aussiedlung, unzutreffende Vorstellungen über die den Aussiedlern zustehenden finanziellen Eingliederungshilfen und Unverständnis gegenüber Verhaltensweisen von Aussiedlern erschweren oft den Zugang zu den neuen Nachbarn und Mitbürgern. Hinzu kommt, daß in der gesellschaftlichen Diskussion der letzten Jahre die Aufnahme von Fremden bei weitaus geringeren Zugangszahlen als eine große gesellschaftliche Belastung hingestellt wurde.

In dieser Situation wendet sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken an alle Pfarrgemeinden und an jeden einzelnen Christen, die zu uns kommenden deutschen Landsleute als unsere Schwestern und Brüder im Geiste des Evangeliums aufzunehmen. Viele haben auch die religiöse Freiheit schmerzlich ersehnt. Bei uns finden sie mancherorts nicht den Raum, ihre bisher unterdrückten religiösen Bedürfnisse zu leben. Die Pfarrgemeinden müssen sich bemühen, ihnen Heimat zu bieten. Wo dies geschieht, werden Enttäuschung und innere Vereinsamung vermieden. Durch die Möglichkeit der persönlichen Begegnung sind die Pfarrgemeinden in besonderer Weise geeignet und aufgerufen, Brücken zu den Neuankommendenzu schlagen und sie in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Verständnis und Entgegenkommen öffnen auch den Zugang zur je eigenen religiösen Ausdrucksweise. Dabei kommt den katholischen Verbänden und kirchlichen Gruppen eine besondere Aufgabe zu, die für sie durch die Begegnung mit den persönlichen, politischen und religiösen Erfahrungen der Aussiedler zugleich eine Bereicherung sein kann.

Die erforderlichen Hilfen werden am ehesten in der persönlichen Begegnung offenbar. Erfahrungsgemäß sind besonders hilfreich:

- Besuche bei den neu Zugezogenen, um ihnen zu zeigen, daß sie aufgenommen sind, sowie die Hinführung und Aufnahme in das Gruppenleben der Gemeinde, einschließlich der aktiven Teilnahme in den Leitungsgremien,

- Hilfe bei der Wohnungssuche, Bereitstellung von geeignetem Wohnraum sowie Hilfe bei der Erstausstattung der Wohnung, soweit dies gewünscht ist,

- Begleitung der Aussiedler zu den notwendigen Behördengängen sowie Hilfe beim Ausfüllen der erforderlichen Anträge (z.B. durch Patenschaften),

- Beratung und Verweis auf die bestehenden staatlichen und caritativen Einrichtungen und Fachdienste (Kindergarten, Schule, Sprachförderung, Ausbildung, Arbeitsamt etc.)

- Übernahme von Patenschaften zur Hilfe und Unterstützung der Aussiedler bei ihrer Integration.

Integration in die Pfarrgemeinden erfordert vor allem auch pastorale Anstrengungen, die dem Herkommen und der Mentalität der neuen Pfarrangehörigen gerecht werden. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken bittet die Kirchenleitungen, verstärkt durch Hinweise und Maßnahmen alle im pastoralen Dienst Tätigen auf diese wichtige Aufgabe aufmerksam zu machen und sie darin zu unterstützen.

Aussiedler sehen sich heute besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Mangelnde deutsche Sprachkenntnisse erschweren die Kontaktaufnahme, verbreitete Arbeitslosigkeit und oftmals nicht unmittelbar verwertbare berufliche Erfahrungen vermindern die Chance einer baldigen Arbeitsaufnahme, der angespannte Wohnungsmarkt gibt oft keine Chancen für das Finden einer geeigneten Wohnung in angemessener Frist. Nicht nur die junge Generation benötigt eine ausreichende Zeit der Anpassung an ein so anderes, unbekanntes gesellschaftliches Leben. Für all dies sind dringend Hilfen zur Eingliederung erforderlich. Hierzu gehören insbesondere:

- Die quantitative und qualitative Verbesserung der Sprachkurse. Die derzeitige Sprachförderung von maximal 10 Monaten ist in der Regel nicht ausreichend für eine berufliche Chancengleichheit. Neue Normen der Sprachförderung müssen erprobt werden.

- Der weitere Ausbau von Hilfen zur beruflichen Eingliederung. Für die dafür erforderlichen Maßnahmen müssen staatlicherseits aus reichend Mittel zur Verfügung gestellt werden. Arbeitgeber und Gewerkschaften sind aufgefordert mitzuhelfen, daß Aussiedler bald beruflich eingegliedert werden können.

- Die Ausweitung des allgemeinen Wohnungsbaus, damit mehr Wohnraum zur Verfügung steht. Dabei sollte darauf geachtet werden, daß keine unangemessene Bevorzugung der Aussiedler bei der Vergabe von Wohnungen erfolgt, um Ungerechtigkeiten gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu vermeiden. Dies, wie auch eine räumliche Absonderung, würde den Eingliederungsbemühungen zuwiderlaufen.

- Die ausreichende finanzielle Absicherung der erforderlichen Maßnahmen zur schulischen, beruflichen und sozialen Integration von Jugendlichen und Erwachsenen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, die sich bereits in der Vergangenheit mit großem Engagement erfolgreich um diese Aufgabe bemühten, sind aufgerufen, ihre Arbeit mit öffentlicher Unterstützung weiter zu verstärken.

- Besondere Anstrengungen aller in der politischen Bildung für Jugendliche und Erwachsene Tätigen, den Aussiedlern Voraus setzungen und Bedingungen unserer Staatsordnung zu erschließen, damit sie ihre Rechte und Pflichten zur politischen Mitgestaltung voll wahrnehmen können.

- Eine Information der Bevölkerung über Anlaß und Motive, die zum Ansteigen der Aussiedlerzahlen führten. Sie soll zugleich die schwierige Situation, in der sich Aussiedler nach ihrer Ankunft befinden, bewußt machen und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung stärken.

Aussiedler sind Deutsche, die besonders lange und schwer unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatten. Ihnen gebührt unsere volle Solidarität. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken wendet sich mit diesem Aufruf an alle Mitbürger, unsere Landsleute aus dem Osten mit Großherzigkeit und persönlicher Zuwendung aufzunehmen und ihnen beim Start in ein neues, freies Leben behilflich zu sein.


Vom Geschäftsführenden Ausschuß des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 13. Januar 1989 verabschiedet

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