Für eine europäische Verfassung
Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Das Europäische Parlament hat vor nunmehr schon über drei Jahren den Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union vorgelegt. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hält es für unerläßlich, daß auf dieser Grundlage alsbald eine Verfassung beschlossen und in Kraft gesetzt wird. Bereits aus Anlaß der beiden Wahlen zum Europäischen Parlament haben wir in Erklärungen vom 11. November 1977 und vom 5. Mai 1984 die Bedeutung und Dringlichkeit einer politischen Einigung Europas unterstrichen. 1977 haben wir den europäischen Bundesstaat als letztlich notwendiges Ziel bezeichnet und 1984 verlangt, den damals vorbereiteten Verfassungsentwurf so schnell wie möglich verabschieden zu lassen. Das muß nun endlich geschehen und sollte mit Vorrang auf der Tagesordnung der Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft stehen. Die Zeit ist reif für die Entscheidung!
Anders als 1953, als schon einmal ein fertiger Entwurf einer europäischen Verfassung (damals der "Europäischen Politischen Gemeinschaft") vorlag, steckt heute die Einigung nicht mehr in den Anfängen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, das Europäische Währungssystem, die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) als Instrument zur Koordinierung der Außenpolitik der beteiligten Staaten und schließlich die Einheitliche Europäische Akte vom 21. Februar 1986 sind Elemente und Beweise des Fortschritts, den Europa gemacht hat. Das gilt aufs Ganze gesehen auch für die Wirtschaftspolitik, trotz manchen spektakulären Ärgernissen sowie schlimmen Folgen für Teile unserer Landwirtschaft, die dringend der Hilfe bedürfen. Gerade die Bürger der Bundesrepublik ziehen erheblichen Nutzen aus der Integration, die unserer Wirtschaft die europäischen Märkte unter ungewöhnlich günstigen Bedingungen zugänglich macht. Das ist uns allerdings so selbstverständlich geworden, daß wir es schon gar nicht mehr als Vorteil registrieren.
Alles bisher Erreichte, wenn auch noch Unzureichende würde jedoch wieder verlorengehen, falls es nicht gelingt, den jetzt fälligen Schritt in Richtung auf ein politisch geeintes Europa zu tun. Die Arbeit und Mühe, die nun schon länger als 3 ½ Jahrzehnte auf die Verwirklichung des Konzepts der Gemeinschaftsverträge verwendet wurde, hat einen Zustand tatsächlicher Verflechtung herbeigeführt, der unmittelbar praktisch zu Entschlüssen drängt, die schon immer als letztlich unausweichlich erkannt und gefordert waren. Denn ohne schwerste Rückschläge für die Menschen und Staaten Westeuropas gibt es weder ein Zurück noch ein Verharren. Zum unerläßlichen Weiterschreiten aber reicht das Instrumentarium der Verträge nicht mehr aus. Deshalb muß der Sprung in einen Zusammenschluß höherer Qualität jetzt gewagt werden. Die Chance, daß er gelingt, ist ungleich größer als je zuvor.
Diese höhere Qualität des Zusammenschlusses faßt der Vertragsentwurf in dem Begriff "Europäische Union" zusammen. Ihre wichtigsten Elemente sind: eine eigene Rechtspersönlichkeit und ein eigenes Hoheitsgebiet (das mit den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten deckungsgleich ist); Organe, die demokratisch legitimiert und parlamentarisch kontrolliert sind; "gemeinsame Aktionen", die zur bisherigen auf völkerrechtliche Verträge gestützten Zusammenarbeit hinzukommen. Das alles soll geschehen - wie es in der Präambel des Verfassungsentwurfs heißt- unter Achtung der historischen Persönlichkeit der Völker und nach dem Grundsatz der Subsidiarität. Demnach werden den gemeinsamen Institutionen nur solche Aufgaben übertragen, welche die Union wirkungsvoller wahrnehmen kann, als jeder Mitgliedstaat allein.
Die Union ist noch keineswegs das - und kann es auch gar nicht sein - was schließlich erreicht werden muß: ein europäischer Bundesstaat. Aber sie bedeutet den Schritt von der Gewährung einzelner vergemeinschafteter Zuständigkeit hin zur Bildung eines eigenständigen politischen Körpers. Damit wird den Nationen ihre Individualität und Selbstbestimmung nicht genommen. Es ist ja gerade das Wesen eines frei gebildeten politischen Verbandes, daß seine Glieder in ihrer Verschiedenartigkeit eine Einheit, eine Solidar- und Willensgemeinschaft bilden. Wie die Länder der Bundesrepublik Deutschland selbst in dem engen Zusammenschluß eines Bundesstaates ihre Individualitäten nicht eingebüßt haben, ja sogar diejenigen Länder, die künstlich geschaffen worden waren, sich als unverwechselbare "Staatspersönlichkeiten" haben ausbilden können; wie bei der Gründung des Deutschen Reiches die Bayern und die Preußen, die Sachsen, die Schleswig- Holsteiner und alle anderen deutschen Stämme ihre eigenen Lebensweisen behielten, ja nicht einmal von ihren wechselseitigen Abneigungen lassen mußten, sondern als ein Staatsvolk unter einer gemeinsamen Rechtsordnung zu leben und gegenüber anderen Staaten nach einem politischen Willen zu handeln begannen, so werden innerhalb der politischen Einheit der Europäischen Union die Franzosen französisch, die Spanier spanisch bleiben und alle anderen ebenso ihre Eigenart behalten.
Wenn Unterschiede der nationalen Mentalität unübersehbar sind und im Verkehr zwischen den Völkern bisweilen Schwierigkeiten bereiten, so beweist das nicht, daß wir noch weit von einem politisch geeinten Europa entfernt seien. Jene Unterschiede veranschaulichen nur, welche vielfältigen Möglichkeiten es gibt, Europäer zu sein. Stärker aber als diese Unterschiede sind die Gemeinsamkeiten im Denken, in den Äußerungen der Kultur, in der Gestaltung der Gesellschaft und im Lebensgefühl der Menschen. Es ist ein europäischer Geist, der sich in der Vielfalt der Eigenarten ausprägt. Es gibt für alle Völker und Staaten Europas eine gemeinsame Herkunft der Sittlichkeit und Kultur; sie ist wesentlich begründet im Wirken der Botschaft Christi und einer Lebensgestaltung aus christlichem Glauben. Selbst das, was in der Vergangenheit Streit und Feindschaft innerhalb der Nationen und zwischen ihnen war, erweist sich im Rückblick als gemeinsame europäische Geschichte, die als solche zu erkennen ebenso ein Element der politischen Einheit ist wie der Wille, gemeinsam die Zukunft zu gestalten.
Der Schritt zur Union wird nicht Abschluß und Vollendung, sondern er wird Beginn eines neuen Abschnitts europäischer Geschichte sein: Mit der Unionsverfassung wird gleichsam ein magnetisches Feld entstehen, durch das alle Tatbestände und Aktivitäten europäischer Politik Ausrichtung auf die Herbeiführung der politischen Einheit erfahren. Das ist das Entscheidende, und es erscheint daher weder nötig noch opportun, jetzt schon alle Wege der Verwirklichung in den Einzelheiten festlegen zu wollen. Grundlegend bleibt das Konzept der Föderation, das der Einigungspolitik neue Flexibilität ermöglicht und es erleichtern wird, noch vorhandene Widerstände nationalstaatlich beschränkter Orientierung und Praxis zu überwinden. Ebenso grundlegend ist das in der Präambel des Vertrages hervorgehobene Prinzip der parlamentarischen Demokratie. Es dient nicht nur der Stärkung des Europäischen Parlaments und damit der treibenden Kraft der Union, es fordert vielmehr auch bestimmte inhaltliche Konsequenzen bei der Ausfüllung des mit der Union gesteckten Rahmens.
Gleichen Rang und gleiche Wichtigkeit besitzen schließlich die Grund- und Menschenrechte, von denen im Vertrag zutreffend festgestellt wird, daß sie längst zu den gemeinsamen Grundsätzen der Verfassungen der Mitgliedstaaten gehören und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegt sind. Es bedarf deshalb nicht der im Vertrag vorgesehenen Frist von 5 Jahren, um sie für die Union ausdrücklich zu verbürgen. Das sollte und kann vielmehr, ohne daß sich deshalb das Verfahren weiter verzögerte, sofort beim Inkraftsetzen der Verfassung geschehen. Die Grund- und Menschenrechte sind Güter und Ausdruck eben jenes gemeineuropäischen Erbes, welches der letztlich tragende Grund der Nationengemeinschaft ist; Errungenschaften jahrhundertelanger Kämpfe, die nun als gemeinsame Geschichte die Europäer im Bewußtsein, Bürger einer Union zu sein, stärken.
Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 21. November 1987 in Bonn-Bad Godesberg