Erklärung zur wachsenden Akademikerarbeitslosigkeit

Erklärung zur wachsenden Akademikerarbeitslosigkeit Verabschiedet von der Kommission 2 "Wirtschaft und Gesellschaft" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Das ZdK hat sich schon mehrfach in der jüngsten Vergangenheit mit den schwerwiegenden Fragen der anhaltenden strukturellen Arbeitslosigkeit befaßt, zuletzt in seiner Erklärung zum "Abbau der Arbeitslosigkeit" vom 30. Mai 1986. Hier wurde bereits an die Tatsache angeknüpft, daß die heutige Arbeitslosigkeit die verschiedenen Bevölkerungsgruppen außerordentlich unterschiedlich bedroht.

Nicht nur nach Regionen und Branchen, nach Alter und Geschlecht, sondern auch nach dem Bildungs- und Ausbildungsstand ergeben sich ganz unterschiedliche Problemlagen. Deutlich zeigt sich dies einerseits am unteren Ende der schulischen Vorbildung, andererseits auf der Ebene hoher und höchstmöglicher schulischer Qualifikation.

Am unteren Ende sind es die Hauptschüler ohne Schulabschluß sowie die Abgänger von Sonderschulen, die nicht zum Berufseintritt fähig sind und erst durch gezielte Förderung mit öffentlichen Hilfen zur Berufsreife und zur Ausbildung geführt werden müssen. Auf der Stufe der schulisch Hochgebildeten sind es Hochschulabsolventen, die aufgrund ihrer Studienfächer einem verschlossenen Arbeitsmarkt gegenüberstehen. Zwischen Hochschulen und Beschäftigungssystem hat sich in den letzten Jahren ein Spannungsfeld aufgebaut, das viele junge Akademiker, Frauen und Männer, heute und noch verstärkt in den kommenden Jahren zu spüren bekommen.

Die Akademikerarbeitslosigkeit ist ein relativ neues soziales Phänomen der Nachkriegszeit. Sie hat sich in den letzten Jahren überdurchschnittlich entwickelt, wird aber von einem großen Teil der Öffentlichkeit noch kaum zur Kenntnis genommen. Die Sorge ist aber berechtigt, was aus jungen Menschen mit einem Hochschulstudium von sechs und mehr Jahren und einem qualifizierten Abschluß werden soll, wenn die erworbene fachliche Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt nicht nachgefragt und gebraucht wird. Nicht nur, daß damit hohe Bildungsinvestitionen vergebens waren und ein Stück wertvoller Lebenszeit womöglich ohne wirtschaftlichen Nutzen eingesetzt wurde, mehr ins Gewicht fällt noch, daß Hochschulabsolventen ohne Berufschance und -perspektive sich in einer Sackgasse befinden und nicht weiter wissen. Verbitterung und Frustrationen sowie radikale Forderungen an Staat und Gesellschaft breiten sich mit wachsender Akademikerarbeitslosigkeit in einer sozialen Schicht aus, die den Nachwuchs für akademische Aufgaben und Anforderungen in der Wirtschaft und im sozialen Leben stellt.

Gewiß ist das Schicksal arbeitsloser Jungakademiker nicht höher zu bewerten als dasjenige aller anderen Arbeitslosengruppen. Auch ist zu beachten, daß der Akademikerarbeitsmarkt Teil des Arbeitsmarktes ist und keine privilegierte Rolle spielen kann. Es ist aber zu beachten, daß hier besondere, auch bildungspolitisch bedingte Gründe vorliegen und insofern gezielte persönliche und strukturelle Hilfen vonnöten sind. Wie sieht Akademikerarbeitslosigkeit heute aus? Gegenwärtig sind rund 120.000 arbeitslose Akademiker bei den Arbeitsämtern registriert. Die spezifische Quote der Arbeitslosigkeit der Akademiker entspricht etwa derjenigen der Facharbeiter, die durchschnittliche Arbeitslosigkeit liegt bei 8 bis 10 Monaten. Aber diese Zahlen können leicht einen falschen und beruhigenden Eindruck vermitteln, und zwar aus drei Gründen:

- Vermutlich sind bei weitem nicht alle arbeitslosen Akademiker bei den Arbeitsämtern gemeldet. Es gibt Grauzonen, in die sich ein Teil zurückgezogen hat, sei es mit unregelmäßigen Tätigkeiten oder mit Jobben oder in alternativen Lebensformen, die kaum Berufsperspektiven bieten. Besonders die größte Gruppe, die arbeitslosen Lehrer, erscheint erwiesenermaßen nur zum Teil in der amtlichen Statistik.

- Die Arbeitslosigkeit konzentriert sich eindeutig auf die Lehrämter und die geistes- und sozialwissenschaftlichen Berufe. Schlechte oder fast keine Berufsaussichten haben Lehrer, Soziologen, Psychologen, Politologen, Diplompädagogen, Sozialarbeiter, aber auch zunehmend Volkswirtschaftler, Juristen und Ärzte. Gute Berufsaussichten haben Ingenieure und Naturwissenschaftler der meisten Fachrichtungen und Betriebswirte. Wir haben es also mit einem gespaltenen Akademikerarbeitsmarkt zu tun. Die Kluft zwischen Arbeitsplatzbesitzern und denen, die keinen Zugang zur Beschäftigung finden, wird immer größer, auch bei weiterem Wirtschaftswachstum.

- Die genannten Zahlen bringen nur eine Momentaufnahme. Die Zahl der Absolventen, die jährlich die Hochschule verlassen, steigt weiter an. Die Höchstzahl wird erst Anfang der 90er Jahre erreicht sein. Nach vorliegenden Prognosen werden dann jährlich über 200.000 Jungakademiker auf den Arbeitsmarkt treten. Das wäre um die Hälfte mehr als gegenwärtig. Diese Zahl dürfte sich bis Mitte des nächsten Jahrzehnts auf hohem Niveau halten. Erst gegen das Jahr 2000 hin wird ein merklicher Rückgang eintreten. Man muß also davon ausgehen, daß wir es für die nächsten 10 Jahre mit einem anhaltenden außergewöhnlich starken Andrang von Jungakademikern auf den Arbeitsmarkt zu tun haben. In diesem noch vor uns liegenden Prozeß der Arbeits- und Berufssuche liegt die eigentliche soziale und politische Brisanz der Akademikerarbeitslosigkeit. Die gegenwärtig schon sichtbaren Probleme werden sich erheblich ausweiten und auf Antworten drängen.

Was sind die Ursachen der Akademikerarbeitslosigkeit?

Die Ursachen für diese fortschreitende Dynamik am Arbeitsmarkt lassen sich nach einer jahrzehntelangen - in der deutschen Bildungsgeschichte einmaligen - Expansion der Hochschulen und der Studienkapazität deutlich beschreiben: Die Bildungsplanung und Bildungswerbung der 60er Jahre und 70er Jahre ging von einem kaum begrenzten Bedarf an Hochschulabsolventen im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft aus. Die Bildungspolitik wurde zum wichtigsten Teil der gesellschaftlichen Reformpolitik erklärt, sie sollte durch Aufklärung, Emanzipation und "Selbstverwirklichung" des Menschen die Gesellschaft im Ganzen verändern. Gleiche Bildungschancen und gleichartige Bildungsangebote für alle ohne Rücksicht auf persönliche Begabung und Befähigung wurden gefordert. Gleiche Bildungschancen sollten durch gleiche Bildungsangebote verwirklicht werden. Abitur und Hochschulstudium wurden als erstrebenswertes Ziel für alle ausgegeben. Man wollte nicht anerkennen, daß Begabungen unterschiedlich sein können. Erst das Hochschulstudium sollte die volle Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen. Leitgedanke war daher, möglichst viele - konsequenterweise alle jungen Menschen zur Hochschulreife und zum Studium zu führen. So stieg die Zahl der Studienberechtigten (Abiturienten) stark an,

Entsprechend nahm auch die Zahl der Studienanfänger zu. Heute gibt es fünfmal soviel Jugendliche mit Hochschul- oder Fachhochschulreife als 1960. 28 % des Altersjahrganges sind studienberechtigt. 20 % der Gleichaltrigen nehmen ein Studium auf.

Diesem raschen und starken Anstieg der Abiturienten- und Studienanfängerzahlen folgte in einigem Abstand die Zunahme der Absolventen an den wissenschaftlichen Hochschulen und den Fachhochschulen. Das Beschäftigungssystem konnte eine Zeitlang die steigende Zahl der Hochschulabsolventen übernehmen. Die weitaus meisten, etwa zwei Drittel, kamen im öffentlichen Dienst, und hier wiederum zum größten Teil im Bildungswesen, unter. Der Rest trat in die Wirtschaft und die "Freien Berufe" ein. Diese Aufnahmestruktur hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert: der Bedarf des öffentlichen Dienstes ist befriedigt. Zusätzliche Einstellungsmöglichkeiten an Akademikern im öffentlichen Dienst stoßen auf enge Grenzen. Der Geburtenrückgang um rd. 40 % hat erhebliche Auswirkungen auf den Schul- und Bildungsbereich, zumal er mit dem Eintritt großer Jahrgänge nach Abschluß des Studiums in den Arbeitsmarkt zusammenfällt. Die Wirtschaft und die Freien Berufe werden bei guter Konjunkturentwicklung weiterhin zusätzlich Akademiker einstellen, allerdings kaum Lehrer und Geistes- und Sozialwissenschaftler, die gerade von der Hochschule kommen. Sie können jedoch nicht das Defizit ausgleichen, das der öffentliche Dienst durch seine restriktive Einstellungspolitik verursacht hat.

In einer Modellrechnung bis zum Jahre 2000 hat die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung die Größenordnungen abgeschätzt, in denen in den nächsten 15 Jahren zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Jungakademiker geschaffen werden müßten. Nur etwa ein Drittel dieser Generation von Hochschulabsolventen kann auf Arbeitsplätzen untergebracht werden, die durch Abgang von Akademikern frei werden. Schon bis um Jahre 1990 müßten unter Einschluß der gegenwärtigen Arbeitslosen für etwa 700.000 Absolventen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Bis zum Jahre 2000 werden insgesamt 1,6 bis 2,0 Millionen zusätzliche qualifizierte Arbeitsplätze benötigt. Obwohl der Akademisierungsgrad der Wirtschaft steigen wird, werden sich dennoch die Beschäftigungsprobleme für Akademiker verschärfen.

Diese Modellrechnung bestätigt, daß das Beschäftigungssystem mit der anhaltenden Zunahme des Angebots an Hochschulabsolventen nicht Schritt halten kann. Es hat sich ein fundamentales Mißverhältnis zwischen dem Angebot der Hochschulen und der Aufnahmefähigkeit des Beschäftigungssystems entwickelt. Bewirkt wurde diese Diskrepanz durch die rasche und starke Zunahme der Zahl der Studenten und Absolventen in den großen Fachbereichen der Geistes-und Sozialwissenschaften. Hochschulausbildung und Beschäftigung haben sich diametral auseinanderentwickelt und drohen noch weiter auseinanderzufallen.

Die besondere Problematik der Laientheologen

Unter den von Arbeitslosigkeit bedrohten Studentinnen und Studenten befinden sich gegenwärtig 6.000 bis 7.000 Studenten im fünfjährigen Diplomstudiengang "Katholische Theologie". Aus diesem Studium gehen jährlich 500 bis 600 diplomierte Laientheologen hervor, die eine Tätigkeit im kirchlichen Dienst anstreben. In den Diözesen sind in den nächsten Jahren insgesamt nach einer von den Bischöfen veranlaßten Erhebung höchstens 400 Stellen zu besetzen. Die Aussichten, eine hauptamtliche Beschäftigung als Diplomtheologe (z.B. Pastoralreferent) zu finden, gehen also rapide zurück. Das ist umso bedauerlicher, als sicher die meisten Theologiestudenten aus hoher religiöser Motivation dieses Studium gewählt haben. Die Kirche kommt hier in eine schwierige Situation. Wegen der sprunghaft gestiegenen Zahlen kann sie nur auf die Schwierigkeiten einer kirchlichen Anstellung hinweisen. Andererseits gilt es aber auch, das geistige und geistliche Potential der Studierenden für Kirche und Gesellschaft fruchtbar zu machen. Trotz vielfacher Anstrengungen ist hier eine befriedigende Lösung nicht in Sicht.

Unsere Stellungnahme

Der Gleichheitsgedanke und die vorherrschende Meinung, daß alle menschliche Entwicklung bildungspolitisch machbar sei, drängten andere menschliche und soziale Bezüge zurück. Vor allem wurde kaum nach der Arbeits- und Berufswelt gefragt, in die schließlich alle Bildungs- und Ausbildungswege einmünden und sich bewähren müssen. Gleichzeitig wurden die Anforderungen für die Schulabschlüsse auf allen Stufen des allgemeinbildenden Schulwesens zu Lasten der Qualität zurückgenommen. Zwar sind die stofflichen Anforderungen bei allen Schulabschlüssen des allgemeinbildenden Schulwesens immer noch beachtlich. Aber nicht selten werden die Haltungen vernachlässigt, die für das Bestehen in der Arbeitswelt wichtig sind: Zuverlässigkeit. Genauigkeit, Erfassen von Zusammenhängen, Belastbarkeit.

Gegenüber dieser Bildungsideologie der 60er und 70er Jahre wissen wir heute: Wer in eine Gesellschaft eingebunden sein will, braucht eine Arbeit, die in dieser Gesellschaft auch gefragt ist. Jeder Bildungsweg, der die Gesellschaft ja auch viel Geld kostet, sollte in einen Beruf einmünden, in dem der einzelne Leistungen für diese Gesellschaft erbringt. Welche Leistungen das sein sollen, hängt von den Begabungen und Fähigkeiten des einzelnen und dem Bedarf der Gesellschaft ab. Eine moderne Industriegesellschaft wie die unsrige benötigt vielfältige Fähigkeiten und Kenntnisse. Sie bietet nicht etwa nur Akademikern gute und beste Chancen.

Diese damals vorherrschende gesellschafts- und bildungspolitische Vorstellung muß heute korrigiert werden. Sie ist nicht mit dem Gemeinwohlprinzip in Übereinstimmung zu bringen, wie es die christliche Soziallehre entwickelt hat. Der Mensch ist nicht autonom und selbstherrlich, er braucht die Einsicht in soziale Zusammenhänge und eine verantwortliche Wahrnehmung seiner Freiheit. Die Selbstverantwortung muß gefördert werden, das Anspruchsdenken, das die Bildungspolitik gefördert hatte, muß demgegenüber zurückgenommen werden. Soziale Gerechtigkeit und Solidarität müssen besonders in den schwierigen Zeiten des Arbeitsmarktes und der Beschäftigung gewahrt bleiben. Das gilt ganz besonders auch gegenüber einer Generation, die durch fragwürdige bildungspolitische Leitvorstellungen teilweise auf Wege gelockt wurde, die kaum noch Berufs- und Lebenschancen eröffneten.

Was ist in dieser Situation zu tun?

Müssen wir das sich weiter verstärkende Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Akademikerarbeitsmarkt hinnehmen, so daß wir schließlich in einigen Jahren viele hunderttausend akademisch ausgebildete Langzeitarbeitslose ohne Berufsperspektive haben? Ist ein wachsendes akademisches Proletariat mit großen sozialen und politischen Gefahren zu befürchten? Eine solche Resignation der Politik können und dürfen wir nicht teilen. Wie aber können hier die Weichen umgestellt werden im Interesse der betroffenen jungen Menschen? Es genügt nicht, lediglich auf die freie Entscheidung der Studienberechtigten hinzuweisen und sich damit abzufinden, ob und was sie studieren. Die Politik, alle gesellschaftlichen Kräfte und die Hochschulen sind vielmehr gefordert, hier Wege aufzuzeigen, damit ein großer Teil der Studentengeneration den Zugang zum Berufsleben findet und viele Studienberechtigte solche Fächer vermeiden, die später am Arbeitsmarkt sich als Fehlqualifikationen herausstellen.

Hierbei ist zu beachten, daß in den Studienfächern, die besonders schlechte Berufsaussichten bieten, die Frauen einen weit höheren Anteil als die Männer haben. Am stärksten ist dies in den Lehramtsstudiengängen ausgeprägt. Von allen Hochschulabsolventen, die heute und in den nächsten Jahren große Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben, sind etwa zweidrittel Frauen. Die weiblichen Studienberechtigten haben sich anders als die männlichen bisher zu sehr auf wenige Studienfächer konzentriert. Andererseits werden bei der Einstellung in der Wirtschaft häufig noch die Bewerber den Bewerberinnen vorgezogen. Insofern steht die Beschäftigungspolitik hier noch vor einer zusätzlichen Schwierigkeit.

Voraussetzung für eine Politik der Mehrbeschäftigung von jungen Akademikern ist auf jeden Fall, daß ein stabiles und befriedigendes Wirtschaftswachstum erreicht und eingehalten wird. Nur dann werden die notwendigen Investitionen zur Schaffung neuer, hochqualifizierter Arbeitsplätze getätigt. Wenn gleichzeitig die Lebensarbeitszeit, wie bisher schon, weiter zurückgeht und wenn anstelle von Vollarbeitsplätzen Teilzeitplätze vermehrt geschaffen werden, wird sich auch auf diesem Wege der Flexibilisierung der Arbeitszeiten neuer Spielraum für eine Mehrbeschäftigung ergeben. Es wäre jedoch eine Illusion anzunehmen, daß sich im weiteren Wirtschaftswachstum kombiniert mit Arbeitszeitverkürzungen genügend Akademikerarbeitsplätze schaffen ließen und damit das Beschäftigungsproblem automatisch gelöst würde. Die besonders gefährdeten Geistesund Sozialwissenschaftler können nur zum geringsten Teil auf Akademikerarbeitsplätzen, wie in früheren Zeiten, untergebracht werden, sie stehen vielmehr in harter Konkurrenz mit den anderen, viel größeren Gruppen von Berufsanfängern. Die meisten von diesen haben eine qualifizierte Ausbildung im dualen System erhalten und suchen als Facharbeiter oder Angestellte einen adäquaten Arbeitsplatz. Da ihre Qualifikation eher gefragt ist, werden sie leichter eine Beschäftigung finden als "fehlqualifizierte" Akademiker.

Bei dieser Arbeitsmarktkonstellation sind daher besondere und gezielte Anstrengungen erforderlich, um den Jungakademikern zu verwendbaren fachlichen Qualifikationen zu verhelfen.

Was kann der öffentliche Dienst leisten?

Der öffentliche Dienst ist in den letzten 20 Jahren in allen Bereichen von den Schulen bis zu den Krankenhäusern, stark ausgeweitet worden. Längst sind in den öffentlichen Haushalten Finanzierungsgrenzen erreicht. Wenn man den Staatsanteil am Sozialprodukt nicht weiter erhöhen, sondern eher vermindern will, um mehr Raum für Privatinitiative und Privatfinanzierung zu ermöglichen, können von hier aus nur bescheidene Impulse zur Mehrbeschäftigung von Akademikern ausgehen. Auf zwei Gebieten sind aber besondere Anstrengungen des Staates und der Gemeinden dringend geboten.

Der eine Bereich ist das Schulwesen, für das der Staat ein Beschäftigungsmonopol ausübt. Gewiß kann er nicht mehr alle ausgebildeten Lehrer übernehmen, er kann aber auch nicht zulassen, daß auf viele Jahre hinaus der Zugang von Junglehrern zu den Schulen unterbunden wird. Die Altersstruktur der Lehrer würde zu einseitig werden, es käme kein "frisches Blut" mehr in die Schule - zum Schaden der Pädagogik und der Kinder und Jugendlichen. Deshalb sollte der Staat weiterhin ein Mindestmaß an jährlichen Neueinstellungen beibehalten, in größerem Maße als bisher nicht mit der vollen Stundenzahl, sondern als Teilzeitkräfte (z.B. 2/3 Lehrkräfte). Eine weitere dringende Forderung ist, daß Referendare, die nicht in ein unbefristetes Beamtenverhältnis übernommen werden, in allen Bereichen nachzuversichern sind, damit sie bei Nichtübernahme ein Mindestmaß an sozialer Absicherung haben. Bei einem Verzicht auf die Referendarausbildung sollte der Staat mit den eingesparten Gehaltszahlungen die gewünschte Umschulung einschließlich Unterhalt finanzieren. Damit würden sicher viele nach der ersten Staatsprüfung eher bereit sein, sich beruflich umzuorientieren.

Der andere Bereich, in dem die öffentliche Hand weiter gefordert sein wird, ist eine Reihe von öffentlichen sozialen Dienstleistungen, wo sich deutlich ein wachsender Bedarf abzeichnet. Vor allem ist hier an die Betreuung und Pflege alter Menschen, aber auch psychisch kranker Menschen zu denken, für die besonders Sozialarbeiter in Frage kommen, die an den Fachhochschulen ausgebildet werden.

Chancen für mehr Beschäftigung bieten hier neben stationären Einrichtungen auch Dienste zur Unterstützung häuslicher Pflege.

Angesichts des heute schon erreichten hohen Akademisierungsgrades im öffentlichen Dienst richtet sich aber das Hauptaugenmerk für eine Mehrbeschäftigung von jungen Akademikern auf die Wirtschaft und die Freien Berufe. Viele versuchen sich in freien Berufen z.B. als Rechtsanwälte, niedergelassene Ärzte oder als Selbständige, wobei die Risiken zunehmen, daß sie am Rande des Existenzminimums leben müssen.

Was kann die Wirtschaft leisten?

In der Wirtschaft sind ca. 20,6 Millionen Menschen beschäftigt, während es im öffentlichen Bereich nur ca. 6 Millionen sind. Der Akademisierungsgrad beträgt in diesem Bereich 20%, während es in der  Wirtschaft nur ca. 5% sind, was einer Beschäftigtenzahl von ca. 1,22 Millionen entspricht. Schon diese Zahlen zeigen, daß wesentliche Hilfe zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen für Akademiker von der Wirtschaft kommen muß.

Die vielfältigen Fähigkeiten, die die Wirtschaft für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben benötigt, kann sie unter bestimmten Voraussetzungen bei diesen jungen Akademikern finden. Sie haben vielfach in ihrem Studium Fähigkeiten erworben, die auch in der Wirtschaft benötigt werden: Die Möglichkeit zu analytischem Denken, zu differenzierter Ausdrucksweise, zu sach- und personenbezogener Vermittlung - das alles ist ein hervorragendes Startkapital für jeden qualifizierten Beruf.

Sie bedürfen aber noch der zusätzlichen theoretischen und praktischen Ausbildung, um diese Fähigkeiten auf für sie neuen Berufsfeldern zu entwickeln. Hier behilflich zu sein, ist eine Aufgabe öffentlicher Institutionen und der Wirtschaft selbst. Viele Großbetriebe bieten schon ein "training on the job" an, um im praktischen Vollzug den jungen Akademikern Gelegenheit zu geben, sich in die betriebliche Realität einzuüben. Darüber hinaus sollten auch Weiter- oder "Umbildungs"-maßnahmen angeboten werden, die eine Verwendung in den breiten Berufsfeldern der Wirtschaft mit der Möglichkeit späterer Spezialisierung in der Praxis ermöglichen. Hier sind mit Sicherheit gute Beschäftigungschancen gegeben. Dabei sollten die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Bundesanstalt für Arbeit voll genutzt werden.

All das geht nicht ohne einen erheblichen finanziellen Aufwand. Es sind Bildungsmaßnahmen zu finanzieren, vor allem durch die Arbeitgeber und die Arbeitsverwaltung. Unterhaltszahlungen sind weiter zu leisten, wofür zum Teil erst die entsprechenden Verwaltungsvorschriften angepaßt werden müssen. Aber all das ist notwendig, um die viel höheren Kosten der Arbeitslosigkeit in Zukunft zu vermeiden; und sie sind notwendig, um einer großen Zahl von jungen Menschen überhaupt erst die Perspektive zu geben, in Zukunft in unserem Staat einen angemessenen Platz für sich zu finden.

Noch wichtiger als diese Bereitschaft, materielle Mittel bereitzustellen, ist die geistige Bereitschaft, sich auf die neue Situation einzustellen, die sich aus der fast plötzlichen Änderung der Bildungsstruktur einer ganzen Generation ergibt. So heißt die zu fordernde Erhöhung des Akademisierungsgrades der Wirtschaft, daß man sich auf eine neue Gruppe von Mitarbeitern einstellen muß, die eine ganz andere Vorbildung haben, als man sie sonst auf den entsprechenden Arbeitsplätzen erwartet. Das kann Konflikte bringen und verlangt eine neue Flexibilität in den Betrieben und den Personalabteilungen. Dem kommt allerdings entgegen, daß auch die "Anforderungsprofile" sich geändert haben: Die rasante technische und organisatorische Entwicklung, der Wandel der Absatzmärkte in den letzten Jahren verlangen hier Anpassungen, die auf eine größere Wendigkeit und bessere Sprachfähigkeit hinauslaufen: Eigenschaften, die man von den jungen Akademikern, die sich nun neu für die entsprechenden Aufgaben bewerben, zu Recht erwarten kann.

Was müssen die Betroffenen selbst tun, was kommt auf diese jungen Erwachsenen zu?

Meist haben sie sich nach ihrem Abitur 6 bis 8 Jahre auf einen Beruf vorbereitet, in dem sie jetzt, im Alter von 25 bis 30 Jahren offensichtlich nicht tätig werden können. Die Umorientierung, die nun notwendig wird, verlangt viel: zu unterschiedlich ist z.B. das berufliche Handeln eines Lehrers oder eines Sozialpädagogen zu dem, was man etwa von einem Kaufmann erwartet.

So wird eine sehr große Flexibilität von den jungen Akademikern, die sich beruflich umorientieren müssen, verlangt. Wir alle müssen ihnen dabei behilflich sein. Aufgegeben werden muß ein Anspruchsdenken, das sich gerade in den letzten 20 Jahren in unserem Land zunehmend ausgebreitet hat. Konkret bedeutet das, daß akademische Ausbildung nicht ohne weiteres einer bestimmten Gehaltseinstufung entsprechen muß. In der Wirtschaft kann ein solches Prinzip sowieso nicht eingehalten werden, es würde in den Betrieben z.B. auch als ungerecht empfunden werden. Das gilt trotz der erhöhten Chancen, die man vielen Akademikern nach wie vor geben muß. Sie müssen aber durch erhöhte Leistungen gerechtfertigt werden, die sich im Wettbewerb mit denen messen lassen müssen, die sich mit Hilfe anderer Bildungswege und mit praktischer Bewährung um die gleichen interessanten Stellen bewerben werden.

Welche Aufgabe hat die Bildungspolitik?

Auch bei intensiven Bemühungen zur Umorientierung und Umschulung bzw. Nachqualifikation von Hochschulabsolventen in der Wirtschaft dürfte sich das quantitative Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Akademikerarbeitsmarkt mittelfristig noch nicht befriedigend losen lassen. Für einen erheblichen Teil der heute Studierenden bleiben die Berufsaussichten weiterhin schlecht. Es ist aber bereits ein Prozeß der Selbstkorrektur vor dem Eintritt in die Hochschulen im Gange: Immer mehr Studienberechtigte suchen eine Alternative zum Studium, indem sie eine qualifizierte Berufsausbildung im dualen System anstreben, um nach 1 ½ bis 2 Jahren unter den gleichen Bedingungen wie Haupt- und Realschüler einen Abschluß als Facharbeiter, Gesellen oder Angestellte zu machen. Anders als nach einem sechs- oder siebenjährigen Studium finden sie damit sofort Zugang zum Berufsleben, erhalten einen Ausbildungsvertrag und sind sozial abgesichert. Bei einem eventuellen späteren Studium ist ihnen der Erfolg in der dualer, Ausbildung nützlich.

Etwa 30 % der Studienberechtigten machen zur Zeit von dieser Alternative Gebrauch. Fast 200.000 von rd. 1,8 Millionen Lehrlingen haben bereits das Abitur. Nach der Berufsausbildung können sie in der Berufsbahn bleiben und sich weiterbilden, etwa zu Meistern oder Technikern. Die Anziehungskraft der Alternative "Berufsausbildung" auf die Abiturienten hängt entscheidend davon ab, ob nach der Erstausbildung im Betrieb weitere Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten geboten werden. So könnten Abiturienten "von unten" die gleichen Positionen in Betrieben erreichen wie Hochschulabsolventen, die nach einer beruflichen Nachqualifizierung auf einer gehobeneren Ebene beginnen.

Dieser Weg zur Gewinnung und Heranbildung von qualifizierten Nachwuchskräften wird in den nächsten Jahren für die Wirtschaft von großer Bedeutung sein. Zur Zeit bemühen sich aber erheblich mehr Studienberechtigte um betriebliche Ausbildungsplätze als die Wirtschaft anbietet. Es ist dringend erforderlich, daß die Betriebe sich auf das veränderte, überaus realistische Bildungsverhalten einstellen und bei dem zu erwartenden Rückgang an Haupt- und Realschülern den Abiturienten ausreichende und attraktive Ausbildungs- und Fortbildungsangebote machen. Dabei dürfen aber Haupt- und Realschüler nicht benachteiligt werden. Damit wird in den kommenden Jahren nicht nur vielen Studienberechtigten ein langes, beruflich schwer verwertbares Studium erspart. Es wird auch gleichzeitig das Überangebot an Geistes- und Sozialwissenschaftlern abgebaut und schließlich wieder ein angemessenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Akademikerarbeitsmarkt erreicht.

Das Argument, daß eine solche Politik vielen jungen Menschen das Recht auf ein Studium verweigert, ist irreführend und unzutreffend. Alle Abiturienten, die eine betriebliche Berufsausbildung durchlaufen, haben jederzeit die Möglichkeit, ein Hochschulstudium anzuschließen. Viele tun dies auch seit langem. Wer aber diesen Weg beschreitet, wird dies aufgrund seiner schon erworbenen Berufserfahrungen sehr überlegt tun und ein Studium wählen, das seine Berufschancen weiter verbessert.

Perspektiven

Groß sind die entstandenen Verwerfungen und Schwierigkeiten, die durch die überhasteten und vielfach realitätsfernen Bildungsreformen entstanden sind. Ziel muß es sein, wieder ein neues Gleichgewicht zwischen der Ausbildung der Hochschulen und dem Arbeitskräftebedarf im Beschäftigungssystem herzustellen. Nur eine neue Ausgewogenheit zwischen Bildung, Arbeit und Beruf gibt den jungen Menschen mit einer qualifizierten schulischen Vorbildung die richtigen Signale für die weitere Ausbildung und für die Einmündung ins Berufsleben. Voraussetzung dafür ist eine solide, verbindliche Allgemeinbildung mit Orientierung an gesellschaftlichen Grundwerten.

In Zusammenarbeit zwischen Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik brauchen wir zwei Konzeptionen: eine kurz- bis mittelfristige, die den heute Studierenden und den Hochschulabsolventen der nächsten Jahre Hilfestellung gibt, aus Sackgassen herauszukommen und angemessene Beschäftigung zu finden, und eine längerfristige Konzeption, die bisherige Fehlentwicklungen abbaut und für die Zukunft verhindert.

Diese zukünftige Bildungspolitik wird sich - nicht mehr unter dem akuten Druck der großen Zahlen von Studenten - auf allen Ebenen der Aus- und Weiterbildung wieder der sinnvollen Verbindung von Theorie und Praxis nach Begabung und Befähigung zuwenden.

Bis dahin stehen wir in einer Phase, in der sich die entstandenen Probleme keineswegs harmonisch auflösen, sondern in zahlreichen kleinen Schritten und mit viel sozialer Phantasie verringert werden müssen. Die junge Generation, die jetzt studiert oder vor der Studienentscheidung steht, braucht dringend die Hilfe der Gesamtgesellschaft. Von den jungen Menschen aber muß Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur beruflichen Beweglichkeit erwartet werden.

Die geforderte Flexibilität der Akademiker und der ganzen Gesellschaft- des öffentlichen Dienstes und der Wirtschaft, der Kollegen und Vorgesetzten - das kann uns alle vor Erstarrung und vor Verkrustung der gesellschaftlichen und beruflichen Strukturen bewahren. In einer Welt, die durch technischen und politischen Wandel gekennzeichnet ist, die sich in kürzester Zeit immer wieder neuen, oft weltweiten Problemen gegenübergestellt sieht, in dieser Welt können die großen Aufgaben verantwortlich nur von einer weit verbreiterten Bildungsbasis aus gelöst werden. Das gilt natürlich nicht nur für die akademisch Gebildeten, sondern für uns alle. Was gefordert ist, ist eine realitätsbezogene Bildung, die die zu gestaltende gesellschaftliche und politische Wirklichkeit mit Augenmaß zu beurteilen vermag.

So können wir hoffen, daß das große Innovationspotential, das für Wirtschaft und Gesellschaft in der Akademikerschaft ruht, für das Gemeinwohl genutzt werden und daß so gleichzeitig der jungen Akademikergeneration ein angemessener Platz in dieser Gesellschaft geschaffen werden kann.

Dazu bedarf es der Anstrengungen der Betroffenen und aller, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen. Zu dieser Anstrengung fordern wir hiermit auf.


Veröffentlicht am 6. Mai 1987.

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