Als Broschüre vergriffen
Politik für das Leben
Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vor der Bundestagswahl 1987
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat im letzten Jahrzehnt wiederholt um mehr öffentliche Zustimmung zu einer an den Grundwerten menschlichen Zusammenlebens orientierten Politik geworben. Aus Anlaß der bevorstehenden Bundestagswahl bitten wir erneut die Bürgerinnen und Bürger, die Politiker und die Parteien, politisches Planen und Handeln an den tragenden Grundwerten unserer Verfassung zu messen und so dazu beizutragen, daß die Würde des Menschen gewahrt bleibt, daß Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verwirklicht werden und daß die Menschen in Frieden miteinander leben können.
Leben ist heute ein Schlüsselwort für eine an den Grundwerten orientierte Politik. Ob die Politik sich in der bloßen Machbarkeit erschöpft oder ob sie wertbezogen und werterfüllt ist, das wirkt sich auf das Leben des einzelnen aus, ob jung oder alt, ob geboren oder ungeboren, ob krank oder behindert. Das wirkt sich aber auch auf das Leben in der Familie aus, auf das Leben in Gesellschaft und Staat, in der Völkergemeinschaft und in der einen Welt. Auch das Leben in der Natur, die Gottes Schöpfung ist, kann nur bewahrt werden, wenn sich die Politik an unverfügbaren Grundwerten orientiert. Politik muß heute vor allem eine Politik für das Leben sein.
Die letzten Katholikentage haben die Forderung nach einer Politik für das Leben eindrucksvoll unterstrichen. Es waren besonders junge Leute, die auf den Katholikentagen ihr Ja zum Leben, ihre Freude am Leben und ihre Bereitschaft zum Dienst am Leben mit der politischen Verantwortung für das Leben in überzeugender Weise verknüpften. Eine Politik, die Zukunft gestalten will, muß diesem Lebenswillen junger Menschen entsprechen.
Politik für das Leben ist Politik für heute und morgen, ist eine Politik, die der Jugend den Weg in die Zukunft bahnen hilft.
Politik für das Leben braucht viele Verbündete. Mit der folgenden Erklärung will das Zentralkomitee der deutschen Katholiken alle Bürgerinnen und Bürger einladen, sich dem Bündnis einer Politik für das Leben anzuschließen.
Politik für das Leben: Hintergründe
Zum ersten Mal wird der Menschheit ihre umfassende Verantwortlichkeit für die Zukunft des Lebens auf unserem Erdball bewußt. Wie nie zu" vor sind die Menschen heute in der Lage, die Lebensgrundlagen auf der Erde zu erweitern und zu sichern, aber auch sie zu vernichten oder doch zumindest erheblich zu schädigen. Dies ist eine große Herausforderung für die Politik; denn ihre wichtigste Aufgabe ist es, Leben zu fördern und zu schützen und seinem Recht und seiner Entfaltung in der Gesellschaft zu dienen. Politik muß Politik für das Leben sein.
Leben ist mehr als Überleben. In unserer Gesellschaft, in der so viele Energien auf die Entwicklung der äußeren Lebensmöglichkeiten gerichtet sind, nimmt der Konsens über die Bedeutung und Begründung der Werte, die dem Leben Sinn und Richtung geben, augenscheinlich ab. Leben um jeden Preis, Leben auf Kosten anderer gewinnt ein Übergewicht. Stärker als je zuvor zweifeln aber auch viele daran, ob das Leben und die Weitergabe des Lebens sich lohnen. Leben wird immer häufiger als Last, als ein in die Verfügung des einzelnen gestelltes Gut unter anderen Gütern angesehen, oft als ungewähltes und ungeliebtes Schicksal erfahren. Und dennoch ist in unserer Gesellschaft ein Aufbruch zu spüren! verschüttete oder neue Quellen des Lebens zu erschließen.
Ein widersprüchliches Bild: Lähmende Angst, aber auch schöpferischer Lebensmut, müde Resignation, aber auch wache Verantwortung kennzeichnen in unserer Gesellschaft das Verhältnis zum Leben. Oft mischen sich Besorgnis und Zuversicht in ein und demselben Menschen. Den Politikern kann es nicht gleichgültig sein, ob in der Gesellschaft das Ja zum Leben für den einzelnen und für die Gesamtheit tragfähig ist oder nicht. Politiker haben die Verpflichtung, eine positive Grundeinstellung zum Leben zu stärken und die Fundamente hierfür zu sichern und zu fördern.
Politik für das Leben: Grundlinien
Soll Politik wahrhaft dem Leben dienen, dann hat sie vor allem drei Aufgaben:
- Sie hat das Ja zum Leben im Bewußtsein und in der Praxis der Gesellschaft zu fördern, sie hat also das Ja zum Leben als gemeinsame Basis gesellschaftlichen Lebens sicherzustellen.
- Sie muß die Räume öffnen und schützen, die das Leben braucht, um sich zu entfalten.
- Sie muß dem Leben seine Zeit sichern und einräumen.
Ja zum Leben
Die Achtung vor dem Leben und vor der Würde des Menschen ist Voraussetzung und Fundament für menschliches Miteinander. Zu diesen Grundwerten bekennt sich unser Volk in seiner Verfassung. Das bedeutet, daß jedes menschliche Leben in seiner Würde ernstgenommen und bejaht wird. Dazu braucht es einen ständigen breiten Konsens in der Bevölkerung. Das Leben eines jeden Menschen, wie belastet oder belastend es ihm selbst oder anderen auch erscheint, ist ein unverrechenbares, schutzwürdiges Gut für die Gesellschaft im Ganzen. Jedes Menschenleben ist so gesehen ein Politikum. Aus der geschichtlichen Erfahrung in unserem Land wissen wir, daß die Menschlichkeit zerstört wird, wenn der Wert und die Schutzwürdigkeit eines Lebens von seiner Nützlichkeit und von seiner Zumutbarkeit abhängig gemacht wird.
Politik hat die doppelte Aufgabe, sowohl zuträgliche Bedingungen und Verhältnisse für das Ja zum Leben zu sichern als auch rechtlich das menschliche Leben von seinem ersten Anfang bis zu seinem Ende zu schützen. Es trifft eine auf Recht und Menschenwürde gegründete Gesellschaft bis ins Mark, wenn in ihr versucht wird, die Nichtannahme oder die Beendigung des Lebens mit sozialen Gründen zu rechtfertigen. Gentechnik und Fortpflanzungstechnik müssen ihre Grenze an der Würde des Menschen und an der Unantastbarkeit des Lebens finden.
Von einer Politik für das Leben kann nur die Rede sein, wenn Müttern und Familien in Not geistig und materiell geholfen wird, wenn ungeborenen Kindern ihr Lebensrecht gesichert und alles verhindert wird, was als staatliche Rechtfertigung ihrer Tötung verstanden werden kann. Die Empörung über die gegenwärtige Abtreibungspraxis, die das Recht auf Leben mißachtet, das ohnehin unzureichende Gesetz noch mißbraucht und das allgemeine Rechtsbewußtsein gefährlich schwächt, muß alle Bürger und Politiker zusammenführen, die die menschlichen und sozialen Hilfen für Frauen, die unter schwierigen Bedingungen schwanger sind, und den Rechtsschutz für das ungeborene Kind verbessern wollen. Enttäuschend ist, daß die Bundesregierung Über Verbesserungen der sozialen Hilfen hinaus bisher keine Initiative zur Verbesserung des Rechtsschutzes ergriffen hat. Der stumme Schrei ungeborener Kinder und die Not vieler werdender Mütter verlangen von uns eine deutliche und unüberhörbare Antwort.
Das Ja zum Leben ist Mut, ist Freiheit zum Leben - aber auch Bindung ans Leben. Mit dem gebrochenen Ja zum Leben hängt auch das Fehlen der Bereitschaft vieler zusammen, Lebensbindungen in Ehe und Familie einzugehen und durchzutragen und sich an die Rechts- und Freiheitsordnung unserer Verfassung gebunden zu wissen, ohne mit der Möglichkeit zum "Aussteigen" zu spielen. Und umgekehrt kann eine Gesellschaft nur in dem Ausmaß lebensfreundlich und lebensbejahend sein, in welchem sie solche Bindungen anerkennt und der Staat ihnen rechtlich und praktisch Schutz und Entfaltung sichert.
Politik für das Leben muß deshalb eine Politik sein, die das Ja zum Leben und das Ja zu personaler Bindung, aber auch das Ja aller zur Verantwortung für Gesellschaft und Staat fördert und sichert. Wo Politik sich nicht mehr an diesen Zielen orientiert, wird gesellschaftliches und politisches Zusammenleben zu einer Veranstaltung, in der es zwar noch äußere Regelungen gibt, aber keine tiefer begründeten Rechte und Pflichten, in der man Beziehungen unterhält, aber keine Gemeinschaft erfährt, wo Kommunikation gesucht, aber keine Solidarität geübt wird. Dann tritt Beliebigkeit an die Stelle der Freiheit, Gleichheit löst sich von der Gerechtigkeit und Liebe wird auf Sozialkontakt reduziert.
Räume für das Leben
Menschliches Leben ist in die Zusammenhänge von Natur und Geschichte hineingestellt. Es ist Sache einer Politik für das Leben, die personalen, natürlichen und geschichtlichen Lebensräume des Menschen zu wahren und zu öffnen. Der Raum des Lebens hat immer einen doppelten Charakter: Er ist offen, er gibt die Chance zur Entfaltung und Gestaltung, und er ist gefügt, geordnet, er schützt das Leben vor Bedrohung von außen oder vor dem Zusammenbruch in sich selbst. Der Raum unseres Lebens ist also Freiheitsraum und Schutzraum.
Ehe und Familie sind der personale Lebensraum, dem vor allen anderen Vorrang und besonderer Schutz des Staates zukommt. In der festen Verbindung von Mann und Frau entsteht eine Gemeinschaft, in der neues menschliches Leben wächst, sich entfaltet, Schutz findet und in die Gesellschaft hineinwächst. Politik für das Leben muß in erster Linie Politik für die Familie sein. Einer nachwachsenden Generation die Erfahrung eines bergenden und stabilen personalen Lebensraumes zu gewährleisten, der Familie die sozialen Möglichkeiten und Hilfen zu bieten, damit sie ihren Dienst am Leben erfüllen kann, sind Aufgaben, hinter denen Rücksichten auf andere Interessen der Gesellschaft zurücktreten müssen. Daß in den Belastungen und Schwierigkeiten unserer Zeit gerade auch die nicht vollständige Familie besonderer Hilfe und Stützung bedarf, ist nur die andere Seite derselben Forderung nach dem Vorrang von Familienpolitik.
Die familienpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre sind erfreuliche Fortschritte für die Familie. Unseren Forderungen ist in ersten Schritten entsprochen worden: Bei gleichem Einkommen zahlen heute Familien mit Kindern weniger Steuern als Familien ohne Kinder, Familien, die wegen ihres geringen Einkommens vom Steuerfreibetrag nichts oder nur wenig haben, erhalten mehr Kindergeld. Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie und der Einstieg in das Erziehungsgeld und in die Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht sind ein Durchbruch zugunsten der erzieherischen Leistung der Familie. Es gilt, diese Politik für die Familie auf dem eingeschlagenen Weg energisch fortzusetzen und weitere Schritte im Sinne der familienpolitischen Forderungen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vorzunehmen.
Menschliches Leben kommt durch Erziehung und Bildung zur Entfaltung. Durch sie stellt sich immer wieder der Zusammenhang der Generationen her; durch sie übernimmt der junge Mensch von den älteren Sprache und erfährt Sitte, Denken und Lebensführung. Durch sie wächst er in Kultur und Gesellschaft, in die Beziehungen zwischen Menschen und Völkern hinein. Erziehung und Bildung befähigen zu verantwortlichem individuellem Handeln, zu sozialem Verhalten und zur Bewältigung wissenschaftlich- technischer Herausforderung in Beruf und Gesellschaft. Bloßer Wissenserwerb, bloße Vermittlung instrumentaler Fertigkeiten genügen dafür nicht. Junge Menschen müssen vertraut werden mit sittlichen und religiösen Werten, die ihrem Leben und Handeln eine klare Orientierung geben. Hier liegt die Verantwortung von Elternhaus, Schule, Kirche, bis hin zu deren Verpflichtung zum glaubwürdigen Zeugnis. Erziehung muß "leben lehren".
Eine neue Achtsamkeit für den Lebensraum Natur ist aufgebrochen. Viele Menschen sehen ihr Recht, sich die Schöpfung nutzbar zu machen, in neuer Verantwortung. Technische Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum sind auf unverfügbare natürliche Lebensbedingungen verwiesen, deren Erhaltung uns Grenzen in Entwicklung und Konsum setzen. Dabei kommt der Erhaltung und Gestaltung unserer Landschaft, für die der bäuerliche Familienbetrieb unentbehrlich ist, eine besondere Bedeutung zu. Eine Landwirtschaft, die die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts mit schonenden Produktionsmethoden sichert, bedarf einer gezielten Förderung.
Das Konzept der Energiegewinnung und der Energiepolitik bedarf einer ständigen Überprüfung und Fortschreibung. Im Vordergrund muß der Schutz des Lebens stehen. Es geht nicht nur um die Sicherung des Bedarfs bei gleichzeitiger Beherrschung der Risiken für die Menschheit heute, wir müssen auch die Voraussetzungen schaffen, daß späteren Generationen die zu ihrem Leben notwendige Energie verfügbar wird und sie möglichst geringfügig mit den Folgelasten unserer heutigen Energiegewinnung belastet werden. Die Sorge um Umwelt und Nachwelt gebietet auf jeden Fall einen rationellen und sparsamen Energieeinsatz und intensive weitere Energieforschung. Welche Techniken verantwortbar und am geeignetsten sind, ist in sorgfältiger Güterabwägung immer neu zu prüfen.
In der Umweltschutzpolitik bleibt noch viel zu tun. Unsere Wirtschaftsordnung und unser praktisches Wirtschaften müssen so weiterentwickelt werden, daß sie unserer natürlichen Umwelt ebenso gerecht werden wie unserer sozialen Mitwelt. Deshalb brauchen wir eine sozial und ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft sowie die Beeitschaft zu einer entsprechenden Änderung unseres Lebensstils.
Im letzten Jahrzehnt haben wir vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit erneut erfahren müssen, was Arbeit für den Menschen und seine Entfaltung bedeutet und welcher großen unternehmerischen und wirtschaftspolitischen Anstrengungen es bedarf, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit bleibt für alle Gruppen unserer Gesellschaft eine große Herausforderung. Um wieder eine hohe Beschäftigungslage zu erreichen, müssen gleichzeitig verschiedene Wege beschritten werden: Die Politik des Staates muß nachhaltig Investitionen und Innovationen, Beschäftigung und berufliche Fort- und Weiterbildung fördern, damit Wirtschaftswachstum erreicht wird und verschiedene Formen von Arbeitszeitverkürzung auch unter Rücksicht auf die Familien möglich werden. Bei der Einführung neuer Technologien müssen neue Formen der Partnerschaft zwischen Arbeit und Kapital entwickelt werden. Besondere Anstrengungen sind notwendig, um das Schicksal der schwervermittelbaren Arbeitslosen zu erleichtern, die über lange Zeit hin Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung oder von Verwandten vor Augen haben.
Politik für das Leben bedeutet hier, Rahmenbedingungen zu schaffen, die zu einer wirtschaftlichen Entwicklung führen, aus der heraus neue Arbeitsplätze geschaffen und die Einkommen der Arbeitenden wirklich und dauerhaft gesichert werden können. Ohne eine geistige und ordnungspolitische Fundierung, die stets den Menschen als Träger und Ziel des Wirtschaftens in den Mittelpunkt stellt, gelingt das nicht.
Dem Leben Raum geben, heißt auch, den geschichtlichen Lebensräumen, Vaterland, Nation, Europa ihren Stellenwert einzuräumen. Das bedeutet für uns als Deutsche immer auch, am Leben und Schicksal jener Deutschen Anteil zu nehmen, denen durch totalitäre Macht grundlegende Rechte vorenthalten werden. Die Freiheit bei uns zu stärken, ist auch für sie ein Zeichen der Hoffnung auf die Erneuerung unseres Zusammenlebens in Zukunft.
Mut zur Versöhnung, Achtung vor der Würde eines jeden Menschen und der Wille zu gegenseitiger Solidarität haben nach dem Krieg das Zusammenleben der Völker in Westeuropa auf eine neue Grundlage gestellt. Durch die Bemühungen um ein vereintes Europa und das Bündnis mit den Staaten der westlichen Welt ist hier ein Lebensraum der Freiheit und des Friedens entstanden. Ihn zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung weiterzuentwickeln, bleibt die Hoffnung der Menschen in West und Ost. Es würde nicht nur unsere Freiheit und unseren Frieden, sondern auch die Freiheit und den Frieden für viele unserer europäischen Nachbarn aufs Spiel setzen, wenn wir uns aus den gewachsenen geistigen und politischen Bindungen an den Westen herauslösen und einen Sonderweg beschreiten wollten.
Wir müssen heute in europäischen Zusammenhängen denken und handeln. Nur indem wir unsere Kräfte vereinen, haben wir Europäer die Chance, bei der technologischen Entwicklung Schritt zu halten und unseren Lebensstandard zu sichern. Nur vereint können wir die Lebensgrundlagen der Dritten Welt entwickeln helfen und zur Sicherung des Weltfriedens einen Beitrag leisten. Unabdingbar ist es deshalb, Stagnationen und Fehlentwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft zu überwinden und das begonnene Einigungswerk zu einer wirklichen politischen Union auszugestalten.
Die europäische Einigung ist aber nicht nur eine Frage der politischen und wirtschaftlichen Vernunft. Es geht hier auch um die Bewahrung und Weitergabe eines geistigen Erbes. Diesem Erbe getreu, müssen sich die Europäer dafür einsetzen, daß der Raum des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts für die Maßstäbe der Ethik geöffnet ist, daß alles staatliche Handeln an die Achtung der Personenwürde und die Erfordernisse der Gerechtigkeit und Solidarität gebunden bleibt und daß die kulturelle Identität ihrer Völker und Regionen untereinander und über Europas Grenzen hinaus in einer lebendigen Wechselbeziehung steht.
Europäisches Erbe verpflichtet uns, tatkräftig darauf hinzuwirken, daß alle Menschen an den Gütern dieser Erde teilhaben. Sein Kennzeichen ist nicht der Rückzug auf sich selbst, sondern das Denken und Handeln in weltweiten Dimensionen. Deshalb muß sich die Bundesrepublik Deutschland künftig noch entschiedener für die Schaffung einer Weltfriedensordnung einsetzen.
Eine Politik der Sicherung des Friedens und zugleich der Freiheit verfolgt das Ziel, Krieg zu verhüten und gleichzeitig die Waffen auf das Minimum zu reduzieren, das durch allseitige, kontrollierte Abrüstung unter Wahrung des Gleichgewichts erreichbar ist. Eine Welt, in der die Völker friedlich zusammenleben und nicht gegeneinander die Waffen erheben, ist das Ziel einer weltweiten Politik für das Leben.
Politik ist heute immer auch Weltpolitik. Sie muß das Leben in der ganzen Menschheit im Blick haben. Armut in der Dritten Welt verstößt gegen die soziale Gerechtigkeit und ist eine globale Bedrohung des menschlichen Lebens. Kurzfristig bedroht sie menschliches Leben in der Dritten Welt, langfristig bedroht sie den Frieden und damit das Leben in der Einen Welt. Entwicklungspolitik muß gegen Unterernährung und Unterbeschäftigung, gegen Unwissenheit und Rechtlosigkeit, gegen Unterdrückung und Unfreiheit, gegen Krankheit und unwürdige Wohnverhältnisse die Solidarität und die Ressourcen unserer Gesellschaft mobilisieren. Das geht nur, wenn der Egoismus der Gruppen und Völker überwunden wird. Nur eine Politik, die die Lebensgemeinschaft aller Völker in dem Lebensraum Eine Welt zum Ziele hat, kann der einen Menschheit ihre gemeinsame, unteilbare Zukunft sichern. Die Entwicklungspolitik muß sich immer mehr auf wirksame Armutsbekämpfung konzentrieren, die Rahmenbedingungen in der Dritten Welt entsprechend verbessern helfen, Bereitschaft zu den erforderlichen Strukturanpassungen bei uns und in der Weltwirtschaft wecken sowie Konzepte einer Hilfe zur Selbsthilfe entwickeln, die ökonomische Produktivitätssteigerungen mit Chancen zur personalen und sozialen Entwicklung verbinden. Eine solche Entwicklungspolitik dient auch der Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte, die mehr und mehr zum Maßstab und Faktor der internationalen Politik werden müssen.
Unter uns leben zahlreiche ausländische Flüchtlinge. Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen, ist seit altersher eine Forderung der Mitmenschlichkeit. Unabhängig von der Diskussion um die Rechtsstellung von Flüchtlingen muß die Hilfe für sie durch Bund, Länder und Kommunen verbessert werden. Dabei kommt auch den einzelnen Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen eine wichtige Aufgabe zu. Sie können ortsnah helfen und durch die Begegnung von Mensch zu Mensch Ängste überwinden und Brücken der Verständigung bauen.
Zeit für das Leben
Das Ja einer Gesellschaft zum Leben ist so stark wie die Bereitschaft ihrer Glieder, sich für den Anfang und das Ende, für die Grenz- und Krisenzeiten des Lebens anderer Zeit zu nehmen, menschliches Leben in seinen vielfältigen Aufgaben, Begrenzungen und Gefährdungen zu begleiten. Zu dieser Bereitschaft gehört es aber auch, Zeit für das eigene Leben, für das Nachdenken über den Lebenssinn und für die Menschen zu haben, mit denen wir zusammenleben. Das hat große Auswirkungen auf die Gestaltung der Arbeitszeit und der Freizeit und auf ihre politische Gewichtung.
Zeit haben für das Leben der anderen verlangt aber mehr als nur den Aufbau eines leistungsfähigen technischen und sozialen Apparates, der das "normale" Leben vor Grenzsituationen abschirmt. Entscheidend ist vielmehr, daß diese Grenzsituationen des Lebens von dem, der mitten im Leben steht, miterlebt werden, daß er in seinem "normalen" Lebenszusammenhang Zeit und Raum für das Kind, für den Alten, für den Kranken, für den Sterbenden findet. Aufgabe der Politiker ist es, Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Sorge um Grenzzeiten des Lebens wieder stärker in die Familie und in die persönliche Bemühung hilfsbereiter Menschen hineingenommen werden kann, daß Menschen den Sterbenden besser beistehen können, statt durch sogenannte aktive Sterbehilfe das Leben zu beenden.
Unser System der sozialen Sicherheit ist so fortzuentwickeln, daß es mehr leistungsbezogene Hilfen zur Selbsthilfe gewährt. Dies gilt insbesondere für die Pflege kranker, alter und behinderter Menschen. Die Familie hat in einem bisher von der Gesellschaft nicht wahrgenommenen Umfang die Sorge für ihre alten und pflegebedürftigen Angehörigen übernommen. Es ist überfällig, daß durch steuerliche Erleichterungen, staatliche Beihilfen und die Anrechnung von Pflegezeiten im Rentenrecht die pflegenden Angehörigen entlastet, die pflegerischen und sozialen Hilfen verbessert und darüber hinaus auch die alleinstehenden alten Menschen besser versorgt werden. Dazu ist auch ein mutiger Schritt in Richtung auf Absicherung des Pflegerisikos unerläßlich.
Lebensangst und Lebensflucht hören nur dann auf, den Lebenswillen der Gesellschaft zu lähmen, wenn wir die Grenzen des Lebens nicht verdrängen, sondern mit ihnen leben. Wichtig ist, daß die Gesellschaft erfährt und damit ernst macht, daß gerade auch das Leben jener, deren gesamte Lebenszeit besonderer Hilfe und Begleitung bedarf, für die Menschlichkeit der Gesellschaft selbst kostbar und wichtig ist. Politik für das Leben bemüht sich daher immer auch um die Integration der Behinderten in unseren gesellschaftlichen Alltag.
In einer Politik für das Leben muß Zeit, die Menschen für das Leben mit anderen und für andere einsetzen, einen neuen Rang gewinnen: Erziehungszeiten der Eltern für ihre Kinder, die Entscheidung von Ehepartnern, Erwerbsarbeit um des Zeithabens für die Kinder willen einzuschränken, die Bereitschaft, Dienste am Nächsten und Fernsten zu leisten. Dazu gehören auch die Dienste junger Männer zur militärischen Sicherung des Friedens oder die Dienste in sozialen und medizinischen Einrichtungen unserer Gesellschaft. Dazu gehören auch die vielen ehrenamtlichen Dienste von Frauen und Männern in Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und vielfältigen Organisationen des sozial- caritativen, erzieherischen, sportlichen, musischen und geselligen Bereichs, ohne die unsere Gesellschaft sehr viel ärmer wäre. Eigeninitiative, ehrenamtlicher Dienst und Selbsthilfe, wo immer sie gewagt und geübt werden, sind durch den Staat zu ermutigen und zu fördern. Die Zeit, die auf sie verwandt wird, bricht Isolierung auf, entwickelt Kräfte zur Lebensgestaltung, überwindet Versorgungsmentalität und stärkt die Freiheit in unserer Gesellschaft. Das soziale "do it yourself" verdient mehr Würdigung und Anerkennung durch die Politik.
Politik für das Leben: Christliche Verantwortung
Politik für das Leben bedeutet keineswegs einen Bruch mit unserer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, wohl aber eine Umorientierung von Prioritäten: Gemeinschaft, Solidarität, Wert auch des begrenzten Lebens und der Lebensgrenzen, Wahrung der Natur und verantwortliche Entwicklung technischer Möglichkeiten, Stärkung der Nahbereiche des Lebens und Verantwortung für den Lebensraum Menschheit gehören zusammen. Diese unterschiedlichen Dimensionen lassen sich am besten mit einem Wort zusammenfassen, das die letzten Päpste uns immer wieder ins Bewußtsein gerufen haben: Was heute not tut, ist eine "Zivilisation der Liebe" (civiltà dell'amore).
Politik für das Leben braucht das Bündnis aller, denen Menschenwürde und Menschenrechte Maßstab und Verpflichtung für ihr Denken und Handeln sind. Als Christen sind wir in unserem persönlichen Zeugnis,aber auch in unserem Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft in besonderer Weise gerufen, Anwälte des Lebens zu sein.
Christen glauben an den Gott der Lebenden, den Schöpfer, Herrn und Vollender des Lebens. Leben ist Gabe Gottes, über die wir nicht verfügen; es ist uns mit der ganzen Schöpfung zur Verantwortung anvertraut.
Christen erfahren in der Nachfolge Jesu: Wahre Selbstverwirklichung und Fülle des Lebens eröffnen sich in der Hingabe und im Einsatz für das Leben der anderen. Nach Jesu Christi Tod und Auferstehung hat der Tod nicht mehr das letzte Wort. Der Christ ist nicht an dieses Leben als den einzigen Sinn und das einzige Gut seines Daseins gefesselt sondern zu einer Hoffnung erlöst, die über dieses Leben hinausgeht. Doch gerade darum ist er auch an dieses Leben hier und jetzt gebunden. Leben anzunehmen und Leben durchzutragen, um es dann in die Hand des Schöpfers zurückzugeben, ist die Grundlage christlicher Einstellung. So kann uns dieses Leben nie gleichgültig sein.
Die christliche Sicht des Lebens scheint uns gerade das ins Licht zu rücken, was von allen als das verpflichtend Menschliche angesehen werden kann. Als Christen müssen wir daher nicht nur um unserer eigenen Überzeugung, sondern um der ganzen Gesellschaft willen alles tun daß Politik Politik für das Leben ist, Politik, die sich an der Würde des Menschen orientiert.
Politik für das Leben wählen
Politik für das Leben fordert von uns allen politische Mitwirkung. Ohne das wache bewußte politische Engagement der Bürger verfällt die Demokratie. Der Christ weiß, daß ihm das Zeugnis in der Welt auch die Mitverantwortung in Gesellschaft und Staat abverlangt. Wahlentscheidungen haben dabei einen hohen Rang. Dies gilt auch für die bevorstehende Bundestagswahl. Wahlrecht ist Wahlpflicht.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ruft alle Bürger, Politiker und Parteien dazu auf, sich für die Erfordernisse einer Politik für das Leben entschieden einzusetzen. Wer in der politischen Auseinandersetzung um Zustimmung zu einer Politik für das Leben wirbt, der darf keinen unversöhnlichen Streit entfachen. Er muß sachlich und fair argumentieren statt zu polemisieren. Er muß das verbindend Menschliche suchen und ihm politisch Ausdruck verleihen.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken bittet alle Wählerinnen und Wähler, ihre Wahlentscheidung am 25. Januar 1987 so zu treffen daß eine Politik für das Leben Zukunft hat.
Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 21. November 1986