Nation - Nationalstaat

Ein Diskussionsbeitrag der Kommission 1 "Politik, Verfassung, Recht" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

Verabschiedet von der Kommission 1 "Politik, Verfassung, Recht'' des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

Ein Volk, also eine große Gemeinschaft von Menschen, die durch ihre Geschichte und einen eigenen Bestand an Kultur vereint sind, bildet dann eine Nation, wenn es den Willen hat, auch politisch eine Einheit zu bilden und in irgendeiner Form politische Selbständigkeit zu erlangen. Besonders ausgeprägt verwirklicht sich dieser Wille im Nationalstaat.

Der Gedanke selbstverantwortlicher Freiheit, aus dem das Recht auf nationale Selbstbestimmung wie auch das Recht jedes Volkes, über die Verfassung seines Staates zu entscheiden, hervorgegangen sind, ist ein Element des Evangeliums und entspricht christlicher Tradition. Deshalb mahnt das Zweite Vatikanische Konzil alle Christen, "in Liebe gegenüber ihrer Nation" dem allgemeinen Wohl zu dienen (Ap. act., 14). Papst Johannes Paul II. stellt das Recht der Nation in die gleiche Linie mit dem Primat der Familie bei der Erziehung des Menschen zu einer wirklichen Humanität (Ansprache in Paris am 2. Juni 1980).

Wie die Nationalstaaten entstanden

Wie der Wille eines Volkes, sich unter einer freiheitlichen Verfassung zu konstituieren, die "Staatsnation", so begründet sich im Bekenntnis zu gemeinsamer Herkunft und Sprache die "Kulturnation". Doch sind die Gründe, die im vergangenen Jahrhundert zur Blüte der europäischen Nationalstaaten führten, nicht nur ideeller Natur. Vielmehr waren es darüber hinaus tiefgreifende Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die die tatsächliche Ausbildung von Nationalstaaten förderten:

Nicht "Die Franzosen sind eine Nation", sondern "Der Dritte Stand ist die Nation" lautete die Parole beim Ausbruch der französischen Revolution. Sie zeigt an, daß sich hier nicht nur ein Volk zum Nationalstaat konstituierte, sondern daß sich damit gleichzeitig die bürgerliche Gesellschaft die ihr eigentümliche staatliche Gestalt schuf. Dieser demokratische Verfassungsstaat, der- wie in Frankreich, so z. B. auch in den angelsächsischen Ländern - die politische Ordnung speziell des Bürgertums war, hat sich seitdem zu einer Norm mit weltweitem Geltungsanspruch entwickelt.

Als in Deutschland die nationale Begeisterung der Freiheitskriege schon wieder verebbt war, forderte Friedrich List: "Die Einheit der Nation ist die Grundbedingung eines dauerhaften Nationalwohlstandes". Das weist ebenfalls auf einen gesellschaftlichen, in diesem Fall speziell wirtschaftlichen Entstehungsgrund des Nationalstaates hin: Wollte man den Nutzen der neuen technischen Erfindungen wie Dampfschiff und Eisenbahn sowie der Fabrikmaschinen vielerlei Art für Industrie und Wirtschaft voll entwickeln, dann war der Übergang von regionalen und kleinstaatlichen politischen Strukturen zu einer übergreifenden politischen Ordnung und Gemeinschaft unerläßlich. Dafür bot sich der Nationalstaat an. Er war in diesem Fall also die Antwort auf das Streben nach einem zeitgemäßen Wirtschaftssystem. Auch bot er den Menschen, die im Zuge der wirtschaftlichen Mobilisierung aus ihrem überlieferten Lebenskreis ausgebrochen waren, eine neue Möglichkeit sozialer Identifizierung. Insoweit waren gemeinsame Herkunft und Kultur weniger der Grund des nationalstaatlichen Zusammenschlusses, als vielmehr die dafür besonders geeignete gemeinsame Grundlage.

Über den Nationalstaat hinaus

Heute ist es wiederum eine neue Stufe technischen, industriellen und wirtschaftlichen Fortschritts, die die politische Entwicklung weitertreibt, und zwar diesmal über den Nationalstaat hinaus. Jetzt ist auch er zu eng geworden, um innerhalb seiner Grenzen die Erfordernisse und Folgen großindustrieller Produktion und weltwirtschaftlichen Verkehrs zu bewältigen. Das heißt nicht, daß es in absehbarer Zeit keine Nationalstaaten mehr geben werde, wohl aber daß sie die Weltpolitik nicht mehr so dominierend prägen wie bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Staaten bleiben in dem Sinne souverän, daß jeder eine eigene von allen anderen sich unterscheidende Einheit des Rechts und des öffentlichen Lebens bildet. Dagegen bedeutet Souveränität heute nicht mehr Eigenständigkeit des Staates bei der Daseinsvorsorge und Gewährung von Sicherheit für seine Bürger. Beides ist in vielfacher Abhängigkeit von einem immer rascher sich verdichtenden und immer komplizierter werdenden Netz weltwirtschaftlicher Zusammenhänge geraten. Autarkie, die früher als erreichbares Ziel angesehen wurde, ist heute nicht einmal mehr erstrebenswert. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die Weltpolitik mit einem "Konzert" weniger, vornehmlich europäischer Mächte verglichen werden konnte Immer neue internationale Organisationen entstehen und gewinnen zunehmend weltpolitischen Einfluß, beginnend bei den UN über ständige weltweite Handels- und Währungskonferenzen, von Blockbildungen in den verschiedenen Weltregionen bis zu den Verteidigungsbündnissen in Ost und West. Einige dieser Zusammenschlüsse besitzen bereits den Status von Völkerrechtssubjekten.

Für viele Entwicklungsländer allerdings ist die Zeit des Nationalstaates gerade erst gekommen. Denn dort sind es die jetzt erst beginnende Industrialisierung und Entwicklung der Binnenwirtschaft, die es -vergleichbar den Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts in Europa- notwendig machen, die Beschränkungen der Stammes- und Clangesellschaften zu überwinden. Dabei ergeben sich allerdings nicht selten Widersprüche. So haben die mit dem Lineal gezogenen Grenzen der ehemaligen Kolonialgebiete, die von den neuen Staaten übernommen wurden, einerseits einander fremde Volksstämme zusammengespannt, andererseits Bevölkerungen gleicher Abstammung getrennt. Ferner erschwert das Pochen auf die neuerworbene nationalstaatliche Souveränität oft die Mitwirkung an der Entwicklung einer immer dringlicher werdenden weltumspannenden Ordnung.

Welches Maß an Integration und Festigkeit speziell für die uns besonders wichtige Staatenorganisation, nämlich die Europäische Gemeinschaft noch erreicht, vermag niemand zu sagen; ebensowenig ob eines Tages eine gesamteuropäische Ordnung entsteht und wie diese gegebenenfalls aussieht. Mit Gewißheit aber werden die Europäer ebensowenig gezwungen sein, zwischen ihren Nationalstaaten und einem europäischen Gemeinwesen zu wählen, wie die Deutschen in der Bundesrepublik dies nicht zwischen Bund und Ländern tun müssen. Jede Ebene der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und politischen Organisation von der Gemeinde und Region bis zum europaweiten Zusammenschluß wird ihre besonderen Bindungen sowie eigenen Sinn und Zweck behalten. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern fügen sich zu einem gegliederten Ganzen.

Innerhalb Europas ist die Kirche immer schon - unbeschadet nationaler Eigenheiten - eine Einheit gewesen. Das Christentum kann auch "heute wirksam dazu beitragen, daß die verschiedenen Völker dieses Kontinents aus ihrer großen kulturellen und nationalen Vielfalt eine neue gemeinsame europäische Zivilisation schaffen" (Ansprache Johannes Paul II. am 17. Dezember 1984).

Nationalstaat und Nationalbewußtsein der Deutschen heute

In der hier skizzierten Übergangszeit der weltpolitischen Entwicklung, in der der Nationalstaat allmählich, aber sicher seine maßgebliche Bedeutung verliert, ohne daß jedoch schon absehbar wäre, welche neuen politischen Ordnungsformen sich ausbilden werden, wurde als Folge des Zweiten Weltkrieges der deutsche Nationalstaat zerstört. Zwar haben die Siegermächte ihren ursprünglichen Plan, das Deutsche Reich in mehrere Staaten zu zerstückeln, nicht verwirklicht. Aber Deutschland ist nach Abtrennung seiner Ostgebiete in zwei Teile auseinandergebrochen, weil sowohl die Sowjetunion als auch die Westmächte den ganzen deutschen Staat je nach ihren eigenen politischen Ordnungsvorstellungen umgestaltet wissen wollten. So ging die Einheit des deutschen Nationalstaates verloren, weil seine innenpolitische Reorganisation nach zwei miteinander unvereinbaren Konzepten betrieben wurde. Dabei stand das deutsche Volk - von einer Minderheit abgesehen - mit seinem politischen Wollen auf Seiten der westlichen Demokratien. Aber nur in deren Besatzungszonen vermochte es sich eine diesem Willen entsprechende Ordnung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu geben.

Das deutsche Nationalbewußtsein war damals auf merkwürdige Weise gespalten. Einerseits-war das Festhalten am gesamtdeutschen Nationalstaat für alle Deutschen eine solche Selbstverständlichkeit, daß die Gründung der Bundesrepublik samt ihrer Verfassung nur als Übergangslösung annehmbar schien, andererseits hatte der Nationalsozialismus das nationale Prinzip durch Übersteigerung und schrecklichen Mißbrauch völlig unglaubwürdig gemacht. Viele Menschen in unserem Lande scheuen seitdem nationale Gefühle und den Gebrauch nationaler Symbole.

Wenn die DDR dem nationalen Erbe seit geraumer Zeit eine betonte Pflege angedeihen läßt, so soll das offenkundig dazu dienen, dieses Erbe den Zielen des "realen Sozialismus" dienstbar zu machen. In der Bundesrepublik verbindet sich derzeit die Forderung, nationale Belange zu wahren und sich an nationalen Interessen zu orientieren, nicht selten mit der Ablehnung der westlichen Bündnisse sowie mit der Propagierung einer neutralistischen Politik. Insoweit in beiden Fällen der Appell an das Nationalbewußtsein nur Mittel zu anderen Zwecken ist, gibt er keinen Anlaß zur Furcht vor einem neuen Nationalismus. Das darf uns jedoch nicht zu Sorglosigkeit verleiten. Es darf nicht der Anschein entstehen, als sei die DDR der berufene Anwalt der nationalen Tradition Deutschlands. Deshalb muß sich bei uns durchaus vorhandenes, jedoch immer noch verschrecktes nationales Bewußtsein stärken und Selbstverständlichkeit gewinnen. Es muß allerdings unbedingt eingebunden sein in die allen Europäern gemeinsame Tradition des Denkens. Es darf, wie die Vollversammlung des ZdK in einer Erklärung zum Gedenken des 8. Mai 1945 feststellte, nie wieder einen deutschen "Sonderweg" geben: "Unser Nationalbewußtsein darf sich nicht noch einmal durch Ablehnung oder gar Feindseligkeit gegen die gemeineuropäische Denk- und Lebensweise bestimmen."

Es verdient bemerkt zu werden, daß das Grundgesetz den Begriff "Nationalstaat" nicht kennt. Es wendet sich in seiner Präambel an das "gesamte Deutsche Volk" und gibt diesem den Auftrag, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Gleichzeitig öffnet es unsere staatliche Ordnung für die Teilnahme an übernationalen Zusammenschlüssen: Der Bund kann durch einfaches Gesetz Hoheitsrecht auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen und zugunsten kollektiver Sicherheitssysteme in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen (Art. 24 GG). Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind ohne irgendeinen Akt ausdrücklicher Übernahme Bestandteile des Bundesrechts und gehen den Gesetzen vor (Art. 25 GG). So weist unsere Verfassung über die klassische Gestalt des Nationalstaates hinaus und entspricht damit dem Stand der weltpolitischen Entwicklung.

Freiheit geht vor Einheit

In Anbetracht dessen verstößt es nicht gegen den Geist des Grundgesetzes, wenn wir nach den deutschlandpolitischen Erfahrungen von vier Jahrzehnten in einem einheitlichen Nationalstaat nicht die einzige Möglichkeit sehen, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", und zwar weil für uns die Freiheit den Vorrang vor der Einheit hat. Denn die Vereinigung aller Deutschen in einem Staat kommt nicht in Frage, wenn sie dafür auf politische Freiheit verzichten müßten. Im übrigen verlöre die derzeitige Existenz zweier Staaten schon an Gewicht, wenn politische Freiheit auch in der DDR herrschte.

Denn was wir uns als "Last der Teilung" zu bezeichnen angewöhnt haben, alle diese menschlichen Härten und politischen Ungereimtheiten, entspringen ja in Wirklichkeit gar nicht der Tatsache, daß es zwei deutsche Staaten gibt, sondern haben ihren Grund eindeutig im System der DDR. Für die Mehrheit der Menschen in der DDR ist die Wiedergewinnung der ersehnten politischen Freiheit kaum anders vorstellbar, als im Wege der Wiedervereinigung zu einem gesamtdeutschen freiheitlichen Verfassungsstaat. Das bleibt auch die Hoffnung der Deutschen in der Bundesrepublik. Aber es gilt auch, was bereits im Jahre 1969 die Vollversammlung des ZdK erklärt hat: "Das natürliche und selbstverständliche Verlangen unserer Nation nach Zusammenleben muß sich nicht unbedingt in einem nationalen Einheitsstaat, sondern kann sich in einer Zeit, in der das nationalstaatliche Denken zurücktritt, in anderen aus freier politischer Selbstbestimmung entwickelten Strukturen verwirklichen". Die in gemeinsamer Sprache und Kultur sowie in unendlich vielen menschlichen Beziehungen bestehende Einheit des deutschen Volkes ist viel älter als die Epoche, in der sie ihre politische Gestalt in der Form des Nationalstaates fand. Und wie vor dem Zeitalter des Nationalstaates so wird das deutsche Volk auch nach dessen Ende seine Identität besitzen und entfalten. Gemessen daran bleibt auch eine gewisse politische Entfremdung vorübergehend, die jetzt zwischen den Menschen entstanden sein mag, weil sie zwangsweise getrennt gehalten werden.

Die deutsche Nation in der euro-atlantischen Gemeinschaft

Deutschland war stets ein geistig-politisches Element in Europa, das es In seiner unverzichtbaren Bedeutung unter veränderten Bedingungen zu erhalten und weiter zu entwickeln gilt. Das aber wird nur möglich sein, wenn die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik in jeder Phase in die atlantische Bündnispolitik und namentlich in die europäische Integrationspolitik eingebettet bleibt. Denn nur Westeuropa als Ganzes, praktisch zunächst die EG, kann durch eine wesentlich verbesserte Koordination der Politik seiner Länder langfristig zu den osteuropäischen Staaten politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen herstellen, die Europa insgesamt unter freiheitlichen und friedlichen Bedingungen zu einer eigenständigen politischen Kraft machen. Und erst dann können die heutigen Militärblöcke an Bedeutung zurücktreten, ohne die legitimen sowjetischen wie amerikanischen, die west- wie osteuropäischen Sicherheitsinteressen zu verletzen. Dann erst werden die Voraussetzungen gegeben sein für eine freiheitliche und friedliche Lösung der "deutschen Frage", die unser Selbstbestimmungsrecht verwirklicht und dem Gemeinwohl der Völker dient.


Verabschiedet am 16. Oktober 1986.

Diesen Artikel teilen: