Das Gemeinwohl und unsere Pflichten gegenüber dem Staat und unseren Mitmenschen

Erklärung der Kommission 1 "Politik, Verfassung, Recht" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Rechte gehören untrennbar mit Pflichten zusammen

Wo immer Menschen in Gemeinschaften leben, haben sie untereinander wie auch als einzelne gegenüber dem jeweiligen Ganzen bestimmte Rechte und Pflichten. Solange die Gemeinschaft klein ist, folglich die Verhältnisse noch überschaubar sind -wie z.B. in der Familie, in einem Verein oder einer kleinen Stadt - vermag jedermann unmittelbar zu erleben und daher leicht einzusehen, daß er auch seine Pflichten erfüllen muß, wenn er seine Rechte in Anspruch nehmen will. Dagegen ist in großen Organisationen, vor allem aber im modernen Staat, die Gemeinschaft so unanschaulich, ist die Zusammengehörigkeit aller Bürger so wenig sinnfällig, daß der Wechselbezug zwischen Rechten und Pflichten, der auch hier besteht, vielen Menschen kaum noch zum Bewußtsein kommt. Nicht zuletzt deswegen machen sie zwar mit Selbstverständlichkeit von den Freiheiten und den sozialen Leistungen Gebrauch, die die politisch geordnete Gesellschaft ihnen garantiert, beachten aber nicht, daß "der Staat" das alles nur erbringen kann, solange die Bürger ihn in Solidarität tragen und jedermann seine Pflichten erfüllt. Obgleich gerade auf die freiheitlichen Industriestaaten in diesen Jahrzehnten Herausforderungen zukommen, die sich ohne ein hohes Maß an Gemeinsinn nicht bewältigen lassen, gibt es Zeichen dafür, daß das staatsbürgerliche Verantwortungsbewußtsein abnimmt und die soziale Solidarität sich mehr und mehr verliert.

Der freiheitliche Staat

Der freiheitliche Staat, der demokratische und soziale Rechtsstaat ist nichts "Naturgegebenes"; er mußte in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen errungen werden und stellt in der Geschichte der Menschheit eine besondere Leistung politischer Kultur dar. Dieser Staat beruht auf der Grundentscheidung, daß es seine wesentliche Aufgabe sei, den Bürgern freie Lebensgestaltung und freie Betätigung zu ermöglichen und zu sichern. Infolgedessen ist der Staat nicht mehr eine das menschliche Leben völlig umfangende Ordnung und alles regulierende Obrigkeit, sondern er beschränkt sich auf diejenigen daseinsnotwendigen Leistungen, die sich nicht anders als durch einen politischen Zusammenschluß der Gesellschaft erbringen lassen. Das sind vor allem: Schutz vor Angriffen von außen und vor Gewaltsamkeit im Innern, Sicherung und Entwicklung einer Rechtsordnung, sozialer Ausgleich und die Schaffung der allgemeinen Voraussetzungen für Wohlfahrt und Kultur. Innerhalb dieses Rahmens verbürgt der demokratische Verfassungsstaat eine weite persönliche und gesellschaftliche Freiheitssphäre: die freie Entfaltung der Persönlichkeit wie auch die freie Bildung und Tätigkeit von Vereinigungen und Organisationen der verschiedensten Art. Zwar verpflichtet der freiheitliche Staat seine Bürger auf die Werte und die Ordnung der Verfassung und schützt diese Werte in einem bestimmten Rahmen auch gesetzlich, er muß aber um der Freiheit willen darauf verzichten, das Verhalten der Bürger innerhalb dieses Rahmens zu reglementieren. Er verordnet ihnen nicht, wie sie ihr geistiges, sittliches und religiöses Leben zu führen haben, sondern stellt dies in die Verantwortung des einzelnen. Als Träger der Freiheitsgrundrechte bestimmt jeder Bürger selbst, wie er sich sozial und politisch engagiert.

Begrenzungen der Freiheit im Interesse der Freiheit

Gesetzliche Begrenzungen der Freiheit des einzelnen haben den Sinn, Freiheit und Rechte des anderen zu schützen und das Zusammenleben aller in Frieden zu sichern. Die gesetzlich auferlegten Pflichten sind zudem nicht so allgemein gehalten, daß sie von den Behörden beliebig ausgefüllt werden können, sondern es sind entweder genau umschriebene Einzelpflichten oder sie liegen im pflichtgebundenen und der Kontrolle unabhängiger Gerichte unterworfenen Ermessen der Behörden. Der Bürger unterliegt von Staats wegen nur denjenigen Beschränkungen, die ausdrücklich in der Verfassung oder in Gesetzen niedergelegt sind. Mithin hat alles, was nicht durch die Verfassung ausgeschlossen oder gesetzlich verboten ist, dem Staat gegenüber als zulässig zu gelten. Ihm ist Zwang nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlaubt, und er darf außerhalb dieses Rahmens keine Mittel und Methoden anwenden, mit denen er seine Bürger nötigen würde, etwas zu tun oder zu unterlassen. "Niemand", so wird in einigen unserer Landesverfassungen ausdrücklich bestimmt, "kann zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung gezwungen werden, zu der ihn nicht das Gesetz verpflichtet. R Wer sich an Verfassung und Gesetze hält, darf für seinen Freiheitsgebrauch vom Staat nicht zur Rechenschaft gezogen werden. In einer Demokratie sind im übrigen Beschränkungen der  Freiheit an die Zustimmung der Bürgerschaft bzw. der von ihr in freier Wahl bestimmten Repräsentanten, die die Gesetze beschließen' gebunden.

Das Risiko der Freiheit

Ein Staat, der sich derart der Verantwortung und dem Gemeinsinn seiner Bürger anvertraut, unterliegt allerdings auch dem Risiko der Freiheit: Er besitzt keine Garantie, daß von der Freiheit im gesteckten Rahmen ein dem Zusammenleben förderlicher Gebrauch gemacht wird, daß Gerechtigkeit statt Eigennutz angestrebt, daß Solidarität geübt wird und Pflichtbewußtsein lebendig ist. Wenn einzelne oder Gruppen durch unsolidarischen Gebrauch der Freiheit und durch geschicktes Ausnutzen von Gesetzeslücken den Staat "schröpfen" und seine Leistungsangebote mißbrauchen, so ist er dagegen weitgehend wehrlos. Nimmt solcher Mangel an Gemeinsinn überhand, dann kann das ihn und mit ihm die Freiheit aller ruinieren. Der Staat bleibt also nur dann freiheitlich und der freiheitliche Staat nur dann lebensfähig, wenn der weite rechtliche Rahmen, den er bietet, von sittlichen Kräften getragen und ausgefüllt wird, die sich nicht rechtlich einfordern oder durch Gesetz erzwingen lassen. Dazu gehört in erster Linie ein Handeln aus mitmenschlicher, sozialer und politischer Verantwortung sowie die Bereitschaft, das Gemeinwohl und die öffentlichen Belange immer mitzubedenken und dafür tätig zu werden.

Was "Gemeinwohl" ist

Das Gemeinwohl ist Bezugspunkt aller bürgerlichen Pflichten; Bezugspunkt des Gemeinwohls ist die Menschenwürde. Sie gebietet, das Zusammenleben aller Glieder einer Gesellschaft in Freiheit, Frieden und Sicherheit zu ermöglichen und zu erhalten. Dazu bedarf es einer staatlichen Ordnung. Doch kann die Verwirklichung des Gemeinwohls nicht bloß Sache staatlicher Instanzen sein; insbesondere kann und darf sie nicht so organisiert werden, daß "der Staat" allein bestimmt, was zu tun ist, und zur Erfüllung dieser Zwecke seine Bürger "heranzieht". Vielmehr hängt das Gemeinwohl erheblich davon ab, daß und wie die Bürger selbst und aus eigenem Antrieb ihr Zusammenleben in der Öffentlichkeit gestalten und die politischen Aufgaben des Alltags in freier Auseinandersetzung bewältigen. Daran mitzuwirken, ist der Dienst, den der einzelne dem Gemeinwohl leistet.

Das Gemeinwohl bemißt sich nicht danach, welches Höchstmaß persönlicher Vorteile einzelne erreichen, sondern danach, wie für alle ein gleiches Maß menschenwürdiger Lebensverhältnisse gesichert ist. Dafür muß jeder mit einstehen, indem er sein eigenes Leben so führt, daß seine Mitbürger ebenso am Frieden teilhaben und von ihren Freiheiten Gebrauch machen können, wie er es für sich selbst wünscht und anstrebt. Das erfordert immer Rücksichtnahme, nicht selten auch persönlichen Verzicht und in Notlagen sogar Opfer.

Individualismus und Kollektivismus verfehlen das Gemeinwohl

Von vornherein verfehlt wird das Gemeinwohl, wenn man das Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft als Gegensatz auffaßt, sei es, daß man einseitig für das Individuum gegen die Gesellschaft Partei ergreift oder die Gesellschaft als Kollektiv dem einzelnen völlig überordnet.

- Der einseitige Individualismus setzt den einzelnen in seiner Besonderheit absolut. Allein das Individuum soll Inhaber von Rechten sein, während den Gemeinschaften jeder Art weder Eigenständigkeit noch eigene Rechte zugebilligt werden. In Verkennung der menschlichen Natur, die der Gemeinschaft bedarf, verleugnet der einseitige Individualismus die Pflichten der Solidarität und betrachtet die Regeln, die das zusammenleben der Menschen ermöglichen und erleichtern, als eine eigentlich unzulässige Beschränkung der persönlichen Freiheit; nur soweit sie die Interessen der einzelnen sichern, läßt er sie gelten.

- Der Kollektivismus wiederum setzt die Gesellschaft absolut und sieht die Existenz des einzelnen ganz in deren Abhängigkeit. Er kennt keine unantastbaren Rechte des Individuums, sondern nur einzelne, ihm von der Gesellschaft zugestandene und daher im Prinzip widerrufbare Berechtigungen. Die Pflichten der Solidarität werden im Kollektivismus verzerrt zur einseitigen Inpflichtnahme für die Zwecke eines absolut gesetzten Ganzen.

Tatsache aber ist, daß der Mensch sich als Person nur im Zusammenleben mit anderen entfalten und nur dann frei sein kann, wenn diese ebenfalls frei sind. Unsere Mitmenschen fordern uns einerseits zur Bewährung heraus, wie wir andererseits ihrer Hilfe bedürfen.

Nur wer sich dem Einfluß anderer öffnet, kann seine Individualität ausbilden. Die aus einem solchen Wechselverhältnis hervorgehende Gesellschaft steht den einzelnen nicht als unpersönliche Macht gegenüber, sondern sie ist eine Form der Verwirklichung menschlichen Daseins, die aus den vielfältigen personalen Beziehungen hervorgeht.

Der sittliche Sinn der Staatsgewalt und die sittliche Bindung der Freiheit

Um Sicherheit, Frieden und Freiheit gewährleisten zu können, muß die staatliche Ordnung über Macht verfügen, es bedarf also einer Staatsgewalt. Diese ist aber, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, notwendigerweise der Macht des einzelnen weit überlegen. Deshalb muß der Bürger gegen den immer möglichen Mißbrauch staatlicher Gewalt geschützt werden. Das geschieht in erster Linie durch die Verfassung, insbesondere durch die darin verankerten Grundrechte. Sie zu wahren, ist die elementare Voraussetzung dafür, daß jedermann gegenüber der Macht des Staates und den Mächten der Gesellschaft seiner sittlichen Selbstbestimmung folgen kann.

Die Grundrechte spiegeln nicht nur die fundamentale Wertordnung der Gemeinschaft wider, sondern sie grenzen auch einen Raum ab, in dem die Freiheit der Person vor dem Staat Vorrang besitzt: vor allem persönliche Lebensführung, Weltanschauung und Gesinnung gehen den Staat als öffentliche Gewalt nichts an, so lange sie sich im Rahmen der Verfassung und der notwendigen Toleranz bewegen (Art. 2, 2 GG). Doch ist der persönliche Freiheitsraum kein Reservat für Willkür und Beliebigkeit, sondern er ist der Ort sittlich zu verantwortenden Handelns und damit der sittlichen Pflichten. Weder reicht es aus, daß die Bürger nur tun, was die staatliche Rechtsordnung ihnen abverlangt, noch ist alles, was diese Rechtsordnung nicht verbietet, sittlich erlaubt. Denn die Rechtsordnung in einem freiheitlichen Staat ist in erster Linie nicht Tugend- und Vollendungsordnung, sondern am Sittengesetz orientierte Friedens- und Freiheitsordnung.

Sie steckt als solche nur einen allgemeinen, sehr weiten Rahmen ab, innerhalb dessen es dem einzelnen - rechtlich gesehen - überlassen ist, was er sich vornimmt und wie er es tut. Er muß diesen Ra hm en durch freies, am Sittengesetz ausgerichtetes Handeln ausfüllen. Ohne diese Orientierung am Sittengesetz bliebe die Entfaltung gemeinsamer Freiheit bruchstückhaft und unvollständig, und das Gemeinwohl würde in einem wesentlichen Bereich gar nicht realisiert. Die Einhaltung der durch das Recht gezogenen Grenzen und die Befolgung der Gesetze ist demnach nur die unterste Stufe der Verwirklichung des Gemeinwohls, als solche allerdings unentbehrlich. Denn die rechtlichen Gebote und gesetzlich auferlegten Pflichten garantieren, daß der notwendige Grundbestand menschenwürdigen Zusammenlebens nicht davon abhängt, welches Maß an sittlicher Kraft die Bürger aufbringen. So kann weder das staatliche Recht die sittliche Anstrengung des einzelnen, noch diese jenes überflüssig machen, vielmehr müssen sie sich wechselseitig ergänzen.

Die politischen sittlichen Pflichten

Die zu den gesetzlichen Pflichten hinzukommenden sittlichen Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl sind einmal speziell politische sittliche Pflichten, die sich unmittelbar auf das staatliche Leben beziehen; sie besitzen ihren sittlichen Rang, weil der Staat einen sittlichen Sinn hat. Zum anderen sind es soziale sittliche Pflichten, die sich auf das Leben der einzelnen sowie sozialer Gruppen untereinander beziehen.

Zu unseren politischen sittlichen Pflichten gehört z.B.

- daß wir Friedensbereitschaft zeigen. Das heißt nicht, daß politische Konflikte und harte Auseinandersetzungen nicht erlaubt wären; jedoch dürfen wir nicht von vornherein jede Möglichkeit zum Kompromiß ablehnen, Haß predigen, den politischen Gegner diffamieren und als Feind bekämpfen. Arbeitskonflikte beispielsweise mögen in Härte ausgetragen werden. Wer aber Streik oder Aussperrung zum rücksichtslosen Ausspielen der eigenen Macht oder gar erpresserisch einsetzt, der verhindert sozialen Ausgleich und Befriedung;

- daß wir von unseren Freiheitsrechten nur solidarischen Gebrauch machen, also in dem Bewußtsein, daß der einzelne letztlich nur in dem Maße frei sein kann, in dem alle frei sind. Was das Grundgesetz über das Recht auf Eigentum ausdrücklich sagt, das gilt als sittliche Pflicht für alle Freiheitsrechte: ihr Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen;

- daß wir uns nach Maßgabe unserer Fähigkeiten an der politischen Willensbildung beteiligen: wenn möglich, politische Aufgaben und Ämter übernehmen; zumindest aber unser Wahlrecht ausüben sowie uns ausreichend und nicht einseitig über politische Fragen informieren. Oberflächlicher Medienkonsum reicht nicht aus, um sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Die sozialen sittlichen Pflichten

Die sozialen sittlichen Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen stehen unter anderen Bedingungen als die politischen sittlichen Pflichten. Wie der Staat, so darf auch der einzelne in den Privatbereich seines Mitbürgers grundsätzlich nicht eindringen. Aber weil der Mensch auf Gemeinschaft angelegt ist, sind diejenigen, mit denen wir zusammenleben, von unserem Tun und Lassen bis in ihre eigensten Belange und innersten Empfindungen betroffen. Die Entfaltung der Person erfolgt nicht ohne, sondern mit und durch andere Menschen. Wir können deshalb nicht so leben, als sei jeder von uns allein auf der Welt, als dürfe niemand uns hineinreden oder an uns Anstoß nehmen. Vielmehr sind wir denen, die von unserem Tun unvermeidlich mitbetroffen sind, dafür auch verantwortlich. Auch wir selbst können uns ja nur dann entfalten, wenn unsere Mitmenschen uns respektieren, uns helfen und auf uns Rücksicht nehmen.

Zu den Pflichten, die wir jedermann aus Achtung vor der Menschenwürde schulden, gehört z.B.

- daß wir ihn in seiner Eigenständigkeit anerkennen und in seiner Besonderheit gelten lassen, auch wenn uns seine Religion, Konfession, Partei, Rasse oder Volkszugehörigkeit fremd erscheinen;

- daß wir ihm die Zuwendung zuteil werden lassen, ihm die Beachtung und Aufmerksamkeit schenken, auf die er als Person angewiesen ist, auch wenn er etwa noch ein hilfloses Kind, alt oder behindert ist;

- daß wir uns hilfsbereit zeigen, wie wir ja auch selbst hilfsbedürftig sind;

- daß wir uns mitverantwortlich dafür fühlen, daß unsere Mitmenschen in Freiheit und unter menschenwürdigen Bedingungen leben und ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Auch ausländische Arbeitnehmer in schlechten Quartieren in unserer Nachbarschaft können uns nicht gleichgültig sein;

- daß jeder von uns auch in der eigenen Person die Menschenwürde achtet und das eigene Leben, in das der andere unvermeidlich einbezogen ist, entsprechend führt.

Das Gebot der Solidarität

Die politischen und sozialen sittlichen Pflichten sind grundsätzlich jedermann erkennbar und allgemein anerkannt. Für uns als Christen finden sie ihre tiefere Begründung in dem Gebot, im Nächsten das Ebenbild Gottes zu achten und ihm in der Solidarität gemeinsamer Geschöpflichkeit zu begegnen.

Auch wenn wir von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehen, erweist es sich, daß wir mitmenschliche Solidarität und Beachtung der moralischen Pflichten nicht nur denen schulden, mit denen wir im Alltag unmittelbar zu tun haben, sondern ebenso allen, die wir zwar nie persönlich kennenlernen, deren Leben aber trotzdem mit dem unseren verbunden ist, weil sie der gleichen größeren Gemeinschaft z.B. einer Stadt, eines Landes oder eines Berufsstandes angehören. Denn niemand weiß und kann abschätzen, wer alles indirekt von seinem Tun und Lassen betroffen ist. Infolgedessen erweitert sich die besondere mitmenschliche Solidarität gegenüber allen, denen wir begegnen, zu einer allgemeinen Solidarität gegenüber den Unbekannten, die nicht weniger unsere Mitmenschen sind. Sie umfaßt, recht verstanden, alle Menschen in der ganzen Welt.

Unsere sittlichen Pflichten gegenüber dem Staat ergeben sich daraus, daß jedermann politisch mitverantwortlich dafür ist, daß die menschliche Gesellschaft als Ganze in Frieden und Freiheit lebt. Unsere sittlichen Pflichten der sozialen Solidarität beziehen sich darauf, daß im privaten wie im öffentlichen Bereich jedermann durch die Weise, wie er sein eigenes Leben führt, auf das Leben anderer einwirkt und dafür moralisch verantwortlich ist. Diese Pflichten der sozialen Solidarität gewinnen aber auch Bedeutung, wo wir Leistungen des Staates in Anspruch nehmen. Denn die meisten vom Staat bereitgestellten Güter sind im Grunde vom Staat vermittelte Leistungen unserer Mitbürger, und wir kämen nicht in ihren Genuß, wenn andere sie nicht erbrächten. Das gilt z.B. auch für die öffentliche Sicherheit, die der Staat nicht gewährleisten könnte, wenn sich nicht Mitbürger dafür als Polizeibeamte und Soldaten einsetzten. So gesehen erweisen sich die meisten Leistungen des Staates als eigentlich genossenschaftlicher Natur. Deshalb muß sich der einzelne fragen, wieweit es ihm moralisch erlaubt ist, Güter, die auf der Leistung anderer beruhen, zu empfangen - und wie sein eigener Beitrag aussieht.

Das berührt auch die Zukunft des Sozialstaates in unserem Lande. Denn gerade für die sozialstaatliche Sicherung und Förderung gilt, daß sie im Grunde von Bürgern für Bürger erbracht wird. Der Sozialstaat hat daher keine Zukunft, wenn wir uns nur an den auf ihn bezogenen gesetzlichen Rechten und Pflichten orientieren und nicht auch an den sittlichen Pflichten der sozialen Solidarität. Diese Pflichten umfassen auch die Verantwortung für die nachwachsenden Generationen.

Unbeschadet der Regeln der zwischenstaatlichen Beziehungen und ihrer sittlich-politischen Begründung müssen wir uns in unserem Verhältnis zu anderen Völkern ebenfalls an den Pflichten der sozialen Solidarität orientieren. Denn auch zwischen den Staaten geht es - von der Entwicklungshilfe bis zur Friedenssicherung - vielfach um Leistungen, die letztlich Menschen für andere Menschen erbringen. So genügt es nicht, sich auf die Erfüllung der völkerrechtlich begründeten Pflichten zu beschränken, sondern wir müssen uns zusätzlich von der sittlichen Pflicht zur sozialen Solidarität leiten lassen, die sich auf den unbekannten Nächsten bezieht. Diese soziale Solidarität erst macht es den Regierungen möglich, die notwendigen politischen Entscheidungen zur Hilfe und Zusammenarbeit zu treffen und entsprechende Rechtsverpflichtungen einzugehen. Von der Bewährung der sozialen Solidarität gerade in ihrer weltweiten Dimension hängt heute nicht nur das zukünftige Glück, sondern schon das Überleben der Menschheit ab.

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