Zur aktuellen Friedensdiskussion

Stellungnahme der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Fragen der Sicherung von Frieden und Freiheit, der Abrüstung und der Verteidigung bestimmen seit geraumer Zeit die öffentliche Diskussion in unserem Land. Es geht dabei um politische Entscheidungen wie den Nato-Doppelbeschluß; um die moralische Berechtigung und politische Wirkung moderner Massenvernichtungswaffen; um die Verhütung von Krieg und Erpressung durch Gleichgewicht und Abschreckung. Möglichkeiten und Wege werden diskutiert, den Rüstungswettlauf zu beenden und eine dauerhafte politische Friedensordnung zu schaffen. Der Sinn von Verteidigung wird in Frage gestellt; oft wird auch eine grundlegende Änderung der Bündnis- und Sicherheitspolitik gefordert.

Leidenschaft für den Frieden, aber auch Existenzangst sind Triebkräfte dieser Diskussion. Immer mehr Menschen sind darüber betroffen, daß immer neue todbringende Waffen aufgehäuft werden mit der Begründung, Frieden und Sicherheit aufrechtzuerhalten, und daß anscheinend nur die Androhung vernichtender Gegenschläge politische Erpressung, Völkerrechtsverletzungen und militärische Gewaltanwendung verhindern kann. Friedenssicherung durch  Rüstungsanstrengungen ist ein Dilemma, das zudem mit einer Reihe von schwerwiegenden Risiken verbunden ist: zum Beispiel mit der Gefahr eines technischen Versagens, durch das ein Krieg ausgelöst werden kann; mit der Gefahr  unkontrollierter Weiterverbreitung von Kernwaffen; mit der Gefahr, daß waffentechnologische Entwicklungen das Kriegsrisiko erhöhen; mit der Gefahr von irrationalen Reaktionen von Regierungen in Krisensituationen oder von Regierungen, die unter dem Zwang ihrer eigenen totalitären Ideologie stehen. Hinzu kommt die bedrückende Feststellung, daß die gewaltigen Rüstungsanstrengungen an den Mitteln und Kräften zehren, die für andere wichtige Aufgaben in der Welt, insbesondere zur Bekämpfung von Krankheit, Hunger, Armut und Unterentwicklung dringend gebraucht werden.

Viele sprechen angesichts dieser Situation von einem Wettlauf des Wahnsinns und von einer Perversion des Denkens, die hier zum Ausdruck komme. Solche Äußerungen zeigen das wachsende Bewußtsein für die Bedrohlichkeit der Situation, in der wir leben. Das ist gut so; denn kein Mensch kann teilnahmslos bleiben angesichts solcher Gefahren für Menschheit und Menschlichkeit. Diese existentielle Betroffenheit steht nicht im Widerspruch zum Erfordernis einer rationalen Einschätzung der Situation. Sie ist im Gegenteil geradezu deren Voraussetzung. Um für verantwortliche politische Entscheidungen  wirksam zu werden, darf diese Betroffenheit aber nicht in Angst erstarren und in Panik umschlagen. Sie muß vielmehr die ganze Wirklichkeit der Friedensbedrohung zur Kenntnis nehmen und nach verantwortbaren politischen Lösungen suchen.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat sich zu Fragen von Frieden und Sicherheit mehrfach geäußert. Mit dieser Erklärung wird zu einigen gegenwärtig akuten Gesichtspunkten Stellung genommen.

Pflicht zur historischen und politischen Sachkunde

Verantwortbare politische Lösungen sind nur zu finden, wenn man sich der Pflicht und Mühe historischer und politischer Sachkunde nicht entzieht. Mit dieser Forderung soll nicht die Sehnsucht nach Frieden abgewertet und der Resignation vor den Tatsachen das Wort geredet werden. Sachkunde ist der unumgängliche erste Schritt, der zur Umsetzung von Friedenswillen in Politik notwendig ist. Wenn dieser Schritt unterbleibt, kann Friedenssehnsucht zur Verkennung der politischen Wirklichkeit führen und politische Verführbarkeit begünstigen. Der Friede ist aber eine viel zu wichtige Sache, als daß er Gefühlen allein ohne die Einsicht in historische und politische Zusammenhänge überlassen werden dürfte.

So sehr notwendig es ist, sich um des Friedens willen mit militärischen und strategischen Fakten zu beschäftigen und sich über den Sachstand in Fragen der Rüstung und Rüstungskontrolle zu informieren, so dürfen dennoch Frieden und Sicherheit nicht in erster Linie unter militärischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Dies würde zu einem unpolitischen
Denken führen, das sich verhängnisvoll auswirken kann; es würde den Blick auf die politischen Ursachen von Konflikten verstellen und das Instrumentarium zur Konfliktregelung einengen.

Ideologischer Konflikt - totalitäre Bedrohung

Die meisten Spannungen in der Welt haben mehr als nur eine Ursache. Im Ost-West-Konflikt liegt eine Hauptursache im  Gegensatz zwischen dem kommunistischen System unter der Führung der Sowjetunion und jenen Ländern mit freiheitlich- demokratischer Verfassung, die auf der Anerkennung der Menschenwürde und Menschenrechte beruht und ihren Ausdruck in der weltanschaulichen und gesellschaftlichen Pluralität findet. Dieser Gegensatz bestimmt schon seit mehr als 35 Jahren die Lage in Europa und hat längst globale Auswirkungen angenommen. Er ist nicht dadurch ausgelöst worden, daß die Kontrahenten bewaffnet waren oder sind, sondern weil gegensätzliche politische Anschauungen und Interessen fundamentaler Art aufeinander gestoßen sind. Diese Kollision und das gegenseitige Mißtrauen führten zu immer steigender Bewaffnung der beteiligten Mächte.

So offen wir als Christen sein müssen für neue Entwicklungen zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung und so sehr wir darauf unsere Hoffnung setzen, so gilt bisher: Der Gegensatz zwischen den kommunistischen und den demokratischen Staaten erhält seinen besonderen Charakter dadurch, daß die kommunistische Seite ihre Politik nach innen und außen unter das Gebot der totalitären Ideologie des Marxismus-Leninismus stellt. Diese Ideologie mißachtet in wesentlichen Fragen die ethischen Maßstäbe und mißbraucht grundlegende Begriffe, die sich im philosophischen und theologischen  Denken Europas entwickelt und in den letzten zweihundert Jahren zur Ausbildung des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates geführt haben. Der Marxismus-Leninismus kennt keinen geistigen und gesellschaftlichen Pluralismus und keine Toleranz. Es ist bezeichnend, daß im sowjetischen Herrschaftsbereich keine offene Diskussion über die  Sicherheitspolitik geduldet wird. Der Marxismus-Leninismus will alle Lebensbereiche und Lebensäußerungen umfassen, durchdringen und reglementieren. Dem dienen nach innen Agitation und Unterdrückung.

Nach außen betreibt die Sowjetunion eine Politik, die sich als Vollstreckung eines notwendigen weltrevolutionären Prozesses versteht und somit auf Expansion angelegt ist. Damit verbindet sich ein schier unstillbares, nach außen ausgreifendes Sicherheitsbedürfnis, das sich bereits durch die Forderung nach Menschenrechten und nationaler Selbstbestimmung bedroht sieht.

Militärische Macht im Dienste der Ideologie

Der Zielsetzung des weltrevolutionären Prozesses wird auch die Idee des Friedens untergeordnet. Friedliche Koexistenz ist nach kommunistischer Auffassung nicht die gänzliche Einstellung der Feindseligkeiten und die Herstellung politischer  Bedingungen, die geregelte Beziehungen ermöglichen und ihnen Dauer verleihen, sondern eine andere Weise des Kampfes mit dem Ziel der Weltrevolution. Was diesem Ziel dient, ist nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Dies gilt auch für die militärische Machtentfaltung. Sie steht nicht nur im Dienst legitimer Verteidigung gegen einen potentiellen Angreifer von außen, sondern auch im Dienst der Unterdrückung unterworfener Völker und der Schaffung eines Arsenals politischer Einschüchterung und Erpressung eines als schwach eingeschätzten Gegners.

Die Sowjetunion betreibt nach dieser Doktrin seit mehreren Jahrzehnten Großmachtpolitik. In Europa hat sie das Gebiet, das ihre Truppen im Zweiten Weltkrieg in Abwehr des Hitlerschen Angriffskrieges militärisch besetzt hatten, ihrem  Herrschaftsbereich politisch unterworfen. In den osteuropäischen Ländern und im anderen Teil Deutschlands wurden die demokratischen Kräfte und Institutionen zerschlagen und kommunistische Regime errichtet. Volksaufstände dagegen - so in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968 - wurden brutal niedergeschlagen. Die Festigkeit des Westens, der sich unter der Führung der Vereinigten Staaten zum Bündnis zusammenschloß, hat eine weitere Ausdehnung des kommunistischen Machtbereichs in Westeuropa verhindert. So hat dieser Kontinent seit 36 Jahren eine Periode ohne Krieg erlebt, die den Staaten des Westens die Entfaltung und den Ausbau der freiheitlichen Demokratie, ihren Bürgern  wachsenden Wohlstand und zunehmende soziale Sicherheit brachte.

Das Viermächteabkommen über Berlin, die KSZE-Schlußakte von Helsinki sowie die Ostverträge waren ein Versuch, durch westliches Entgegenkommen diesen Zustand dauerhafter zu stabilisieren. Auf der Basis des territorialen Status quo - bei  gleichzeitigen völkerrechtlichen Vorbehalten - sollte wirtschaftliche Kooperation gefördert und mehr Freizügigkeit für Menschen und Informationen erreicht werden. Die Teilerfolge, die dabei erzielt wurden, haben jedoch zugleich die Systemschwächen der Sowjetunion und der anderen osteuropäischen Länder deutlich offengelegt, ja verstärkt. Neue Abgrenzungsversuche waren die Folge. Insbesondere wurden die Menschenrechts- und Bürgerrechtsgruppen in der Sowjetunion und in osteuropäischen Ländern zerschlagen.

Die Sowjetunion hat die Friedens- und Gewaltverzichtspolitik des Westens nicht honoriert:

S Sie versucht weiter mit allen politischen Mitteln, Westeuropa von den USA zu trennen und so das westliche Bündnis zu destabilisieren - obwohl keine Seite an einer unberechenbaren Destabilisierung interessiert sein darf. - Sie hat mit allen  Mitteln versucht, in der Dritten Welt Fuß zu fassen bis hin zum Einfall in Afghanistan - obwohl die Unteilbarkeit der  Entspannung ebenfalls zu den Grundsätzen einer globalen Friedenspolitik gehören muß.

S Sie hat seit der Mitte der sechziger Jahre eine Hochrüstung betrieben, die weit über ihre legitimen  Sicherheitserfordernisse hinausgeht, vor allem im Bereich der eurostrategischen Nuklearwaffen - obwohl dies dem Geist und den Zielen der KSZE widerspricht.

S Sie - und mit ihr vor allem die DDR - betreibt eine Militarisierung der Gesellschaft, die in systematischer Erziehung zum Haß und in militärischer Ausbildung selbst für Kinder zum Ausdruck kommt, obwohl die Bundesrepublik Deutschland und ihre westlichen Verbündeten im Erziehungs- und Wehrsystem jede Erziehung zum Haß nachdrücklich ablehnen.

Es ist ein politischer Kampf, den die Sowjetunion seit vielen Jahren mit großer Anstrengung führt. Sie will ihre Ideologie  ausbreiten und vor allem die politische Hegemonie über ganz Europa gewinnen, um sich dessen gesamtes wirtschaftliches Potential für ihre weltpolitischen Absichten zunutze zu machen. Zu diesem Zweck operiert sie mit einer Mischung von  Friedensappell und Erzeugung von Kriegsfurcht. Sie spekuliert auf den Friedenswillen der westeuropäischen Völker und versucht in Verkehrung aller Tatsachen bei ihnen den Eindruck zu erwecken, als sei die Bindung an die Vereinigten Staaten von Amerika die eigentliche Gefährdung des Friedens. Gegen diese angeblich von den Amerikanern ausgehende Friedensgefährdung gibt sie vor, ihre gigantischen Rüstungsanstrengungen unternehmen zu müssen, und nutzt gleichzeitig deren furchterregenden Charakter zur Schürung von Kriegsangst. Dabei geht ihre Hoffnung dahin, daß diese Kriegsangst, verbunden mit der Suggestion, man könne sich von ihr um den Preis der Loslösung von Amerika befreien, jene Bereitschaft zur politischen Kapitulation erzeugt, die sie erreichen möchte.

Verhandlungen trotz unterschiedlicher Wertvorstellungen

Die Analyse der kommunistischen Ideologie und der Politik der sowjetischen Führer macht deutlich, daß sich im Ost-West- Konflikt Kontrahenten gegenüberstehen, die nicht von gleichen Denkweisen ausgehen und sich nicht gleichen ethischen und politischen Maßstäben unterwerfen.

Daß die Existenz unter einer totalitären Herrschaft entwürdigend ist, muß genau so betroffen machen wie die möglichen Folgen der Rüstungseskalation. Dennoch müssen aber zwischen diesen Kontrahenten immer wieder Kontakte hergestellt und Verhandlungen geführt werden, um jede Möglichkeit zum Abbau oder wenigstens doch zur Verringerung bestimmter Konfliktfelder und zur Eingrenzung von Gefahren wahrzunehmen. Die Erfahrung lehrt, daß solche Verhandlungen vor allem immer dann möglich und auch erfolgreich sind, wenn beide Seiten sich von ihnen einen Nutzen versprechen. Bereiche  gemeinsamen Nutzens aufzuspüren und die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß ein Ablassen vom ideologischen und politisch-militärischen Konfrontationskurs für sie nur gewinnbringend sein kann, ist daher eine wichtige Aufgabe von Verhandlungen. Die Chancen für ihr Gelingen sind um so größer, je mehr man den sowjetischen Verhandlungspartner realistisch einschätzt, seine Motive und Ziele und die aus ihnen resultierende Taktik genau kennt und ihm mit einem klaren politischen Konzept gegenübertritt, das gerechtfertigtes Vertrauen nicht ausschließt.

Politischer Sachzwang und Ethik

Fragen des Friedens, der Sicherheit, der Verteidigung und Rüstung sind auch in ganz besonderem Maße Fragen, in denen sich Politik und Ethik berühren. Dies gilt in gesteigertem Maße in einer Zeit lebensbedrohender totalitärer Gewalt und moderner Massenvernichtungswaffen, mit denen ganze Städte, Landstriche, sogar Länder vernichtet werden können, durch die jeder einzelne betroffen werden kann und die weite Teile der Menschheit auslöschen können. Hier - mehr als anderswo - kommt zum Bewußtsein, daß politische Entscheidungen ethisch verantwortet werden müssen. Jede ethische Forderung an die Politik muß aber zugleich die politische Sachgesetzlichkeit zur Kenntnis nehmen und in die Abwägung und Entscheidung miteinbeziehen. Tut sie das nicht, so bleibt sie abstrakt, wird sachfremd, ja unmenschlich, genauso wie Politik, die sich von sittlichen Prinzipien abkoppelt und nicht mehr der Menschenwürde und dem Maßstab des Menschengemäßen entspricht.

Die Sittlichkeit eines Staates erweist sich vor allem darin, Recht und Politik mit Vernunft und Klugheit anzuwenden. Auch die Kirche spricht immer wieder von den "Gesetzen der Vernunft", nach denen Politik zu betreiben und die Beziehungen der Staaten untereinander zu regeln seien. Gerade in bezug auf den Frieden, den Christen mit Beharrlichkeit anstreben und fördern müssen, plädiert sie bei aller entschiedenen Ablehnung des Rüstungswettlaufs und bei aller Nachdrücklichkeit in der Forderung nach allgemeiner Abrüstung für Vernunft, Wirklichkeitssinn und abgewogene Urteilsbildung, zu der auch immer die kompetente Erkenntnis der Wege und Mittel gehört, die zur Erreichung und Erhaltung des Friedens notwendig sind. Sie warnt vor Illusionen, vor Leichtsinn und moralischer Überheblichkeit, vor einfachen aber unverantwortlichen Lösungen und ebenso vor der Blindheit gegenüber Fehlern im eigenen Tun.

Ethik im Lichte des Evangeliums

Auch die Aufgabe, Frieden zu schaffen und zu erhalten, muß davon ausgehen, daß das Reich Gottes mit seiner  Friedensverheißung unter den Menschen schon angebrochen ist, aber in dieser Welt seine Vollendung nicht findet. Sie steht in der Spannung des "Jetzt schon" und "Noch nicht", die die Heilsordnung seit der Menschwerdung Jesu Christi bis zu seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten durchzieht. Jesus nennt die Friedfertigen, die Friedensstifter Kinder Gottes. Kinder Gottes sind Menschen, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, eines Gottes, den das Neue Testament mehrfach "Gott des Friedens" nennt. Wer also an Gott glaubt, der muß Friedensgeist und Friedenswillen bezeugen. Er kann dabei nicht von
der Wirklichkeit absehen, zu der auch die Existenz des Bösen gehört. Er soll ihr aber im Geiste des Evangeliums begegnen, das heißt mit der Bereitschaft zu Versöhnung und Großmut gegenüber dem Nächsten, ja zur Feindesliebe. Das ist die Liebe, die Feindschaft und Gewalttätigkeit nicht einfach mit der gleichen Münze heimzahlt. Aus dieser vom Christen
geforderten Gesinnung lassen sich aber nicht unmittelbar Handlungsanweisungen für alle konkreten Situationen des Lebens ableiten. Es bleibt immer eine Spannung zwischen dem Ziel, das verpflichtet, und der Annäherung im konkreten Tun. Um die beste Lösung hier und jetzt muß ständig gerungen werden.

Auch die Kirche kann diese Spannung nicht aufheben; sie muß gegen jeden Versuch auftreten, die Botschaft des  Evangeliums zu einer unmittelbaren politischen Handlungsanweisung zu verkürzen, und muß doch zugleich auch für die Politik jenen Geist der Umkehr, der Liebe und des Friedens verkünden, der Feindschaft und Haß von innen her wandeln, zum Abbau von Konflikten beitragen und berechtigtes Vertrauen schaffen kann. Sie muß dabei immer deutlich machen, daß jede Entscheidung, die den rein persönlichen Bereich überschreitet, die Folgen für die Gemeinschaft mitbedenken muß, und daß für den, der öffentliche Verantwortung trägt, Maßstab seiner Entscheidung nicht allein die Integrität seiner Überzeugung und das damit verbundene Gefühl einer guten Gesinnung sein darf, sondern das, was das allgemeine Wohl fordert und was unter dem Maßstab des Menschengemäßen jedermann zumutbar ist. Denen aber, die in dieser Entscheidungssituation stehen, muß sie immer wieder bewußt machen, wie groß ihre Verantwortung ist, die sie angesichts der heutigen Rüstungstechnik vor Gott und der Menschheit für Sicherheit, Freiheit und Frieden ihres Volkes tragen. Dieser  Einsatz gilt nicht dem bloßen Überleben, sondern dem Leben in Würde unter den Bedingungen von Freiheit und  Gerechtigkeit. Als Kirche dürfen wir nicht aufhören, um den Frieden Christi zu bitten, der Wahrheit, Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit ist. Der Geist des Evangeliums befreit von jener Angst, die blind macht für die wirksamen Wege zum wahren Frieden.

Elemente der Friedenspolitik

Für den Christen gibt es also nicht die Alternative "Friede oder Krieg". Frieden zu schaffen und zu erhalten, ist für ihn eine Pflicht. Friedfertige Gesinnung ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Sie muß in der Gemeinschaft der Menschen durch eine Ordnung des Rechtes nach innen und außen Gestalt gewinnen. Diese Ordnung des Rechts herzustellen und zu erhalten ist Inhalt der Friedenspolitik. In den Beziehungen der Staaten untereinander muß sie vor allem darauf gerichtet  sein, tragfähige völkerrechtliche Normen zu entwickeln, durchzusetzen und durch verläßliche Strukturen zu sichern, die in Konflikten gewaltsame Auseinandersetzungen ausschließen.

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Politik ist die Beachtung des Prinzips der Gegenseitigkeit, das das Fundament des Völkerrechts und jedweder internationalen Übereinkunft ist. Dazu gehört die Fähigkeit, Situation, Interessen, Sicherheitsbedürfnisse und auch Ängste der anderen Seite in die eigenen Überlegungen und Entscheidungen mit einzubeziehen.

Bei der Auswahl der Mittel, mit denen man dieses Prinzip anwendet und seine eigenen Rechte und Interessen ins Spiel bringt oder Konflikten zu begegnen sucht, muß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Das schließt Standhalten und Verzicht mit ein, je nach der Situation und den Werten, die auf dem Spiele stehen, und erfordert eine Absage an die Neigung, einen Streitgegenstand auszuweiten.

Friedenspolitik bedarf schließlich jener Solidarität im Machtgebrauch, nach der sich Staaten, die gleich mächtig sind, einander nichts zumuten, was sie nicht auch selbst hinzunehmen bereit sind, und nach der zwischen Staaten von ungleicher Macht der Stärkere Mäßigung zeigt.

Zur Friedenspolitik gehören aber auch Vorkehrungen zur Gewaltabwehr. Da kein Staat ausschließen kann, daß gegen ihn Gewalt angewandt wird, muß er diejenigen Mittel zur Abwehr bereithalten, die er für seine Sicherheit braucht, und das heißt ganz konkret: zum Schutz von Frieden, Freiheit und Menschenwürde seiner Bürger. Das Recht auf individuelle und  gemeinsame Selbstverteidigung der Staaten, das auch von der Satzung der Vereinten Nationen bestätigt wird, steht nicht im Widerspruch zum Kriegs- und Gewaltverbot. Es ist vielmehr die notwendige Konsequenz aus der Tatsache, daß es bisher keine verläßlichen internationalen Friedensstrukturen mit Sanktionsgewalt gibt. Es ist auch sittlich gerechtfertigt. Das Wohl des Mitmenschen und das Gemeinwohl aber auch die Nächstenliebe gestatten es nicht, wehrlos zu dulden, daß das Leben, die Menschenwürde und die Menschenrechte der Bürger durch Gewalttätigkeit verletzt, statt vor unrechter Gewalt geschützt werden. Wer sich dafür namentlich als Soldat oder politischer Entscheidungsträger einsetzt, dient der Gerechtigkeit und dem Frieden. Die historische Erfahrung lehrt, daß ein waffenloser Staat ein machtpolitisches Vakuum darstellt, das politische Hegemonieabsichten und militärische Interventionen geradezu anzieht. Ohne die ausreichende Fähigkeit zur Gewaltabwehr ist ein sicherer Friede nicht möglich und auch keine erfolgreiche Bemühung um den Abbau von Konflikten und um eine kontrollierte Abrüstung.

Nun wird aber in einer Zeit nuklearer Massenvernichtungswaffen verstärkt die Frage gestellt, ob solche Waffen eigentlich noch geeignete Mittel zur Gewaltabwehr sein können. Für die Beantwortung dieser Frage ist es von entscheidender  Bedeutung, sich klarzumachen, daß Waffen nicht nur eine militärische, sondern immer auch eine politische Funktion haben. Bei den Nuklearwaffen steht diese politische Funktion ganz offensichtlich im Vordergrund. Wir sehen, wie ihre Gefährlichkeit Ängste auslöst, die das politische Denken beeinflussen. Nuklearwaffen sind geeignet, insbesondere solche Staaten, die nicht über sie verfügen, unter Druck zu setzen und sie politisch gefügig zu machen. Will man sich dieser  Situation nicht aussetzen, so bleibt für das westliche Bündnis als Gegenmittel nur die Ausrüstung mit vergleichbaren Waffen in einem kollektiven Sicherheitssystem. Nur so kann es sich gegen eine politische Erpressung wehren und einen eventuellen Aggressor mit hohem Risiko konfrontieren, das der Versuch einer gewaltsamen Durchsetzung seiner Absichten auch für ihn bedeutet. Dies ist der Inhalt der Politik der Abschreckung. Sie will einem Gegner klarmachen, daß der Aufwand eines Angriffs oder eines Erpressungsversuchs für ihn in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen steht und deshalb nicht ratsam erscheint. Die Franzosen drücken diesen Gedanken mit dem Wort "dissuasion"aus, das "Abraten" heißt. Es stellt das, worum es hier geht, besser als das deutsche Wort Abschreckung in den ihm gemäßen politischen Zusammenhang. Unter den gegebenen Umständen dienen also auch Nuklearwaffen als Mittel der Kriegsverhütung und damit der Erhaltung des Friedens. Ohne Gegenleistung und ohne die begründete Aussicht, auf andere Weise den Frieden sichern zu können,  ist es nicht möglich, darauf zu verzichten.

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Politik der Abschreckung mit solchen Waffen ein ganz erhebliches ethisches Problem darstellt. So sehr diese Politik nämlich auch darauf zielt, das Abschreckungspotential nie einsetzen zu müssen, so sehr muß sie doch um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit willen im äußersten Falle dazu bereit sein. Die  Abwägungen, die in einem solchen Falle vorzunehmen sind, gehören zu den schwierigsten Aufgaben politischer und sittlicher Art. Der Weg des einfachen Ja oder Nein für alle denkbaren Situationen eröffnet sich hier nicht. Solange die Erlösung noch nicht ihre Vollendung erreicht hat, bleibt uns die schmerzliche Erfahrung nicht erspart: Wir können unabdingbare Ziele oftmals nicht verwirklichen, ohne andere ebenso wichtige Ziele zu gefährden. Um so anspruchsvoller ist das Ringen um eine politisch verantwortbare Lösung. Diese Einsicht zwingt dazu, die notwendige Politik der Gewaltabwehr und Abschreckung mit allen Risiken, die mit ihr verbunden sind, durch eine Politik zu ergänzen, die alle bisher genannten Elemente umfaßt und auf das Ziel der Kriegsverhütung hinordnet. Unter ethischen Gesichtspunkten ist daher heute das Abreckungssystem grundsätzlich nur dann zu tolerieren, wenn mit aller Kraft darauf hingearbeitet wird, substantielle Fortschritte auf dem Gebiet der Rüstungsbegrenzung und Rüstungsminderung zu erzielen und so effektive Schritte zur Abrüstung zu unternehmen. Zur Kriegsverhütung gehören also die Rüstungsbegrenzung und -minderung. Als erster Schritt ist daher effektive Rüstungskontrollpolitik das Gebot der Stunde. Sie erfordert den Willen zu Verhandlungen sowie die Absicht, zu Vereinbarungen zu gelangen, die das Abschreckungssystem auf ein immer niedrigeres Rüstungsniveau bringen, ohne Stabilität und Gleichgewicht zu beeinträchtigen. Darin erweist sich die Ernsthaftigkeit einer Politik der Kriegsverhütung.

Von großer Bedeutung für die Kriegsverhütung ist nicht zuletzt der feste Wille der Bevölkerung eines Landes, ihre Freiheit und ihre demokratische Lebens- und Verfassungsordnung geistig und politisch zu behaupten und gegen jeden eventuellen Aggressor zu verteidigen. Je entschiedener sich dieser Wille darstellt, desto mehr wird er zur Vermeidung von kriegerischen Auseinandersetzungen und damit zum Frieden beitragen, um so größer wird auch die Chance zur gewaltfreien Lösung von Konflikten.

Ergebnisse und Probleme der Friedenspolitik

Um Friedenspolitik in diesem umfassenden Sinne hat sich das westliche Bündnis seit vielen Jahren bemüht. Erfolgreich war diese Friedenspolitik auch deshalb, weil in der großen Mehrheit der Bevölkerung Westeuropas aus leidvollen historischen Erfahrungen und aus politischer Vernunft ein lebendiges Bewußtsein vom Wert des politischen Friedens in Freiheit gewachsen war und die Überzeugung, daß alles getan werden müsse, damit dieses hohe Gut nicht zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert einem Totalitarismus zum Opfer falle.

Diese Friedenspolitik hat in zähen Verhandlungen auch Ergebnisse erzielt, die der Rüstungskontrolle und Abrüstung dienen. Dazu gehören so wichtige Übereinkünfte wie der Test-Stop-Vertrag für Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser; der Vertrag gegen die Stationierung von Massenvernichtungsmitteln im Weltraum; der  Atomwaffen- Nichtverbreitungsvertrag; ein Abkommen, das die Herstellung, Lagerung und Entwicklung von  bakteriologischen Waffen untersagt; ein Übereinkommen vom April 1981 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Verletzungen verursachen oder unterschiedslos wirken können; der Salt I-Vertrag; Absprachen über vertrauensbildende Maßnahmen etwa bei Manövern. Fortschritte in der Rüstungskontrollpolitik ermöglichten auch Abmachungen auf anderen Gebieten. Als Beispiel sind bereits genannt: Das Viermächteabkommen über Berlin und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Alle diese Verhandlungen und Ergebnisse dürfen nicht geringgeschätzt werden, wenn sie auch angesichts der nach wie vor gefährlichen Rüstungssituation in der Welt bei weitem noch nicht ausreichen. Der entscheidende Durchbruch ist aber bisher stets daran gescheitert, daß die Sowjetunion sich weigert, ihre Potentiale offenzulegen und einer internationalen Kontrolle von vereinbarter Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zuzustimmen. Um so lauter verkündet sie aber immer wieder Appelle für Frieden und Abrüstung, um damit eine ungenügend informierte Öffentlichkeit von den eigentlichen Ursachen   abzulenken, die bisher eine umfassende Rüstungskontrollpolitik verhindert haben. Dennoch bleibt festzustellen, daß eine auf der Basis völkerrechtlicher Normen mit Vernunft, Klugheit und Geduld betriebene Politik, die vom Gedanken des Gleichgewichts der Kräfte ausgeht, immerhin gewisse Übereinkünfte erzielen kann, die Konflikte verringern, Gefahren eingrenzen, Mißtrauen ein Stück weit abbauen und konstruktive Lösungen auf Teilgebieten erreichen.

Ohne Gleichgewicht kein Friede

Die Sowjetunion hat durch ihre gigantischen Rüstungsanstrengungen in den letzten zehn Jahren das Gleichgewicht der  Kräfte entscheidend zu ihren Gunsten verändert. Sie versucht mit der dadurch erreichten militärischen Überlegenheit, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Der Überfall auf Afghanistan und eine Reihe von Aktionen in Asien, Afrika und Südamerika zeigen das. Ein Hauptziel bleibt nach wie vor die Gewinnung der Hegemonie über Europa.

Diese Politik wirkt sich destabilisierend auf die internationale Lage aus. Sehen die westlichen Staaten dieser Entwicklung tatenlos zu, so wächst die Gefahr, daß die Sowjetunion zu Forderungen und Taten verleitet wird, die der Westen schließlich nur noch um den Preis der Unterwerfung hinnehmen könnte. Lehnt er sich dann doch dagegen auf, so könnte die Sowjetunion der Versuchung erliegen, ihre Vorstellungen auch mit Gewalt durchzusetzen. Dies würde unweigerlich zu sehr ernsten Konflikten und im Extremfall zum Kriege führen. Es sei daran erinnert, daß der Entfesselung des zweiten Weltkrieges ganz ähnliche Entwicklungen vorausgegangen sind.

Das Gleichgewicht der Kräfte anzustreben und wiederherzustellen, ist daher gegenwärtig eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Frieden. Nur von einer Position des Gleichgewichts aus besteht die Möglichkeit, die Rüstung im Ausgleich von Geben und Nehmen auf dem Wege von Kompromissen zu verringern, ohne daß die beteiligten Mächte dabei ihre eigene Sicherheit gefährden. Das erfordert große Anstrengungen, sowohl in der Außen- und Rüstungskontrollpolitik als auch in den Vorkehrungen zur militärischen Friedenssicherung.

Vertrauensbildende Vorleistungen des Westens

Die im Nordatlantikpakt zusammengeschlossenen Staaten haben dies klar erkannt und mit dem sogenannten Doppelbeschluß vom Dezember 1979 einen Weg beschritten, der der bisherigen Linie westlicher Friedenspolitik entspricht. Dieser Beschluß ist ein Verhandlungsangebot, das nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts zielt; er enthält ein nicht zu übersehendes Element vertrauensbildender Vorleistung, insofern er für weitere drei Jahre das vorhandene Ungleichgewicht in Kauf nimmt und notwendige Nachrüstungsmaßnahmen aufschiebt, um in dieser Frist eine Ubereinkunft zur Wiederherstellung des Gleichgewichts auf möglichst niedrigem Niveau zustande zu bringen; schließlich läßt er keinen Zweifel darüber, was die Staaten der Nato tun werden, wenn die eingeräumte Frist ohne Übereinkunft verstreicht, und macht damit die Politik des Westens kalkulierbar.

Der Nato-Doppelbeschluß ist ein Beispiel für eine Politik, die über den Weg des militärischen Gleichgewichts auf Rüstungsabbau, Entspannung und Frieden zielt. Wer sie für ungeeignet oder gar schädlich hält, muß deutlich machen, mit welchen Mitteln er Gleichgewicht herstellen und erhalten will.

Friede durch einseitige Abrüstung?

Nun gibt es aber gegenwärtig eine Tendenz, nicht so sehr bestimmte Einzelaspekte der Friedenspolitik zu erwägen, sondern grundsätzlich die bisher geltenden Prinzipien zur Bewältigung von Spannungen und Konflikten in Frage zu stellen; ihnen wird vielfach moralische Fragwürdigkeit und konfliktsteigernde Wirkung zugeschrieben.

Hier mischen sich radikale Gesinnungsethik und moralische Verurteilung der heutigen Waffentechnik mit der Hoffnung, durch einseitige Abrüstung Signale zu setzen und die Sowjetunion zu entsprechendem Handeln veranlassen zu können. Vielfach wird auch angesichts der geopolitischen Lage Westeuropas und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland sowie mit Blick auf die vorhandenen Vernichtungskapazitäten bestritten, daß Verteidigung überhaupt noch möglich sei. Für manche ergibt sich daraus die Forderung nach einer Auflösung der Verteidigungsallianz. Sie nehmen an, daß Westeuropa oder auch nur die Bundesrepublik Deutschland auf diese Weise eine neutrale Position zwischen den Supermächten gewinnen und sich aus dem heraushalten könnten, was man gefährlich verkürzt für deren Supermacht-Rivalität hält. Schließlich sind da auch jene, die - etwa nach der Parole "lieber rot als tot" - bereit sind, die Bedingungen der Sowjetunion hinzunehmen und im Extremfall vor ihr militärisch und politisch zu kapitulieren. Gerade hinter dieser Auffassung stecken komplexe Gefühle und Vorstellungen. Da sind Ideen von einer Martyrerrolle, die man für sich zu akzeptieren, aber auch unzähligen Martyrerrolle, die man für sich zu akzeptieren, aber auch unzähligen anderen als Schicksal zuzumuten bereit ist. Es ist auch etwas von jener zwar immer wieder enttäuschten, aber immer wieder aufkeimenden Sehnsucht nach einem"Sozialismus mit menschlichem Antlitz"darin enthalten und schließlich die Hoffnung, daß nach einer möglichen gewaltsamen Unterwerfung noch die Chance zu einem sogenannten sozialen Widerstand bleiben könnte.

Die Alternativen, die hier zu einer Friedenspolitik auf dem Boden des Gleichgewichts der Kräfte angeboten werden, überzeugen nicht. Sie verharmlosen die unheimliche Konsequenz totalitären Denkens, verkennen die besondere Sicherheitslage Deutschlands und insbesondere Berlins und setzen Bündnisverpflichtungen und Vertrauen von Partnern aufs Spiel, die uns jahrzehntelang Schutz und Hilfe gewährt haben. Sehr häufig zeigt sich in ihnen die Neigung, private Kategorien auf die Politik zu  übertragen. Das macht sie unpolitisch.

In letzter Konsequenz leisten sie damit einem Denken Vorschub, das auf die Zerstörung des politischen Friedens in Freiheit hinausläuft. Solches Denken erkennt nicht mehr, daß politischer Friede in Freiheit nicht nur ein Zustand ist, in dem sich angenehm leben läßt, sondern daß dieser politische Friede in Freiheit die Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist. Wo diese Erkenntnis schwindet und wo die Vorstellungskraft fehlt, wie entwürdigend das Leben unter den Bedingungen eines totalitären Systems ist, da finden jene aktiven Minderheiten einen Nährboden, die den Begriff des Friedens und die Friedenssehnsucht lediglich als Vehikel für die Durchsetzung ihrer freiheitsfeindlichen totalitären oder anarchistischen Ziele benutzen. Wo die fatale Neigung zum Sprung aus der Geschichte besteht und sich mit politischer Unkenntnis, fehlender ethischer Unterscheidungsfähigkeit und Unlust zum Einsatz für die gemeinsame Friedensordnung paart, da können diese Minderheiten einen Einfluß gewinnen, der weit über ihre Bedeutung hinausgeht.

Chancen zur Überwindung des Unfriedens

Politische Vernunft und sittliche Verantwortung für das Gemeinwohl erfordern die Herstellung und Erhaltung des  Gleichgewichts der Kräfte. Es ist die Voraussetzung jeder vernünftigen, weil interessen- und machtgerechten Bemühung um Rüstungskontrolle und Abrüstung und damit des politischen Friedens. Die Anstrengungen, die dafür unternommen werden, und die Risiken, die dafür getragen werden müssen, wiegen weniger als die Anstrengungen und Gefahren, die sich aus dem Weiterbestehen oder gar Anwachsen des Ungleichgewichts zu Lasten des Westens ergeben. Eine Politik, die so betrieben wird, eröffnet auch am ehesten die Chance, zu einer internationalen Gemeinschaft zu gelangen, die das gefährliche Dilemma der Friedenssicherung in einem langfristigen Prozeß der Veränderung in den internationalen Beziehungen von der Wurzel her überwinden könnte. Darauf muß mit glaubwürdigen Maßnahmen und energisch hingearbeitet werden.

In diesem Zusammenhang gewinnt auch die dringend erforderliche partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt steigende Bedeutung. Je besser sie gelingt, desto mehr trägt sie zur Stabilisierung des internationalen Friedens bei. Je mehr politische Spannungen im Ost-West-Konflikt abgebaut oder doch vermindert und damit  Rüstungsaufwendungen kontrolliert reduziert werden können, desto mehr Chancen bestehen auch für eine Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe. Der gegenwärtige Zustand, nach dem beispielsweise alle Länder des Ostblocks zusammen nicht zuletzt wegen ihrer völlig überzogenen Rüstungsausgaben weniger Entwicklungshilfe leisten als die Bundesrepublik Deutschland allein, ist unerträglich und ruft neue friedensgefährdende Konflikte hervor. Zur Klärung dieser Zusammenhänge und zur langfristigen Veränderung der internationalen Beziehungen muß auch die Friedensforschung beitragen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich dieser umfassenden Friedenspolitik zur Erhaltung von Freiheit und Recht und zum Aufbau einer weltweiten niemanden ausschließenden Solidarität der Staaten von allem Anfang an verpflichtet und dies in zahlreichen Verträgen und Erklärungen bekundet. Die bedingungslose Ächtung aller Vorbereitungen zur Führung eines Angriffskriege in Artikel 26 des Grundgesetzes, der Eintritt in die Europäische Gemeinschaft, die Integration in den Nordatlantikpakt mit seinem nach Konzept, Struktur und Ausrüstung eindeutig defensiven Charakter, das Bekenntnis zum Gewaltverzicht, der Verzicht auf nukleare, biologische und chemische Waffen schon vor 27 Jahren und die andauernden Bemühungen um Entspannung und Rüstungsbegrenzung sind Beweise dafür. Es darf auch nicht vergessen werden, welche Friedensleistung es war, viele Millionen von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen so zu integrieren, daß sie nicht zu einem Potential der Rache und Gewalt geworden sind, von dem eine dauernde Verunsicherung der Lage in Europa ausgeht.

So hat die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit ihren Verbündeten wichtige Voraussetzungen für einen stabilen  Frieden in Europa geschaffen und ist selbst zu einem unersetzbaren Bestandteil der westlichen Friedensordnung in Freiheit geworden. Regierungen und Parlamentarier haben über Jahre hin viele Male um die Voraussetzungen dieser Friedensordnung und um die Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben, gerungen. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden und damit Schaden vom freien Teil Deutschlands abgewehrt und seinen Nutzen gemehrt. Die Bürger unseres Landes haben diese Entscheidungen in freien Wahlen wiederholt bekräftigt.

Friedenssicherung - gemeinsame Aufgabe aller Bürger

In einer Demokratie gehört die Friedenssicherung in die Verantwortung aller Bürger. Deshalb müssen die Politiker darum bemüht sein, ihre Politik den Bürgern verständlich zu machen und stetig um deren aktive Mitarbeit zu werben. Das kann nur gelingen, wenn dem einzelnen Bürger, vor allem auch dem jüngeren bewußt ist: Unser Vaterland ist es wert, da.. wir uns für den Erhalt und die Verteidigung unseres Staates einsetzen. Bei allen Mängeln, die es auch bei uns gibt: nur  wenige Staaten gewähren den Menschen soviel Recht und Freiheit, soviel Achtung seiner Würde und ein solches Maß an sozialer Sicherheit. Friedenssicherung kann freilich auch nur gelingen, wenn die Mehrheit der Bürger politisch wach ist und den Willen besitzt, die politische Ordnung auf der Grundlage der Menschenwürde und der Grundwerte aufzubauen und die Friedenspolitik aktiv zu unterstützen. Von erheblicher Bedeutung ist dabei auch eine Friedenserziehung, die bereits in früher Jugend beginnt und die Voraussetzungen für vernünftige Konfliktlösungen schon im engeren Lebenskreis schafft. Denn der Friede zwischen den Völkern und den Menschen gründet im Versöhntsein des einzelnen mit sich und seiner  Lebenswirklichkeit. Wie Friedenspolitik im einzelnen zu verwirklichen ist, muß Gegenstand eines breiten gesellschaftlichen Dialogs sein. Dieser Dialog wird aber nur dann dem Frieden dienen, wenn die proklamierten Ziele und die angewandten Mittel im Einklang stehen. Radikaler Moralismus, pauschale Verdächtigungen, Handgreiflichkeit statt Diskussion, Manipulation der öffentlichen Meinung und Strategien politischer Erpressung gegenüber politischen Entscheidungsträgern im Zeichen des Friedens geübt, diskreditieren nicht nur die Urheber solchen Tuns, sondern die Idee des Friedens  überhaupt. Der Weg zum Frieden muß in Frieden zurückgelegt werden. Gerade bei der Sicherung des Friedens in Freiheit müssen sich verantworteter Machtgebrauch der Regierenden und Vertrauen der Bürger in die repräsentative Demokratie gemeinsam bewähren.

 

Bonn, 14. November 1981

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