Zur gegenwärtigen Diskussion um den Religionsunterricht

Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zur gegenwärtigen Diskussion um den Religionsunterricht

Ein weitverbreitetes Unbehagen am herkömmlichen Religionsunterricht, das sich in einer steigenden Zahl von Abmeldungen niederschlug, hat in den 70er Jahren dazu geführt, neue Formen des Religionsunterrichts auszudenken und zu erproben. Leitlinie war dabei der Gedanke, die Nöte und Fragen unserer Zeit im Licht des Glaubens zu betrachten.

Diese theoretische Neuorientierung des Religionsunterrichts hat in nicht wenigen Fällen eine Unterrichtspraxis begünstigt, die von manchen Schülern und Eltern kritisch beurteilt wird. Insbesondere wird kritisiert, daß im  Religionsunterricht zu oft weltliche Gegenstände, und religiöse Themen nur auf weltliche Weise behandelt werden und so Welterfahrung vor Glaubenswissen gesetzt werde. In dieser Situation rufen nicht wenige nach dem Religionsunterricht von früher. Aus neueren demoskopischen Untersuchungen ist bekannt, daß die Zahl der Katholiken, die im Religionsunterricht eine Glaubens- und Lebenshilfe sehen, weiter abgenommen hat. Diese Tatsache zwingt erneut darüber nachzudenken, wie der Religionsunterricht seinem Auftrag gerecht werden kann.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken möchte zur Klärung und Verständigung beitragen, indem es folgende Grundsätze betont:

1. Der katholische Religionsunterricht hat unverändert den Auftrag, den Glauben der Kirche zu vermitteln. Diese Aufgabe darf nicht Modeströmungen geopfert werden. Um sie in einer sich rasch verändernden Welt erfüllen zu können, muß jedoch in der Form des Religionsunterrichts auf die Bedingungen Rücksicht genommen werden, unter denen die Schüler leben. Papst Johannes Paul II. betont in dem Apostolischen Schreiben "Catechesi Tradendae" [ 1)] über die Katechese in unserer Zeit die Notwendigkeit einer doppelten Treue, an der sich jede Methode auszurichten hat: "Treue zu Gott und Treue zum Menschen aus derselben Haltung der Liebe"(CT 55). Nach diesem Grundsatz wird ein Religionsunterrichtverlangt, der den Glauben der Kirche so vermittelt, daß die Erfahrungen der Menschen aufgenommen werden. Weder eine Darbietung der Glaubenswahrheiten ohne Bezug zu den Erfahrungen der Schüler noch die ausschließliche Auseinandersetzung mit Lebensfragen und Zeitproblemen ohne Bezug zu den christlichen Glaubenswahrheiten werden ihm gerecht. Der genannte Grundsatz muß auch die Sprache von Katechese und Religionsunterricht bestimmen. Notwendig ist eine Sprache, die der Botschaft und zugleich den Adressaten angemessen ist.

2. Eine bloß systematische Glaubensunterweisung ohne starken Bezug zum Leben zieht die Gefahr nach sich, daß die Schüler das Interesse am Religionsunterricht verlieren und für ihr Leben keine hinreichende christliche Orientierung erhalten. Auch das Allgemeine Katechetische Direktorium von 1971 warnt ausdrücklich vor der Meinung, eine Verbesserung der Katechese werde schon dadurch erreicht, daß man sich bemühe, "die Unwissenheit im Lernstoff zu beseitigen" (9). Die  gegenwärtig besonders häufig gestellten Fragen nach Sinn und Zusammenhängen menschlichen Lebens sollen im Religionsunterricht aufgenommen und dem christlichen Glauben gemäß beantwortet werden. Die größte Bedeutung hat dabei das persönliche Glaubenszeugnis des Religionslehrers.

Jugendliche sehen oft nicht, in welchem Maß die Botschaft des Evangeliums und der Glaube der Kirche einerseits, ihr eigenes Leben und ihre Alterserfahrungen andererseits aufeinander bezogen sind. Der anthropologische Ansatz der Lehrpläne und des Unterrichts hat daher seine Berechtigung. Nur darf er nicht verdecken, daß die Offenbarung ihrerseits Fragen und Forderungen an den Menschen richtet, die dieser aus sich selbst gar nicht stellen könnte, die aber sein Leben wesentlich betreffen.

Es wird daher ein Ziel der weiteren religionspädagogischen Diskussion und ihrer Umsetzung in Lehrpläne sein müssen, einer einseitigen Gewichtung rechtzeitig entgegenzutreten. Das gleiche gilt für die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien und die Aufgaben der Lehrerbildung. Schließlich ist die Theologie als Wissenschaft gefordert, das Verhältnis von Glaube und Erfahrung stärker zu durchdringen und damit den Religionspädagogen eine wichtige Hilfestellung zu leisten.

3. Obwohl der katholische Religionsunterricht von Schülern besucht wird, die katholisch sind und ihren Glauben besser kennenlernen sollen, sind diese Schüler in ihrem religiösen Wissen und Verhalten sehr verschieden. In vielen Fällen muß der Religionslehrer überhaupt erst versuchen, religiös uninteressierte und nicht vorgebildete Schüler für religiöse Fragen zu interessieren. Gerade in diesen Fällen empfiehlt es sich, die Eltern einzubeziehen. Die Rücksichtnahme auf diese Schüler darf jedoch nicht dazu führen, die anderen zu übersehen, die glauben oder glauben möchten und ein Recht darauf haben, ihren Glauben gründlicher kennenzulernen.

4. Der Religionsunterricht soll eine möglichst vollständige Einführung in das Christentum bieten (vgl. CT 30). Es können allerdings nicht alle anstehenden Fragen behandelt, sondern es muß unter den Glaubensinhalten eine Auswahl des Wesentlichen vorgenommen werden. Diese Auswahl darf jedoch nicht nach eigenem Gutdünken der Religionslehrer erfolgen, sondern muß sich an der Vollständigkeit der Offenbarung orientieren und Zusammenhänge verdeutlichen. Dabei muß der Grundsatz der "Hierarchie der Wahrheiten" beachtet werden, den das Zweite Vatikanische Konzil betont (Dekret über den Ökumenismus, und den der Papst in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen Katechetischen Direktorium von 1971 erneut in seiner grundlegenden Bedeutung unterstrichen hat. Dort heißt es: "Diese Hierarchie bedeutet nicht, daß einige der Wahrheiten weniger als andere zum Glauben gehören, sondern daß manche Wahrheiten auf anderen grundlegenderen aufbauen und von ihnen her Licht erhalten" (43). Dazu gehören vor allem das Geheimnis des Dreifaltigen Gottes, die Erschaffung der Welt und des Menschen, die Erlösung durch Jesus Christus, die Sendung der Kirche und die Stellung Marias in ihr.

Der Religionsunterricht soll den Schülern in Achtung vor ihrer Gewissensfreiheit helfen, auf ihre Fragen Antworten des Glaubens zu finden, und sie zu christlichem Denken und Handeln befähigen. Der Religionslehrer sollte dabei Mittel und Wege aufzeigen, Erkanntes umzusetzen in Bekenntnis: Wege des Gebetes, der Selbstüberwindung, des Umgangs mit anderen Menschen, des sozialen oder caritativen Engagements. Wenigstens ansatzhaft sollte etwas vom Erfahrungswissen gläubiger Existenz den jungen Menschen zugänglich gemacht werden. So kann zugleich der Anspruch des lebendigen Gottes und seiner Offenbarung deutlich werden.

5. Die neueren Untersuchungsergebnisse über den Rückgang des Glaubenswissens geben Anlaß, Kenntnisse über Glaubensinhalte zu vertiefen. Wissen über Glaubensinhalte und Glaubensvollzug gehören zusammen. Gerade in der heutigen Zeit muß der gläubige Christ sich und anderen Rechenschaft geben können über das, was er glaubt. Deshalb dürfen sich Religionslehrer nicht der Aufgabe entziehen, grundlegendes religiöses Wissen zu vermitteln. Andererseits ist es ein alter Grundsatz der Kirche, den Glaubensvollzug wichtiger zu nehmen als bloßes Wissen über Glaubensinhalte, selbst wenn vieles nur einschlußweise geglaubt wird. Papst Johannes Paul II. betont die Notwendigkeit einer organischer und systematischen Darstellung der Glaubensaussagen, aber auch ihrer Konzentration auf Jesus Christus. Im Kern der Katechese finden wir nicht so sehr eine Lehre vor, sondern eine Person, Jesus Christus (vgl. CT 5). "Nur in tiefer Gemeinschaft mit ihm können die Katecheten Licht und Kraft finden für eine echte und wünschenswerte Erneuerung der Katechese" (CT 9).

6. Die Jugendlichen erleben sich heute als Glieder einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Haltungen und Wertsysteme konkurrieren. Um Glaube und christliche Überzeugungen leben zu können, müssen sie zur Auseinandersetzung mit anderen Haltungen und Anschauungen befähigt und deshalb mit den wesentlichen und unterscheidenden Grundzügen des Glaubens vertraut gemacht werden. Dies erfordert nach wie vor eine systematische Glaubensunterweisung, die aber in altersgemäßer Weise geschehen muß und für alle Schulformen von Bedeutung ist. Als Lehrmittel sollen neben den Arbeitsbüchern für den Religionsunterricht zu deren Ergänzung auch katechismusartige Werke verwendet werden.

7. Die notwendige Konzentration auf die christliche Glaubenslehre schließt nicht aus, daß im Religionsunterricht auch gesellschaftlich-kulturelle und philosophische Fragen aus christlicher Sicht behandelt werden. Die Behandlung solcher Fragen kann insbesondere in den höheren Schulstufen unerläßlich sein, um die Schüler für ein christliches Leben in einer säkularisierten Gesellschaft auszurüsten. Auch Grundkenntnisse der katholischen Soziallehre sind dafür eine Hilfe.

8. Zentrale Bedeutung hat im Religionsunterricht die Heilige Schrift und ihre altersgemäße Vermittlung. Es muß einerseits vermieden werden, die Schüler durch exegetische Fragestellungen intellektuell zu überfordern und ihnen den Zugang zu biblischen Glaubenserfahrungen zu verstellen. Andererseits muß jedoch vermieden werden, daß biblische Texte in einer Weise ausgelegt werden, die dann, wenn die Schüler älter sind, wieder zurückgenommen werden muß. Es hat gegenwärtig den Anschein, daß eine zugleich sach- und altersgemäße Vermittlung exegetischer Erkenntnisse vielen Religionslehrern Schwierigkeiten bereitet. Deshalb müssen in den Einrichtungen zur Ausbildung und Weiterbildung von Religionslehrern auf diesem Gebiet bessere Hilfen gegeben werden. Theologen und Didaktiker sollten gemeinsam nach Wegen der Bibelauslegung suchen, die sowohl dem Bibeltext als auch den altersspezifischen Verständnismöglichkeiten der Schüler Rechnung tragen. Grundsätzlich soll dabei die Vermittlung der Ergebnisse der exegetischen Forschung im Dienst der unverkürzten Weitergabe der Offenbarung Gottes an glaubenswillige Menschen stehen. Das Glaubensgut der Kirche darf  nicht beliebig uminterpretiert werden. Der Religionslehrer soll seine persönliche Betroffenheit in den Unterricht einbringen, jedoch darf er die Schüler nicht mit seinen rein privaten Problemen und Zweifeln belasten.

9. Die Religionslehrer können ihre Aufgabe nur dann wirksam erfüllen, wenn sie von den Familien und Gemeinden unterstützt werden und wenn die religiöse Unterweisung über das Schulalter hinaus weitergeführt wird. Der Zusammenarbeit von Eltern und Schule, von Gemeindepfarrern, Erziehern und Lehrern kommt daher eine über alle Schularbeit hinausgehende besondere Bedeutung zu. Entscheidend für die religiöse Entwicklung Jugendlicher ist das Beispiel der Eltern. Viele Schüler erfahren heute in ihren Familien keine Glaubenspraxis mehr. Der Widerspruch zwischen den religiösen Forderungen ihrer Eltern und deren eigenem Verhalten begünstigt in ihnen eine Entfremdung von der Kirche, die durch den schulischen Religionsunterricht allein selten überwunden werden kann. Andererseits sollte der Religionslehrer positive Forderungen der Eltern, etwa nach Erfüllung des Sonntagsgebotes, vom Glauben her begründen und unterstützen.

10. Trotz verbesserter Ausbildung der Religionslehrer und zahlreicher wertvoller Unterrichtsmittel weist der Religionsunterricht in vielen Fällen noch große Mängel auf. Kein Medienpaket kann das Glaubenszeugnis des Religionslehrers ersetzen. Der kirchliche Lehr- und Sendungsauftrag legt allen Religionslehrern Verantwortung für die Einheit im Glauben auf; die missio canonica ist keine leere Formalität. Nur der Religionslehrer, der sich ehrlich um einen Unterricht in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche bemüht und ihn gläubig auch als Dienst an der Kirche begreift, wird seinen Schülern helfen können, zum Glauben und zur Kirche zu finden.

Um den schwierigen Aufgaben des Religionsunterrichts gewachsen zu sein, bedürfen die Religionslehrer heute in besonderem Maße der Hilfe und Ermutigung durch alle Glieder der Kirche. Wir erinnern an den Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland über den Religionsunterricht in der Schule: "Der schulische Religionsunterricht bedarf des Interesses, der Förderung und der kritischen Begleitung durch alle Katholiken, durch die Pfarrgemeinden, durch die entsprechenden Einrichtungen, Verbände und Gruppen. Die Synode fordert vor allem die Eltern auf, ihre Verantwortung für den Religionsunterricht in der Schule zu erkennen. Sie bittet sie, die Möglichkeiten und Grenzen des Religionsunterrichtes realistisch zu sehen und nicht Erwartungen an ihn zu richten, die er von den spezifisch schulischen Bedingungen und Zielen her nicht erfüllen kann.  Religionsunterricht in der Schule kann den Eltern nicht die Verantwortung für die religiöse Erziehung abnehmen. Er ist vielmehr auch auf das Glaubensleben in Familie und Gemeinde angewiesen" (3.3). Umgekehrt müssen aber auch die Eltern und Gemeinden erwarten, daß die Schüler im Religionsunterricht den Glaube n der Kirche kennenlernen und daß ihr Verständnis für das kirchliche Leben geweckt wird.

Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 14. November 1980

 

1) im folgenden zitiert mit den Anfangsbuchstaben: CT

Diesen Artikel teilen: