In der Kirche zuhause - Offen für die Gesellschaft

Zum Profil Der Katholischen Verbände

Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Werden die katholischen Verbände entscheidendes Gewicht für die Zukunft von Kirche und Gesellschaft behalten; wie kann ihre Wirksamkeit noch an Bedeutung gewinnen? Der ausschlaggebende Grund dafür, heute eine so fundamentale Frage zu stellen, liegt nicht in diesen oder jenen aktuellen Spannungen, auch nicht in Angriffen oder Gefährdungen von außen, in Problemen der Mitgliederstatistik oder der Finanzen. Tiefgreifende  Veränderungen in der Gesellschaft und in der Kirche, die sich im letzten Jahrzehnt vollzogen haben und bis heute andauern, zwingen vielmehr zu einem ernsten Nachdenken darüber, wo der spezifische Ort katholischer Verbände heute und in Zukunft sein muß, von welchen Grundansätzen her sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, die Herausforderungen der Zeit zu bestehen. Die folgende Stellungnahme will den Verbänden selbst und den Verantwortlichen in der Kirche eine Hilfe zu diesem Nachdenken anbieten.

I Aktualität katholischer Verbände

1.1 Verbände in der Kontroverse

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tragen die katholischen Verbände in Deutschland entscheidend dazu bei, die Katholiken für die Sendung der Kirche zu aktivieren und freie Gestaltungsmöglichkeiten für das christliche Zeugnis in der Gesellschaft zu entwickeln. Das Wirken der katholischen Verbände war freilich nie unumstritten. Mußten sie sich im 19. Jahrhundert vor allem gegen einen Staat zur Wehr setzen, der Kirche und Katholizismus in einem Getto halten wollte, so sahen sie sich im 20. Jahrhundert zur Abwehr gegen Angriffe aus verschiedenen Richtungen gezwungen. Befürworter einer totalen Säkularisierung oder Liberalisierung der Gesellschaft, ideologische und totalitäre Bewegungen suchten katholische Verbände aus der Gesellschaft zu verdrängen. Die Worte "Verbandskatholizismus" und "politischer Katholizismus" wurden oft wie Schimpfworte gebraucht. Die Auflösung von Verbänden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zwang dazu, manche der früher von katholischen Verbänden wahrgenommenen Aufgaben auf Pfarrgemeinden zu verlagern und an die Stelle von Verbandszentralen bischöfliche Arbeitsund Hauptarbeitsstellen zu setzen.

Auch innerhalb der Kirche selbst stellten sich den katholischen Verbänden verschiedene Widerstände entgegen. Des öfteren betrachteten Bischöfe und andere Träger des kirchlichen Amtes Verbände und zumal ihre Organisationszentralen als Konkurrenz zu den kirchlichen Leitungsstrukturen; des öfteren sahen Pfarrer in örtlichen Verbandsgruppen eine Beeinträchtigung der Gemeindepastoral. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von anderer Seite der Einwand zu hören, verbandliche Organisationen behinderten die Entfaltungsmöglichkeiten für das Zeugnis der einzelnen Christen in den verschiedenen Lebensbereichen, katholische Verbände störten die Zusammenarbeit der Katholiken mit anderen gesellschaftlichen Kräften in weltanschaulich und kirchlich nicht gebundenen Großorganisationen. Jahre hindurch meinten viele, die Gesellschaft sei so offen für die von Christen bezeugten Werte, daß eine Geschlossenheit des Verbändekatholizismus sinnlos geworden sei.

Verglichen mit den Höhepunkten der Auseinandersetzung um katholische Verbände ist die Diskussion seit einigen Jahren in der Gesellschaft und in der Kirche sachlicher geworden. Die Existenzberechtigung katholischer Verbände wird heute kaum grundsätzlich bestritten, wenn auch manchen noch unklar ist, welchen Stellenwert sie in der Gemeinde und auf allen Übergeordneten kirchlichen Ebenen neben anderen Einrichtungen und Aktivitäten haben sollen (z. B. Räte, Erwachsenenbildung, außerschulische Kinder- und Jugendkatechese). Außerdem sind manche Verbände durch die zurückliegenden Diskussionen und noch mehr durch die in Gang befindlichen Veränderungen in Kirche und Gesellschaft innerlich verunsichert worden. Es ist weithin nicht mehr selbstverständlich, was katholisch ist. Auch unter den Mitgliedern katholischer Verbände wird gelegentlich kritische Distanz zur Kirche artikuliert. Zugleich zeichnen sich in der Gesellschaft harte und grundsätzliche Polarisierungen ab. Das öffentliche Wirken der Kirche selbst und fundamentale Wertorientierungen der christlichen Überlieferung werden in neuen ideologischen Auseinandersetzungen in Frage gestellt. Ist nicht die Kirchlichkeit der Verbände ein Hemmschuh für ihren zeitgemäßen Dienst in und an der Gesellschaft? Diese Frage macht es notwendig, Überlegungen zum gegenwärtigen Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft wie zum spezifischen Auftrag der katholischen Verbände anzustellen.

1.2 Zum gegenwärtigen Spannungsfeld Kirche - Gesellschaft

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat im Mai 1977 in einem Kommissionspapier "Religiös ohne Kirche?" (Topos-Taschenbücher Bd 66) auf fundamentale Veränderungen hingewiesen, die nach Ausweis neuerer religionssoziologischer Untersuchungen zwischen Kirche und Gesellschaft im Gange sind. Ursprünglich christliche Wertdeutungen, Sinnantworten, Glaubensüberzeugungen leben in der Gesellschaft weiter, vielfach freilich losgelöst vom Ganzen einer christlichen Sicht der Welt und des Menschen. Die Säkularisierung der Gesellschaft hat nicht zu einer totalen Rationalisierung des Lebens geführt. Teilelemente der christlichen Überlieferung werden - nicht selten in ihrem Inhalt umgedeutet - beibehalten. In den letzten Jahren ist eine verstärkte Suche nach umgreifenden Sinnantworten und Zielorientierungen festzustellen. Religiöse oder religionsähnliche Erfahrungen außerhalb der Kirche, auch eine neue unkritische Anhänglichkeit an politische Ideologien verschmelzen sich mit Teilelementen aus einer ursprünglich christlichen Tradition.

Die vielfältige kirchendistanzierte Religiosität, die auf solchen Wegen in der Gesellschaft entsteht, wirkt sich auch für die Kirche selbst aus. Aus einem schrittweisen Abrücken von Normen des kirchlichen Glaubens und Lebens und einer stufenweisen Auswanderung aus der gemeindlichen Praxis ergeben sich neue Motive und Formen religiösen Verhaltens. Teilidentifikationen mit der Kirche sind nicht mehr bloß unvollständige Übereinstimmungen mit ihr, sondern häufig auch Mischformen zwischen christlichen, außerchristlich religiösen und nur scheinbar religiösen Orientierungen, deren endgültige Profilierung zunächst offen bleibt.

Für die Kirche kann es keine Frage sein, daß sie einer Auseinanderentwicklung von Kirche und einer nach Sinnantworten und religiösen Erfahrungen suchenden Gesellschaft nicht tatenlos zusehen darf, auch nicht einer Auseinanderentwicklung von Religion und Ethos. Aus ihrer Bestimmung zum Zeichen des Heils für alle Menschen (vgl. II. Vatikanum, Kirchenkonstitution 1) und aus ihrer Verpflichtung zu hilfsbereiter Solidarität mit allen Menschen (vgl. Pastoralkonstitution 1) ist ihr der Dienst am zeitlichen und ewigen Geschick aller Menschen und der ganzen Welt zur Aufgabe gestellt.

Für die Gesellschaft ist es nicht gleichgültig, ob in ihr ein Wertkonsens besteht, wie breit dessen Grundlage ist und wer sie trägt. Wird der Wertkonsens entscheidend von religiösen Institutionen mitgetragen, die den aus der Schöpfung und aus der Bibel erkennbaren Willen Gottes zu deuten suchen, oder werden die Wertentscheidungen ausschlaggebend bestimmt von schwer durchschaubaren Impulsen aus kurzlebigen geistigen Strömungen, von einer unkritischen Übertragung religiöser Legitimation auf politische Ideologien? An dieser Frage hängt nicht nur die Richtung, sondern auch die Verläßlichkeit des Konsenses und nicht zuletzt die Chance für Freiheit und Würde des Menschen.

Das Deutsche Volk "bekennt sich" im Grundgesetz zu "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1 GG). Trotz der rechtlichen Verbindlichkeit und Unabänderlichkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) der in diesem Bekenntnis zur Menschenwürde ausgedrückten grundlegenden Wertorientierung unseres Staatewesens bedarf es aber des ständigen Bemühens um Aktualisierung und tiefere Begründung dieser Wertentscheidung im Leben des einzelnen - vor allem in der nachwachsenden Generation - und der Gesellschaft.

Der freiheitliche und demokratische Staat hat sich mit all seinen Organen aktiv für diese Wertordnung einzusetzen; er darf sich nicht als bloßes Vollzugsorgan für wechselnde ethische Meinungen verstehen. Ab er der Staat kann - allein auf sich gestellt - Grundwerte nicht auf Dauer durchsetzen, wenn ihre Bedeutung von der Mehrheit nicht mehr erkannt wird. Zudem sind manche wichtige Wertentscheidungen, etwa in Ehe und Familie, im Interesse der Freiheit dem Zugriff des Staates weithin entzogen.

Von daher ist die rechtsstaatliche Ordnung in hohem Maße davon abhängig, welche Kräfte in der Gesellschaft bei der Begründung und Artikulierung von Wertentscheidungen wirksam werden.

In unserer pluralistischen Gesellschaft bedürfenWertentscheidungen und ihre praktischen Konsequenzen der Diskussion, der politischen Meinungsbildung und der weitgehenden inneren Zustimmung der Bürger. Die Bemühungen um Übereinstimmung im Wertbewußtsein setzen voraus, daß sich der einzelne und die verschiedenen Gruppen an verbindlichen Maßstaben orientieren, zumal wenn es um fundamentale Entscheidungen geht. Sonst ist das Vielerlei und Gegeneinander der Verpflichtungen und Ansprüche in den verschiedenen Lebensbereichen nicht in eine sinnvolle und menschenwürdige Ordnung zu bringen.

Für den Katholiken ist diese Orientierung grundsätzlich in Person und Werk Jesu Christi, in der von der Kirche vermittelten und in der Kirche gelebten Botschaft des Evangeliums zugänglich. Wollen Katholiken als Katholiken ihren Beitrag zur Sinnorientierung und zur Wertentscheidung der pluralistischen Gesellschaft leisten, dann müssen sie gerade heute aus dieser Identität ihres Christseins handeln; zugleich müssen sie aber auch glaubwürdig um die Nähe zu möglichst vielen bemüht sein, um das möglichst breite Miteinander im Bemühen um konkrete Wertentscheidungen. Diese Aufgabe ist der Kirche, jeder Gemeinde, jedem einzelnen Katholiken gestellt, in spezifischer Weise auch den katholischen Verbänden.

2. Katholische Verbände im Wandel

2.1 Das Besondere der Verbände

Bevor die spezifischen Anforderungen an die katholischen Verbände im gegenwärtigen Spannungsfeld Kirche - Gesellschaft näherhin bedacht werden, ist zumindest durch einige Eckdaten zu klären, was im folgenden unter "katholischer Verband'' verstanden wird. Trotz aller Unterschiede in Entstehung, Aufgabenstellung, Mitgliederstruktur hat sich im 19. Jahrhundert in Deutschland ein "Grundtyp" von katholischen Verbänden herausgebildet. Charakteristische Besonderheiten dieser Verbände und der zu Verbänden zusammengeschlossenen Vereine sind:

- Verbände sind freie Initiativen. Sie werden nicht durch Mandat oder Auftrag des kirchlichen Amtes, sondern aus eigenständiger christlicher Verantwortung von Katholiken in Ausübung des Versammlungs- und Koalitionsrechts konstituiert (vgl. II. Vatikanum, Laiendekret 18). Daß Priester bei der Gründung und Entwicklung katholischer Verbände häufig einen erheblichen Anteil hatten, ändert nichts an dieser Grundbestimmung. Der relativen Autonomie der verschiedenen weltlichen Kulturbereiche entspricht die relative Autonomie der Verbände innerhalb der einen Sendung der Kirche

- Katholische Verbände wirken in von ihnen selbst bestimmten Sach-, Berufs- oder Lebensbereichen Hierin unterscheiden sie sich vom Dienst des kirchlichen Amtes und von der Gemeinde, Amt und Gemeinde sind immer dem Ganzen von Kirche verpflichtet. Verbände dürfen, sie müssen auswählen. Als sog. Personalverbände- wenden sie sich an bestimmte Gruppierungen, z. B. Altersoder Berufsgruppen, bauen Gemeinschaft auf und tragen zur Gestaltung des jeweiligen Lebensbereiches bei. Als sog. Sachverbände wenden sie sich einem bestimmten Aufgabenfeld in Kirche und Gesellschaft zu.

- Katholische Verbände haben teil an der einen Sendung der Kirche. Das Wirken der Verbände hat nicht bloß privaten Charakter. Gleichwohl handeln Verbände nicht für alle Katholiken verbindlich, nicht "im N am en der Kirche". Handeln und Sprechen "im Namen der Kirche" ist nur zusammen mit den Hirten der Kirche möglich (vgl. II. Vatikanum,  Pastoralkonstitution 76), und es ist nur in den Fällen sinnvoll, in denen ein gemeinsames Sprechen und Handeln
aller Katholiken gefordert ist.

- Über die ihnen eigenen Aufgaben hinaus können katholische Verbände mit ihrem Einverständnis auch mit einzelnen Aufgaben des kirchlichen Amtes betraut werden. Falls freilich die Beauftragung durch die Bischöfe für die gesamte Tätigkeit einer katholischen Organisation gilt, handelt es sich nicht mehr um einen katholischen Verband im eigentlichen Sinn, sondern eher um ein kirchliches Werk oder um eine pastorale Arbeitsstelle. Zumal infolge der vom Nationalsozialismus erzwungenen Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg nur teilweise wieder rückgängig gemacht wurde, gibt es heute Mischformen, die den Namen Verband oder Verein führen, zugleich aber in einem beachtlichen Umfang in einem Auftragsverhältnis zum kirchlichen Amt stehen.

Die Aussagen dieser Stellungnahme betreffen katholische Verbände im eigentlichen Sinn. Auf Mischformen zwischen katholischen Verbänden und kirchenamtlichen Einrichtungen sind die Aussagen nur insoweit anwendbar, als der Verbandscharakter gegeben ist. Insoweit ein Auftragsverhältnis zum kirchlichen Amt besteht, gelten selbstverständlich andere Verhaltens- und Zuordnungsregeln. Auf sie hier einzugehen, wurde Übersichtlichkeit und Umfang dieser Stellungnahme  sprengen.

2.2 Einige kritische Anfragen zur jüngsten Entwicklung

Die Kirche braucht auch in Zukunft katholische Verbände. Darum ist möglichen Gefährdungen und bedenklichen Entwicklungen im Bereich des Verbandswesens mit Klarheit und Entschiedenheit entgegenzuwirken. Ohne den Ursachen nachzugehen, die keineswegs ausschließlich bei den Verbänden selbst liegen, seien im folgenden einige kritische Punkte genannt.

Gelegentlich ist festzustellen, daß auch in katholischen Verbänden die christliche und kirchliche Identität verblaßt, daß auch katholische Verbände in eine teilweise bedrohliche Spannung zur kirchlichen Lehre und Lebensordnung geraten.

Einige Verbände gefährden ihre spezifischen Möglichkeiten dadurch, daß sie sich mehr und mehr im Sinne von gemeindlichen bzw. kirchenamtlichen Strukturen verstehen. Entwicklungen in solche Richtung werden gelegentlich von recht unterschiedlichen Positionen her und durch entgegengesetze Motive ausgelöst. Verbände können sich von sich aus auf ein gemeindliches Selbstverständnis zubewegen, wenn sie für gewisse Personengruppen ein pastorales oder gesellschafts-diakonisches Monopol innerhalb der Kirche anstreben. Bischöfe und kirchenamtliche Stellen können dieselbe Entwicklung dadurch fördern, daß sie Verbände in einem zu weiten Umfang in kirchenamtliche Auftragsverhältnisse nehmen.

Katholische Verbände leisten durch ihre Initiativen einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl. Sie haben einen Anspruch darauf, daß der Staat ihre im öffentlichen Interesse liegenden Aktivitäten anerkennt und fördert, auch finanziell fördert. Staatliche Bezuschussung darf aber nicht zu einer einseitigen Vereinnahmung der Programme und Handlungsfelder katholischer Verbände für politische Ziele, indirekt auch für parteipolitische Interessen oder ideologisch beeinflußte Konzepte führen. Gerade in diesem Zusammenhang müssen Verbände in besonderer Weise ihre Eigenständigkeit wahren. Staatliche Stellen haben die Freiheit der katholischen Verbände im Rahmen der Kirchenautonomie zu achten.

Katholische Verbände müssen sich angesichts des gegenwärtigen Spannungsfeldes Kirche - Gesellschaft fragen: Nutzen sie in bestmöglicher Weise die in ihrer Eigenart liegenden Möglichkeiten, um den Glauben mit den vielschichtigen Weltererfahrungen zu vermitteln und um wertorientierte Gemeinsamkeiten und Dienste in der Gesellschaft zu fördern? Öffnen sie sich genügend über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus? Ist ihr Beitrag sachgerecht, situationsgerecht und überzeugend begründet? Werden die Erfordernisse der Zukunft mit der notwendigen Entschiedenheit und Originalität aufgegriffen? Bleibt d ab ei die christliche und kirchliche Identität unzweideutig? Auf eine knappe Formel gebracht, lautet die entscheidende Doppelfrage für die Zukunft der katholischen Verbände: Wie können Verbände ihr katholisches, ihr kirchliches Profil stärker ausprägen und sich zugleich entschiedener in den solidarischen Dienst für die Gesellschaft stellen?

3. Profilierung der Kirchlichkeit

3.1. Christliche Identität nicht ohne kirchliche Identität

Zwischen der Ausprägung des persönlichen Glaubens und der Teilnahme am kirchlichen Leben besteht ein enger Zusammenhang; dies wird auch durch die bereits erwähnten religionssoziologischen Untersuchungen bestätigt. Der christliche Glaube ist auf Dauer nur in kirchlicher Gemeinschaft zu leben. Die Gabe des Glaubens verlangt die Entscheidung des ganzen Menschen. Und der ganze Mensch ist mehr als sein Intellekt, mehr auch als seine Individualität.

Die Lockerung der Einheit von Glaube und Kirche bleibt nicht ohne Konsequenzen: Ein katholischer Verband, der seine kirchliche Identität vernachlässigt, riskiert auch seine christliche Identität. In einem solchen Verband werden andere Vollzüge als die des christlichen Glaubens zu den entscheidenden Faktoren der Gemeinsamkeit. Der Sinn des Zusammenschlusses beginnt für Außenstehende fragwürdig zu werden. Die einen sagen: "Wie kann sich eine Organisation katholisch nennen, wenn sie in wichtigen Fragen gegen die Kirche steht?" Andere suchen vergeblich nach dem Zeugnis des Christlichen und finden, diese oder jene gesellschaftliche Aktivität werde von weltanschaulich neutralen Gruppen besser geleistet.

3.2 Kirchlichkeit - ein spannungsreicher Prozeß

Bei einem katholischen Verband entscheidet auch die Profilierung seiner Kirchlichkeit über seine Legitimation und Wirksamkeit in der Gesellschaft. Auch für Verbände gilt die Regel: Keine menschliche Gemeinschaft kann durchgängig und in jeder Situation mit einer Totalidentifikation aller ihrer Mitglieder rechnen. Keine menschliche Gemeinschaft hat ab er auf Dauer Bestand, wenn die wesentlichen Ziele, Normen und Motive ihres Zusammenlebens und ihrer Wirksamkeit unklar werden oder wenn ihr Gesamtmilieu in Widerspruch zu den spezifischen Zielen und Normen der Gemeinschaft gerät. In jeder lebendigen Gemeinschaft vollzieht sich ein spannungsreicher Prozeß, der von den Mitgliedern die stets neue Aneignung der Ziele und Normen verlangt. Indem dies aus unterschiedlichen individuellen Situationen und sozialen Bindungen heraus geschieht, wird die grundlegende Orientierung der Gemeinschaft immer neu ausgeprägt. Zugleich führt dieser Prozeß dazu, daß die Mitglieder sich für die Ziele ihrer Gemeinschaft entscheiden oder ausscheiden.

3.3 Besondere Anforderungen an die leitend Verantwortlichen

Eine unverzichtbare Rolle kommt jenen zu, die in einer leitenden Verantwortung für die Gemeinschaft stehen. Sie sind unentbehrliche Vermittler zwischen den Zielen und Normen der Gemeinschaft und dem konkreten Leben. Sie sind zudem Bezugsperson für die Beziehung der Mitglieder untereinander. Schließlich sind sie auch Träger der Außenbeziehungen der Gemeinschaft. An ihrem Wort und Verhalten müssen Ziele und Lebensregeln der Gemeinschaft ablesbar sein. Um der Wirksamkeit und des Zusammenhalts willen muß an ihre Identifikation mit den Zielen und Normen der Gemeinschaft ein besonderer Anspruch gestellt werden.

3.4 Bedingungen für die Mitgliedschaft

Kirchlichkeit, das heißt grundsätzliche Orientierung an Glauben und Leben der Kirche ohne bewußte Ausklammerung eines wesentlichen Elementes, ist ein unentbehrliches, aber nicht das einzige Kriterium für einen katholischen Verband. Die Ausrichtung auf spezifische Lebenssituationen, Sachgebiete und Aufgabenfelder in Welt und Gesellschaft ist für ihn ebenfalls konstitutiv. Katholische Verbände, die aus der freien Initiative von Katholiken kommen, sind wertvolle Ausdrucksformen tätigen Glaubens; die Zugehörigkeit zu ihnen ist aber keine notwendige Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Glaubens- und Heilsgemeinschaft Kirche.

Aus dieser Besonderheit katholischer Verbände müssen für die Mitgliedschaft die folgenden Voraussetzungen und Unterscheidungen bedacht werden: Die Mitgliedschaft in der Kirche wird durch das Sakrament des Glaubens, die Taufe, konstituiert. Sie findet ihre Ausprägung und Aktivierung im christlichen Bekenntnis und Zeugnis. Die Mitgliedschaft in einem Verband wird durch Beitritt konstituiert. Er setzt die grundsätzliche Bejahung der verbandsspezifischen Ziele voraus und verpflichtet zu deren Förderung.

Die Grenzen der Mitgliedschaft sind daher bei Verbänden in mancher Hinsicht enger gezogen als bei Gemeinde oder Kirche. Der Verband muß an die Mitglieder Bedingungen stellen, die für die Verwirklichung seiner Ziele unerläßlich sind. Gemeinde und Kirche können nur Bedingungen stellen, die sich unabdingbar aus der Sendung und aus dem Anspruch Jesu Christi herleiten. Die Grenzen eines katholischen Verbandes können aber auch weiter sein als die Grenzen von Kirche und Gemeinde, solange dadurch nicht der kirchliche Charakter seiner Wirksamkeit oder des für den gemeinsamen Glaubensvollzug der Mitglieder unentbehrlichen Verbandsmilieus gefährdet wird. Ein Verband kann als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alters- oder Berufsgruppe, auch die Erfüllung bestimmter gesellschaftlicher Mindestaktivitäten zur Bedingung der Mitgliedschaft erklären; Kirche und Gemeinde können dies nicht. Ein katholischer Verband kann sich aus besonderen Gründen entschließen, Nichtkatholiken oder auch Ungetaufte aufzunehmen. Voraussetzung dabei ist, daß sie seine Ziele bejahen, für die kirchliche Atmosphäre und für die christlichen Aktivitäten des Verbandes grundsätzlich offen sind. Für Kirche und Gemeinde ist eine solche Erweiterung nicht möglich.

3.5 Abgrenzung des Toleranzraumes

Es gibt mannigfache Arten von Teilidentifikationen katholischer Verbandsmitglieder mit dem kirchlichen Leben; in manchen Verbänden werden auch Nichtkatholiken in begrenzter Zahl aufgenommen. Durch solche Entwicklungen stellt sich die Frage nach einer Abgrenzung des Toleranzraumes, der von der gesellschaftlichen Wirksamkeit und vom kirchlichen Profil her möglich ist. Diese Frage kann nicht allein quantitativ-statistisch beantwortet werden. Sicher setzt das katholische Profil eines Verbandes voraus, daß die weit überwiegende Mehrzahl seiner Mitglieder Katholiken sind, die in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Kirche leben. Über quantitative Faustregeln hinaus muß aber beachtet werden, daß es Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines innerverbandlichen Ausgleichs für die Ausprägung seiner Kirchlichkeit gibt. Öffnet sich ein Verband aus Gründen seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit oder aus Motiven des Apostolats relativ weit für kirchendistanzierte Katholiken oder für Nichtkatholiken, so muß gerade dieser Verband Zellen einer spirituellen Vertiefung des Glaubens, Aktivkreise eines bewußt kirchlichen Apostolats noch mehr pflegen als ein anderer Verband, der im wesentlichen kirchenverbundene Katholiken zu einer bestimmten gesellschaftlichen Aktion sammelt. Um der Klarheit des Profils als katholischer Verband willen muß in jedem Fall von kirchendistanzierten Katholiken wie von nichtkatholischen Mitgliedern anerkannt werden, daß die leitenden Positionen von  Katholiken wahrgenommen werden, die-in Übereinstimmung mit dem Glauben und den Lebensregeln der Kirche stehen.

3.6 Kirchlichkeit - zunächst Aufgabe der Verbände selbst

Katholische Verbände werden nicht durch einen kirchenamtlichen Auftrag konstituiert, sondern grundlegend durch die allgemeine Sendung aller Christen zu Glaubenszeugnis, Apostolat und kirchlicher Gesellschaftsdiakonie und aktuell durch den freien Zusammenschluß bzw. den Beitritt der Mitglieder. Von daher ist die Sorge um die Kirchlichkeit wie die Sorge um die gesellschaftliche Effektivität zuerst den Verbänden selbst aufgegeben. Diese Sorge muß wahrgenommen werden durch entsprechende Bestimmungen in der Satzung, durch die Wahl der leitenden Personen, durch das Aktionsprogramm und die Bildungsbemühungen, durch Kerngruppen der spirituellen Vertiefung und des kirchlichen Apostolats, durch Gottesdienst und Gebet im Kreis der Verbandsmitglieder und durch Hilfen zur persönlichen Lebensgestaltung aus dem Glauben.

Die Träger des kirchlichen Amtes und die Institutionen der Kirche müssen die Initiativen der katholischen Verbände und ihre Bemühungen um Kirchlichkeit unterstützen und fordern. Dazu gehört - als Ergänzung zur Mitarbeit der örtlichen Seelsorger in den Verbänden - die Freistellung von fähigen Priestern für den Dienst in Verbänden, insbesondere bei der Entfaltung des Glaubens, bei der Grundlegung der christlichen Weltgestaltung und bei der Förderung der kirchlichen Einheit.

Die kirchliche Förderung der katholischen Verbände verlangt auf allen Ebenen eine Zurückhaltung kirchlicher Institutionen bei der Errichtung oder beim Ausbau kirchenamtlicher Einrichtungen oder Werke, wo die Aufgaben gleich gut oder besser durch katholische Verbände wahrgenommen werden können, sowie die finanzielle Förderung der Verbände aus Mitteln des kirchlichen Haushalts.

3.7 Recht auf Eigenständigkeit und Pflicht zur kirchlichen Bindung

Den Verpflichtungen der Kirche und des kirchlichen Amtes entsprechen Verpflichtungen der Verbände: Sie müssen bereit sein zu angemessenen Eigenleistungen der Verbandsmitglieder für beschlossene Programme, sie müssen offen sein für die Koordinierung katholischer Initiativen, und sie müssen mit den Priestern, die in der Verbandsarbeit stehen, eine loyale und deren kirchlichen Auftrag unterstützende Zusammenarbeit pflegen. Die wesentliche Verantwortung für den Verband als Verband, auch für die Kirchlichkeit des Verbandes, liegt bei diesem selbst und damit bei seinen Mitgliedern. Ebenso selbstverständlich muß es aber sein, daß ein katholischer Verband nicht von sich aus die unabdingbaren Voraussetzungen seiner Kirchlichkeit bestimmen kann, sondern hier in strittigen Punkten auf das kirchliche Leitungsamt verwiesen ist (vgl. II. Vatikanum, Laiendekret 24). In der Anerkennung katholischer Verbände durch das kirchliche Amt, gegebenenfalls auch in der Zurücknahme einer solchen Anerkennung, müssen zugleich Eigenständigkeit und kirchliche Bindung katholischer Verbände zur Geltung kommen.

Die grundsätzliche Zuordnung von Eigenständigkeit und Kirchlichkeit ist zu beachten für das Zueinander der Satzungshoheit der Verbände und der bischöflichen Anerkennung derjenigen Bestimmungen der Satzung, die das katholische Profil eines Verbandes sichern. Sie bedingt die besondere in der Satzung zu verankernde Stellung der Verbandsseelsorger; sie Muß bei ihrer Ernennung wie bei der Aufgaben- und Kompetenzverteilung innerhalb des Vorstands zum Ausdruck kommen. Dieser grundsätzlichen Zuordnung sollen auch die Proportionen zwischen Eigenfinanzierung und kirchlichen Zuschüssen entsprechen. Eigenständigkeit und Kirchlichkeit müssen nicht nur auf der überdiözesanen oder diözesanen Ebene, sondern gerade auch im örtlichen Bereich der Pfarrgemeinden zum Tragen kommen. Die Anwendung dieser Grundsätze auf konkrete Fragen wie Zuständigkeitsbeschreibung für Verbandsseelsorger, Möglichkeiten eines Einspruchs des Verbandsseelsorgers, Kriterien der kirchlichen Bezuschussung müssen den jeweiligen Voraussetzungen und der jeweiligen Aufgabenstellung des Verbands angepaßt sein. Generelle Lösungen dieser und ähnlicher Probleme für die Gesamtheit der Verbände können hier wegen der Unterschiedlichkeit der Verbände nicht angeboten werden.

4. Offenheit für den solidarischen Dienst in der Gesellschaft

4.1 Pastoral der konzentrischen Kreise

Die gestufte Bindung von Katholiken an ihre Kirche und die vielen Gestalten kirchendistanzierter Religiosität in der Gesellschaft müssen für Kirche und Katholiken eine Herausforderung bedeuten. Ein doppelter Einsatz ist heute für die Pastoral und für die Gesellschaftsdiakonie gefordert: eine Pastoral der konzentrischen Kreise und der Aufbau von Zellen einer wertgebundenen Sozialisation und Solidarität (vgl. das zitierte Kommissionspapier "Religiös ohne Kirche?", Teil IV).

Die Sorge um die Profilierung der Kirchlichkeit, die Ausrichtung auf gesellschaftliche Aufgaben und der gegenüber Gemeinde und Kirche weitere Toleranzraum für die Mitgliedschaft sind Eckdaten für eine den Verbänden angemessene Pastoral der konzentrischen Kreise. Ausweitung der Peripherie gemeinsamen Handelns und Verstärkung der Zentren für die Vertiefung im Glauben und Leben der Kirche müssen sich gegenseitig ergänzen, wenn eine für die gesellschaftliche und kirchliche Effizienz fruchtbare Spannung nicht in sich selbst zusammenfallen soll. Dies verpflichtet heute Gemeinden und Verbände in gleicher Weise zur Pflege von Intensivkreisen für Glaubenserfahrung und Frömmigkeit wie zur ständig neuen Bemühung um die Kenntnis gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, aktueller Situationsbedingungen und Sachgegebenheiten des jeweiligen Handlungsfeldes.

4.2 Chancen einer Erweiterung der Peripherie

Den katholischen Verbänden sind durch ihre Eigenständigkeit und durch ihre gesellschaftliche Zielorientierung besondere Chancen zur Erweiterung der Peripherie des Handelns gegeben, die in der allgemeinen Gemeindepastoral nicht in derselben Weise vorhanden sind. Ein Verband kann Impulse des Glaubens mit sehr speziellen Lebenssituationen und Handlungsfeldern vermitteln. Er kann durch seine gesellschaftliche Aktivität auch Menschen erreichen, die für die Gemeindepastoral nur schwer erreichbar sind. Wer heute eine möglichst weite Offenheit kirchlichen Handelns, Bezeugens und Dienens fordert, kann von der Sache her nicht für eine "Vergemeindlichung" der Verbände oder für eine totale "Synodalisierung" aller kirchlichen Lebensäußerungen plädieren. Er muß vielmehr in katholischen Verbänden eine durch nichts zu ersetzende Möglichkeit sehen, kirchliches Leben für unterschiedlichste Sachbereiche und Aufgabenfelder sowie für unterschiedlichste Gruppierungen und Interessen in der heutigen Gesellschaft zu öffnen. Gleichzeitig haben Verbände die Aufgabe, Fragen der von ihnen vertretenen Gruppen in der Kirche zu artikulieren und so zur Aktualisierung des kirchlichen Zeugnisses beizutragen.

Verbände können nicht an die Stelle der Räte kirchlicher Mitverantwortung treten. Ebensowenig können diese Räte den spezifischen Beitrag der Verbände in Gesellschaft und Kirche ersetzen. Räte und Verbände sind vielmehr zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit verpflichtet. Auf der Ebene der Pfarrgemeinde dient der Pfarrgemeinderat der Koordinierung der verbandlichen Initiativen, auch soll er zusammen mit den Seelsorgern um die Ansiedlung von Verbandsgruppen bemüht sein. Die Pfarrgemeinde soll ihnen Räume zur Verfügung stellen und ihre Veranstaltungen unterstützen. Umgekehrt sollen die Verbandsgruppen, etwa durch offene Gruppenarbeit und sozialen Einsatz, die Aufgaben der Pfarrgemeinde mittragen.

4.3 Zellen wertgebundener Solidarität

Das Bild der konzentrischen Kreise ist zwar entworfen im Blick auf die heutige Gesellschaft und die vielfältigen Erwartungen an die Kirche und an die Katholiken, seine Kontur aber bestimmt sich entscheidend vom Selbstverständnis der Kirche und ihrer Pastoral her. Das ergänzende Bild der Zellen wertgebundener Sozialisation und Solidarität setzt hingegen bei der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaft an. Da in dieser dynamisch bewegten Gesellschaft jeder Mensch für viele Bereiche seines Lebens in oft recht unterschiedlicher Weise angesprochen und in Anspruch genommen wird, wächst ein Verlangen nach umgreifenden Orientierungen, die dem einzelnen eine Wertung der verschiedenen Ansprüche ermöglichen. Diese Beobachtung betrifft keineswegs nur die am kirchlichen Leben teilnehmenden Christen.

Wenn nun das Handlungsfeld der katholischen Verbände entscheidend durch die Gestaltung von Welt und Gesellschaft bestimmt wird, dann begegnen Verbände immer wieder einzelnen Menschen oder Gruppen, die ohne Verbindung mit der Kirche menschlich und gesellschaftlich vor ähnlichen Fragen stehen, ähnliche Teilziele verfolgen. Das ist nicht verwunderlich; denn im Dienst an Welt und Gesellschaft geht es weithin um Ziele, die sich in ihrem Inhalt nicht spezifisch aus dem christlichen Glauben herleiten, sondern für die ethisch engagierte Vernunft aus den geschaffenen Wirklichkeiten selbst zu erkennen sind. Daß katholische und evangelische Christen darüber hinaus oft in ganz ähnlicher Weise den Zuspruch und Anspruch des Evangeliums Jesu Christi vernehmen, gehört zu den besonders ermutigenden Erfahrungen ökumenischer Begegnung.

4.4 Konsequenzen aus der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten

Das II. Vatikanische Konzil hat die Laien aufgerufen, in ihrem Dienst an weltlichen Aufgaben und Tätigkeiten "bereitwilligst mit denen, die die gleichen Aufgaben haben wie sie", zusammenzuarbeiten (Pastoralkonstitution 43). Dasselbe Konzil hat freilich auch mit Nachdruck auf die Gefahren einer falsch verstandenen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten hingewiesen. Es betont die Bedeutung des Glaubens und des kirchlichen Lehramts für die rechte, nicht durch Schuld und Sünde verdunkelte Erkenntnis irdischer Gesetzmäßigkeiten.

Für die katholischen Verbände stellt sich von daher eine doppelte Aufgabe: Sie sind in ganz besonderer Weise zur Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Kirche aufgerufen, soweit sich nur eine Gemeinsamkeit der Aufgabenstellung und Zielsetzung finden läßt. Zugleich müssen sie diese Zusammenarbeit so gestalten, daß durch sie nicht der spezifische Dienst gefährdet wird, den der Glaube und die kirchliche Gemeinschaft leisten können: die leitenden Ziele und die tragenden Werte engagierter und deutlicher ins Licht zu heben.

Katholische Verbände sind - aus einer anderen Perspektive gesehen - in ihrem Weltdienst so eigenständig, daß der eine Verband eine bestimmte Lösung weltlicher Aufgaben als besonderen Auftrag der christlichen Schau der Dinge empfinden kann, der andere vielleicht auch eine entgegengesetzte Lösung (vgl. Pastoralkonstitution 43). Katholische Verbinde müssen sich aber in dieser ihrer Eigenständigkeit nicht nur am Glauben der Kirche orientieren, sondern auch an den Äußerungen des kirchlichen Lehramts zum sozialen und individuellen menschlichen Verhalten. Sie sollen selbst zur je neuen Aktualisierung der katholischen Soziallehre und einer christlich verantworteten Alltagsmoral beitragen. Sie müssen dar um bemüht sein, daß in der Kirche vorhandene Gegensätzlichkeiten nicht den Dienst von Glaube und Kirche an der Klärung der weltlichen
Aufgaben ins Zwielicht geraten lassen.

4.5 Aufgabe verstärkter Zusammenarbeit

Die Dringlichkeit der Zusammenarbeit in gesellschaftlichen Fragen auch über die Grenzen der Kirche hinaus hat im letzten Jahrzehnt noch erheblich zugenommen. Wichtige Gründe sind die wachsende Polarisierung der Gesellschaft in den Fragen politischer Zielbestimmungen, das Schwinden des Grundwertekonsenses und das wachsende Bedürfnis der Menschen nach Sinnantworten. Wenn beide Entwicklungen nicht die kirchendistanzierten Christen und die Nichtchristen in die Arme politischer Ideologien treiben sollen, ist es notwendig, verstärkt Möglichkeiten zu finden für eine Gemeinschaftsbildung und für das solidarische Handeln von Menschen, die sich gemeinsam Werten von ethischer Evidenz verpflichtet wissen. Selbstverständlich kann es sich bei dieser Aufgabe für katholische Verbände nur um Werte handeln, die auch im Licht der christlichen Sicht
der Welt und des Menschen Bestand haben und dem ethischen Urteil der kirchlichen Gemeinschaft nicht widersprechen.

Durch welche konkreten Schritte kann nun ein katholischer Verband mit einer gewissen Beständigkeit dazu beitragen, daß sich Zellen wertorientierter Sozialisation und Solidarität in der Gesellschaft bilden? Hierfür reichen vereinzelte Appelle an die Öffentlichkeit und vereinzelte gesellschaftliche Aktionen nicht aus. Eine gewisse Möglichkeit ist sicher die Offenheit eines katholischen Verbandes für kirchendistanzierte Katholiken und Nichtkatholiken. Da diese Möglichkeit quantitativ begrenzt und zudem an verbandsspezifische Bedingungen geknüpft ist, kann sie freilich nicht die eigentliche Lösung der Aufgabe bringen. Eine sehr viel breitere Möglichkeit besteht in der kontinuierlichen sachbezogenen Zusammenarbeit mit anderen christlichen Organisationen oder Gruppen, die sich gleichen Aufgaben stellen. Darüber hinaus müssen die Verbände die Bedingungen einer Zusammenarbeit mit anderen Organisationen oder Verbänden nüchtern prüfen. Sie haben hierbei die Chance, ihr Gedanken gut auch in Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen (z.B. Gewerkschaften) sowie kirchlichen Gruppen einzubringen. Unerläßlich für das eigene Engagement wie für die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen oder Organisationen ist die Sachkompetenz für den Gestaltungsbereich, zu dem Stellungnahmen abgegeben oder Modelle erarbeitet werden sollen. Für den einen oder anderen katholischen Verband kann auch die Frage dringlich werden, ob er nicht über schon vorhandene
Formen hinaus Initiativen zu Arbeitsgemeinschaften für gesellschaftlich gleich oder ähnlich orientierte Verbände ergreifen sollte. Vielleicht sollte mancher Verband auch zum Entstehen kleiner, vom Verband getragener, aber nicht auf seine Mitglieder beschränkter Diskussions- und Aktionsgruppen auf lokaler Ebene beitragen. Die dem christlichen Glauben eigene Verpflichtung zur Diakonie legt dabei die Hilfe für Minderheiten und für sozial benachteiligte Gruppen besonders nahe.

4.6. Katholische Verbände auch morgen notwendig

Wenn angesichts der fundamentalen und alle Lebensbereiche bestimmenden Polarisierungen in der Gesellschaft die Offenheit für den solidarischen Dienst in der Gesellschaft so sehr betont wird, sollten dann katholische Verbände nicht besser durch gemeinsame christliche oder durch noch breiter angelegte Organisationen ab gelöst werden? Zielt diese Frage im Ernst auf grundsätzliche Alternativen zu den katholischen Verbänden, so geht sie an zwei entscheidenden Tatsachen vorbei. Zum einen: Die neue Suche nach Sinnantworten und die ethische Ratlosigkeit in unserer Gesellschaft kommen nicht aus einer zu starken, sondern aus einer zu schwachen kirchlich oder weltanschaulich eindeutigen Orientierung. Heute sind zwar breite  gesellschaftliche Konsensbildungen von unterschiedlichen Wertbegründungen her notwendig. Diese Wertbegründungen können aber weder aus sich selbst noch von begrenzten Aktionsgemeinschaften her tragfähig werden, sie müssen vielmehr in einem umfassenden Wertsystem begründet sein. Zum andern: Christliche Orientierung gesellschaftlichen Handelns und Gestaltens läßt sich dauerhaft nicht aus irgendeinem "Christentum an sich" gewinnen, sondern nur aus dem in kirchlicher Gemeinschaft gelebten Glauben an Jesus Christus. Der Dienst der Christen verschiedener Kirchen und Bekenntnisse an der Gesellschaft und am Menschen ermöglicht und fordert heute nachdrücklich einfallsreiche und mutige Formen der Zusammenarbeit. Er kann aber weder das Ziel der kirchlichen Einheit der Christen vorwegnehmen noch die je eigene Entscheidung des Glaubens ersetzen.

Katholische Verbände haben sich also keineswegs überlebt, sie haben an Aktualität eher gewonnen. Sie werden den Anforderungen der Zukunft aber nur gewachsen sein, wenn sie in gleicher Weise auf ihre kirchliche Profilierung und auf ihre Offenheit für den solidarischen Dienst an der Gesellschaft bedacht sind. Diese sind keine Gegensätze, zwischen denen ein Kompromiß zu suchen wäre, sondern die zwei Seiten der einen Aufgabe und Sendung von Jesus Christus her.

In der Kirche zuhause - offen für die Gesellschaft: dieses Profil katholischer Verbände ist nicht unanfechtbarer Besitz, es formuliert einen Auftrag, der mit Mut und Entschiedenheit je neu aufzugreifen ist. Darum appelliert das Zentralkomitee der deutschen Katholiken an jeden katholischen Verband, sich auf seinen spezifischen Anteil an der Sendung der Kirche in unserem Land kritisch zu besinnen und Konsequenzen für seine Organisation und für seine Aktivitäten zu ziehen. Das Zentralkomitee appelliert sodann an die Verantwortlichen in der Kirche, die unersetzbare Funktion der Verbände für den Dienst und das Leben der Kirche wie der Gesellschaft anzunehmen und die katholischen Verbände in ihrem Bemühen um Kirchlichkeit und um Offenheit tatkräftig zu unterstützen.

 

Beschlossen von der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen
Katholiken am 18. November 1978 in Bonn-Bad Godesberg

Diesen Artikel teilen: