Politische Erklärung zur Bundestagswahl 1976

des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Ein freiheitlicher Staat muß Freiheit für einzelne und für gesellschaftliche Gruppen sichern.

Nicht alle öffentlichen Aufgaben sind Staatsaufgaben. Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sind auch auf die Initiative einzelner und freier Gruppen unserer Gesellschaft angewiesen. Freie gesellschaftliche Kräfte dürfen daher nicht durch den Staat ersetzt werden, vielmehr verdienen sie staatliche Förderung. Für diesen Grundsatz freiheitlicher Demokratie überzeugend einzutreten, fordern wir von den Parteien.

Unserem Verständnis von Staat und Gesellschaft und von der Rolle politischer Parteien widerspricht es, wenn Parteien sich selbst eine umfassende Vertretung unserer Gesellschaft anmaßen. Diese Tendenz hat beispielsweise im Bereich öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten ein bedenkliches Ausmaß erreicht. Sie wird auch in der Presse spürbar. Das Verhalten der Parteien in dieser Frage ist ein Prüfstein für ihr Verständnis von Freiheit und Pluralität in unserer Gesellschaft.

Freiheit muß immer neu errungen werden

Freiheitliche Demokratie muß dynamisch sein. Nicht Stillstand ist ihr Kennzeichen, sondern Bereitschaft zur Weiterentwicklung. Ihr Ziel muß sein, dem Menschen zu dienen, Machtmißbrauch zu verhindern und den Frieden in der Gesellschaft zu wahren. Das ist eine Herausforderung für uns alle und macht große Anstrengungen notwendig. Es geht darum, Freiheit zu mehren und sie nicht zu zerstoren, weder durch Mißbrauch, noch durch Gewalt, noch durch ideologische Verfälschung.

Unser freiheitlich-demokratischer Staat wird heute nicht selten als Feind des Menschen in dieser Gesellschaft verdächtigt, und seine Institutionen werden oft pauschal undemokratischen Verhaltens bezichtigt. Von Recht und Ordnung heißt es, daß sie Merkmale eines Systems seien, das überwunden werden müsse. Hier zeigen sich Tendenzen gegen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die letztlich nur zu einer totalitären Gesellschaftsveränderung fuhren können.

Wir rufen alle Bürger auf, diesen Tendenzen in aktiver geistiger und politischer Auseinandersetzung entgegenzuwirken. Von den demokratischen Parteien fordern wir, daß sie sich mit ganzer Kraft an dieser Auseinandersetzung beteiligen und keine Zweifel an ihrer Bereitschaft zur Abwehr verfassungsfeindlicher Aktionen aufkommen lassen. Dazu gehört auch der Einsatz für die Stärkung unserer Sicherheit nach innen und nach außen und für die Festigung der Verteidigungsbündnisse, denen wir
angehören.

Freiheit für alle Deutschen bleibt das Ziel

Es geht nicht nur um die Erhaltung der Freiheit für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind der ganzen Nation gegenüber verpflichtet, die Macht der Freiheit zu starken.

Darum rufen wir alle Mitbürger auf, sich bewußt zu sein, daß sie auch für die Menschen in unserem gespaltenen Lande verantwortlich sind, denen die Mitwirkung am staatlichen Leben versagt ist. In dieser Verantwortung darf die deutsche Politik nicht in dem Bemühen nachlassen, den Freiheitsraum für alle Deutschen zu erweitern.

Der Sozialstaat braucht Solidarität und Maß

Die Bundesrepublik Deutschland steht zur Zeit in einer Bewährungsprobe als Sozialstaat. Unsere Wirtschaft und die Finanzpolitik sind überfordert worden. Die Grenzen finanzieller Belastbarkeit von Staat und Wirtschaft müssen beachtet werden. Einschränkungen sind notwendig. Sie dürfen aber nicht zu einer Gefahrdung unserer sozialen Sicherung und zu einer sozialen Demontage bei denen fuhren, die wirklich der Hilfe bedürfen. Nur wenn es heute gelingt, die Inflation der Ansprüche zu überwinden und das Notwendige zu sichern, kann der Sozialstaat weiterentwickelt werden.

Unser Land gehört zu den wohlhabendsten und sozialrechtlich fortschrittlichsten Landern der Erde. Um so bedenklicher ist es, daß immer mehr Mitbürger auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil ihr Einkommen unter diesem Minimum liegt. Das trifft nicht nur für alte Menschen und Randgruppen zu, sondern in zunehmendem Maße auch für Durchschnittsverdiener mit mehreren Kindern. Wir fordern daher die Parteien auf, dafür zu sorgen, daß die hier sichtbar werdende Fehlentwicklung korrigiert wird.

Mehr Gerechtigkeit für unsere Familien

Die Familie darf als Institution nicht abgewertet, ihr Erziehungsrecht nicht gemindert werden. Die Erziehung der Kinder ist Pflicht und natürliches Recht der Eltern. Der Staat muß die Familie bei der Erfüllung dieser Aufgabe unterstützen und ihr auch in diesem Bereich seinen besonderen Schutz gewähren.

Die Familie mit Kindern ist heute wirtschaftlich und sozial besonders benachteiligt. Das Kindergeld als Ausgleich für die Lasten, welche die Familie für die Allgemeinheit trägt, ist durch die steigenden Lebenshaltungskosten real immer mehr entwertet worden. Mutter, die ihrer Kinder wegen auf Erwerbstätigkeit und den Aufhau einer eigenen sozialen Sicherung verzichten, erfahren kaum öffentliche Anerkennung und keinen Ausgleich für ihre Leistungen. Wir erwarten vom künftigen Parlament, daß es die Familienleistungen anpaßt und die zusätzliche Gewährung eines Erziehungsgeldes beschließt.

Verantwortung für die Zukunft unseres Volkes erfordert es, daß die bevölkerungspolitische Situation nicht mehr mit Schweigen übergangen wird. Die Bundesrepublik Deutschland hat die niedrigste Geburtenrate in der Welt. Diese sichert nicht einmal mehr den Bestand unseres Volkes. Die Gesellschaft darf diesem Problem nicht weiter ausweichen, wenn sie nicht ihr Fundament und das System der sozialen Sicherung gefährden will. Wir appellieren an die Parteien und an das Parlament, sich diesem Problem zu stellen. Wir fordern von ihnen, daß sie in Wort und Tat mithelfen, in unserer Gesellschaft ein familienfreundliches Klima zu schaffen, in dem Kinder nicht langer als Belastung angesehen werden.

Chancen für junge Menschen

Die Bildungsreformen der vergangenen Jahre haben vielfach zu einem erschreckenden erzieherischen Defizit geführt. Leistungsdruck, Entpersönlichung und Resignation kennzeichnen die Situation. Das belastet eine wachsende Zahl von jungen Menschen immer mehr. Statt der proklamierten Vermehrung der Chancen ist eine gefährliche Verringerung festzustellen.

Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, jungen Menschen wieder realistische Chancen zu eröffnen und insbesondere alle Anstrengungen zu unternehmen, um das Schicksal der Arbeitslosigkeit von der jungen Generation abzuwenden. Dazu gehört auch, daß die Schule besser auf die Verantwortung des demokratischen Staatsbürgers und auf das Berufsleben vorbereitet und dies an den Entfaltungsmöglichkeiten jedes Menschen orientiert. Bildungssystem und Beschäftigungssystem müssen besser aufeinander bezogen werden.

Bildung und Erziehung der Jugend sind Lebensfragen für unser Volk. Wie auf kaum einem anderen Gebiet sind hier finanzielle und inhaltliche Anstrengungen Investitionen für die Zukunft. Wir erwarten daher politische Maßnahmen, die erkennen lassen, daß nicht ideologische Gesichtspunkte vorherrschen, sondern die Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung den wichtigsten Platz in der Bildungspolitik einnimmt.

Ohne soziale Marktwirtschaft keine gerechten und menschenwürdigen Verhältnisse

Die Aufgaben der Sozial-, Familien- und Bildungspolitik sowie der inneren und äußeren Sicherheit sind nur zu erfüllen, wenn die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft gestärkt wird. Dies ist zugleich eine Voraussetzung dafür, daß die noch immer hohe Arbeitslosenquote abgebaut und das System unserer sozialen Sicherung langfristig stabilisiert werden kann. Wirtschaftliche Leistungskraft beruht ganz entscheidend auf dem Leistungswillen der einzelnen und der Gruppen. Ihn gilt es zu erhalten und zu starken.

Wir erwarten von den Parteien, daß sie entschieden für eine Wirtschaftsordnung eintreten, die von Freiheit und sozialer Verantwortung bestimmt ist und die somit zu Recht soziale Marktwirtschaft genannt werden kann. Menschenwürdige und gerechte Verhältnisse sind erfahrungsgemäß durch die Festigung und Weiterentwicklung dieser sozialen Marktwirtschaft zu erreichen und nicht durch solche Eingriffe in die Wirtschaft, die zur sozialistischen Planwirtschaft führen. Die soziale Marktwirtschaft ist auch eine entscheidende Voraussetzung für die Erfüllung unserer solidarischen Verpflichtung gegenüber den Entwicklungsländern.

Eine freiheitliche Gesellschaft muß sich durch Solidarität auszeichnen

Die Humanität einer freiheitlichen Gesellschaft erweist sich in ihrer Solidarität mit Schwachen, Behinderten und Minderheiten. Gerade in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten ist diese gegenseitige Verbundenheit und Verantwortlichkeit besonders geboten. Sie muß auch die auslandischen Mitbürger einschließen, die in der Zeit wirtschaftlicher Erfolge durch ihre Leistung unseren Wohlstand mit geschaffen haben.

Solidarisches Verhalten verlangt auch die Erhaltung und Gestaltung unserer Umwelt. Ein Land, das vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt lebt und auf diesem Gebiet immer neue Anstrengungen unternehmen muß, muß zugleich mit besonderer Energie den Lebensraum der Natur und des Menschen schützen. Dies ist eine Aufgabe für jeden einzelnen. Von den Politikern erwarten wir, daß sie keine vorschnellen Entscheidungen treffen. Technologischer Fortschritt muß dort seine Grenzen haben, wo irreparable Folgen für lebende oder kommende Generationen nicht sicher ausgeschlossen werden können.

Internationale Politik muß der Verständigung der Volker und der Verwirklichung der Menschenrechte dienen

Das Vertrauen, das die Bundesrepublik Deutschland in der Welt errungen hat, muß erhalten und vertieft werden. Internationale Partnerschaft der Staaten ohne Verständigung und Freundschaft zwischen den Völkern bleibt Stückwerk.

Im freien Europa konnten sich freundschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern ungehindert entwickeln. Sie müssen gefestigt und vertieft werden. Dazu soll der Ausbau der Europaischen Gemeinschaft helfen. Sie muß jetzt Sache der beteiligten Völker werden. Dabei kommt den gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere auch den Kirchen, eine erhöhte Verantwortung zu. Die politische, wirtschaftliche und militärische Situation in der Welt verlangt ein starkes, in Freiheit vereinigtes Europa. Wir fordern von den Parteien, daß sie mit aller Energie zur Verwirklichung dieses Zieles beitragen.

Industrieländer und Entwicklungsländer sind in steigendem Maße aufeinander angewiesen. Wenn der Weltfrieden erhalten bleiben und gerechte Verhaltnisse erreicht werden sollen, müssen sich die freien Staaten der Erde solidarisch mit den Ländern der Dritten Welt verbinden. Das Bewußtsein dafür ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Die Bundesrepublik Deutschland muß aktiv daran mitarbeiten, die wirtschaftlichen Beziehungen auf weltweiter Ebene so zu ordnen, daß sich die Kluft zwischen hochindustrialisierten Ländern und Entwicklungsländern verringert. Wir erwarten vom künftigen Parlament, daß es einen verbindlichen Stufenplan zur Erreichung des schon lange akzeptierten Zieles, 0,7 % des Bruttosozialproduktes als staatliche Entwicklungshilfe einzusetzen, erstellt. Die Politiker sind verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß dies nicht möglich sein wird, wenn weiterhin die Verteilungskampfe um das Sozialprodukt in unserem Land ohne Rücksicht auf die Dritte Welt geführt werden.

In der heutigen Weltsituation muß internationale Politik auch immer Politik zur Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte sein. Wir fordern von den Parteien, daß sie ihre außenpolitischen Vorstellungen noch deutlicher an dieser Zielsetzung orientieren, sich einer weiteren Beeinträchtigung der Menschenrechte entgegenstemmen und für eine entsprechende Weiterentwicklung des Völkerrechts eintreten. Der Einsatz für die Menschen in Osteuropa muß verstärkt werden Ohne tatsächliche Anerkennung der Menschenrechte und Gewährung der Grundfreiheiten in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas wird eine wirkliche Verständigung und Freundschaft sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Dennoch ermutigen wir die Politiker, diese Verständigung zu suchen und sie bei Wahrung der deutschen Interessen politisch zu verwirklichen. Dabei werden alle Bemühungen um gerechten Ausgleich und Freundschaft mit dem polnischen Volk besonderen Rang haben müssen.

Wir erwarten von der künftigen Bundesregierung, daß sie in jeder geeigneten Weise darauf drangt, daß die in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beschlossenen Verbesserungen für menschliche Kontakte, für Freizügigkeit und Austausch von Informationen auch wirklich gewahrt werden. Wir werden nicht nachlassen, immer wieder das Recht auf freie Religionsausübung für die Menschen in den kommunistisch regierten Staaten zu fordern und die Verständigungsbereitschaft dieser Staaten an der Gewährung dieses grundlegenden Rechts zu messen.

Unsere besondere Solidarität brauchen die Deutschen, die in den Ländern Osteuropas leben. Wir fordern für sie die Anerkennung ihrer Rechte als kultureller Minderheit und die Möglichkeit, jederzeit unbehindert in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu können, wenn sie dies wünschen. Dies gilt besonders für die Zusammenführung getrennter Familien. Von den Politikern erwarten wir, daß sie sich mit aller Kraft für die Verwirklichung dieser Forderungen einsetzen und alle Vorkehrungen treffen, damit Deutsche, die aus osteuropaischen Ländern zu uns kommen, hier eine neue Existenz und Heimat finden können.

Die deutsche Politik steht vor Aufgaben, die von allen demokratischen Parteien außerordentliche Anstrengungen verlangen. Wenn unsere Freiheit Bestand haben soll, muß vor allem die Übereinstimmung in den ethischen Grundlagen unserer gemeinsamen Ordnung gestärkt werden. Wo Demokratie sich entfalten soll, muß Raum für freie Kräfte der Gesellschaft sein, die neue Ideen einbringen und öffentliche Aufgaben verantwortlich mittragen. Unabdingbar ist die Solidarität aller Demokraten bei der Bewältigung der neuen Probleme in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Je überzeugender sie sich darstellt, desto größer wird das Vertrauen in unsere Ordnung sein. Freiheit und Solidarität bilden auch den Maßstab für die internationale Politik unseres Landes. So werden tragfähige Grundlagen für eine Politik des Friedens geschaffen.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken bittet alle Bürger, insbesondere die Parteien und ihre Kandidaten, sich mit seinen Vorstellungen auseinanderzusetzen. Wir appellieren an alle Katholiken, die Forderungen dieser Erklärung zu unterstützen und die Wahlaussagen der Parteien an ihnen zu prüfen. Wir rufen alle Wähler auf, ihre Wahlentscheidung in Verantwortung für die Zukunft unseres Landes zu treffen.


Beschlossen von der Vollversammlung des ZdK am 22. Mai 1976 in Bonn-Bad
Godesberg

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